Trügerische Sätze
Für unsere Autorin steht dieser Spruch auf Platz zwei der abgelebtesten Sprichwörter. © IMAGO / imagebroker
Sprichwörter können in die Irre führen
"Morgenstund hat Gold im Mund" oder "Wer rastet, der rostet": Ob sie einem gefallen oder nicht: Sprichwörter sind aus dem Sprachgebrauch nicht wegzudenken. Doch einige von ihnen sind ziemlich trügerisch, findet die Schriftstellerin Kerstin Hensel.
Es gibt Situationen, da helfen Sprichwörter unser nicht immer gradlinig verlaufendes Dasein besser zu verstehen. Vor Jahrhunderten sind diese knapp, treffend und bildhaft formulierten Lebensweisheiten dem Volksgeist entsprungen, und noch heute bieten sie sich als Schablone bestimmter sozialer und gesellschaftlicher Erfahrungen an.
Im Deutschen gibt es über 250.000 Sprichwörter und Redewendungen. Sie gehören in die Schatzkiste unserer Sprache. Zweifellos steckt in Sprichwörtern Wahrheit, doch da auch Phrasenhaftes und Anachronistisches an ihnen haftet, kehrt sich zeitbedingt manche Wahrheit nach außen.
Zum Beispiel die oft mit erhobenem Erzieherzeigefinger ausgesstoßene Drohung: „Wer einmal lügt, dem glaubt man nicht!“ Kein anderes Sprichwort trägt solch hohes Fehlerpotenzial in sich, denn keiner kann leugnen: Jeder von uns lügt und hat dies schon als Kind getan. Kleine Lügen gehören zum Fundament menschlicher Gesellschaft, auch wenn Pädagogen und Aufrichtigkeitsfanatiker solches bestreiten.
Die großen Falschredner allerdings – seien es Hochstapler, Heilsversprecher, Staatenlenker oder Demagogen – können die Welt in den Abgrund stürzen. Und weswegen? Weil so viele Leute deren Lügen glauben. Weil sie, Generation um Generation, übelsten Unwahrheiten aufsitzen, und das voller Inbrunst. „Lügen haben kurze Beine“? Nein, sie sind Langstreckenläufer, leider.
Das Unbehagen an der Spruchweisheit
Auf Platz zwei der abgelebten Sprichwörter steht bei mir „Jeder ist seines Glückes Schmied“. Unverblümt heißt das: Jeder ist für sein eigenes Glück verantwortlich. Das gilt allerdings nur, wenn Menschen unter gleichen Bedingungen leben und die Bedingungen so sind, dass ein glücklicher Zustand überhaupt realisierbar ist. Die arm- und unwissend Gehaltenen dieser Erde, die heillos Kranken, Bekriegten und an den Rand Gestellten können oft schmieden wie sie wollen – Fortuna wird sie nicht mit dem Hintern angucken.
Unbehaglich wird mir auch, wenn der Sprücheklopfer tönt: „Angriff ist die beste Verteidigung“. Parolen aus der Kriegsführung stehen bei mir generell nicht hoch im Kurs, und ich glaube nicht, dass Vorwärtsverteidigung immer Entspannung bringt. Es ist bewiesen und auch heute vielerorts sichtbar: Vernichtung zieht Vernichtung nach sich. „Auge um Auge, Zahn um Zahn“, lautet ein der Bibel entlehntes sprichwortverdächtiges Zitat. In persönlichen Situationen mögen offensive Verbalattacken helfen; wird hingegen in der Liga der Machthaber der „Angriff“ als einziges Mittel zur Konfliktlösung erwogen, ziehe ich mein Einverständnis für dieses Sprichwort zurück.
Mit leerem Hirn wird alles gut?
Rückzug allerdings ist auch nicht immer das – Zitat - „Gelbe vom Ei“. Dem Spruch „Aus den Augen, aus dem Sinn“ kann nur jemand glauben, der sich der Wunschvorstellung anheimgibt, etwas, das ich nicht mehr sehe, fällt auch aus meinen Gedanken. Aus dieser Naivität heraus schaffen bewusstseinserwachte Menschen Maßregeln wie: Deckt Garstiges, Schlechtes und Widerspenstiges zu! Verbietet alles, was unser Gedächtnis belastet! Wenn wir das Böse nicht mehr sehen und hören, brauchen wir auch keine Philosophen, Künstler, Psychologen oder Traumatherapeuten mehr. Mit leerem Hirn wird nämlich alles gut.
Ebenfalls fragwürdig ist das Sprichwort, das als Banner in meiner Kindheitswohnstube hing: „Trautes Heim, Glück allein.“ Es zeugt nicht nur davon, dass die eigenen spießigen vier Wände als einzig Erstrebenswertes favorisiert werden, sondern auch von der Angst vor Fremden, vor Weltoffenheit als solcher. Nein, abgelehnt!
Und ist es wirklich so, dass, wer A sagt, auch B sagen muss? Keinesfalls. Er kann – wie Brecht schreibt - auch erkennen, dass A falsch war.