Sprüche fürs Leben

Von Arne Reul |
Ein Tor hat Lust an Schandtat, aber der einsichtige Mann an Weisheit - so heißt es im Alten Testament im Buch der Sprüche. Merksätze wie dieser klingen einfach. Sie zu befolgen ist jedoch schwierig.
"Das Buch wird eröffnet durch einen Prolog, und dieser Prolog bringt es auf einen treffenden Begriff. Da heißt es 'Sprüche Salomos, des Sohnes Davids, die hier gesammelt sind, damit man erkenne Weisheit und Zucht und so weiter. Ein Weiser hört und nährt das Empfangene und ein Einsichtiger erwirbt Steuermannskunst.' Das ist der Punkt. Die Sprüche dienen dazu, um sein Lebensschiff durch alle Stürme hindurch steuern zu können. Weisheit ist Steuermannskunst!"

Matthias Köckert, Professor für Altes Testament an der Humboldt Universität Berlin. Wer jetzt glaubt, man brauche im Alten Testament nur die Sprüche Salomos aufzuschlagen und bekommt sogleich einen präzisen Kompass für die Gestaltung des eigenen Lebens, der muss enttäuscht werden.

Auch lässt sich die vom Menschen so ersehnte Weisheit weder auf einer Internetseite finden, noch als Anwendungssoftware kaufen. Und könnte man heute den großen König Salomo persönlich danach befragen, so würde er uns eingestehen, dass die Sprüche gar nicht von ihm sind. Die Autoren des Alten Testaments berufen sich auf ihn, weil er als Inbegriff des weisen Herrschers galt. Noch heute wird eine kluge Entscheidung als salomonisches Urteil bezeichnet.

Es heißt die Königin von Saba zog einst nach Jerusalem, um sich dort von der berühmten Weisheit Salomos selbst zu überzeugen. So steht im ersten Buch der Könige:

"Es ist wahr, was ich in meinem Lande gehört habe von deinem Wesen und von deiner Weisheit. Und ich habe es nicht wollen glauben, bis ich gekommen bin und habe es mit meinen Augen gesehen. Und siehe, du hast mehr Weisheit und Gut, denn das Gerücht ist. Selig sind die Leute und deine Knechte, die allezeit vor dir stehen und deine Weisheit hören."

Dieser Legende entsprechend soll Salomo die 375 Sprüche verfasst haben. Richtig ist, dass Salomo einen aufwändigen Hofstaat hatte, dessen Verwaltung die Anwesenheit zahlreicher Schreiber voraussetzte. Sie wurden an Schulen ausgebildet in deren Umfeld auch Grundsätze für ein gemeinschaftliches Leben diskutiert wurden.

Dieser Gedankenaustausch fand dann Eingang in das Sprüchebuch. Dabei knüpfte man auch an die Weisheitstradition von Ägypten und Mesopotamien an, die bis in das dritte vorchristliche Jahrtausend zurückgeht.

Und schließlich lassen sich Ideen aus der griechischen Philosophie finden, aus der Zeit des späten Hellenismus. So sind die Sprüche Salomos ein Kompendium von Merksätzen, Mahnungen und Ratschlägen aus drei Jahrtausenden. Vieles davon kommt uns durchaus vertraut vor:

"Wer eine Grube gräbt, fällt hinein, und wer einen Stein wälzt, auf den kehrt er zurück."

"Das ist ja das Entscheidende an den Sprüchen, sie sind ganz konkret. Führen in die Höhen und Tiefen ganz normaler Menschlichkeit - menschlichen Lebens. Sie zeigen eine bestimmende oder eine überraschende Dimension meines alltäglichen Lebens. Ich stutzte und merke, da passiert mit mir was, obwohl ich ja mit dem anderen was machen wollte."

Stephan Weyer-Menkhoff, Professor für Praktische Theologie an der Gutenberg-Universität in Mainz. So zeigen manche Sprüche – und dies wäre zumindest ein kleiner Schritt auf dem Weg zur Weisheit - dass persönliches Handeln Konsequenzen hat. Man muss sich eben nur darüber im Klaren sein.

"Sei nicht bei denen, die ihre Hand verhaften und für Schuld Bürge werden; denn wo du es nicht hast, zu bezahlen, so wird man dir dein Bett unter dir wegnehmen.

Höre auf Rat und nimm Unterweisung an, damit du weise seiest in der Zukunft.

Geselle dich nicht zu den Weinsäufern und zu denen, die sich übermäßigem Fleischgenuss ergeben; denn Säufer und Schlemmer verarmen, und Schläfrigkeit kleidet in Lumpen."


Die theologische Forschung hat für solche Schlussfolgerungen wie sie hier in den Sprüchen formuliert werden die Bezeichnung "Tun-Ergehen-Zusammenhang" geprägt. Köckert:

"Die Weisen sind unablässig damit beschäftigt, Ordnungen zu entdecken, in dem Gewirr des Lebens. Das ist ja wie ein Heuhaufen. Immer was Neues, immer was Besonderes, was Anderes. Aber es gibt Ordnungen und zu diesen Ordnungen gehört, dass was sie jetzt mit Tun-Ergehen-Zusammenhang angesprochen haben. Also, wenn ich ständig meinen Nachbarn ärgere, dann wird der mich natürlich wieder ärgern, dann werde ich auch nichts zu lachen haben. Es geht also um einen Erfahrungszusammenhang, den diese Weisen entdeckt haben. Jedes Tun hat Folgen, und da gibt es eine kausale Verbindung. Die Sprüche dienen dann eigentlich dazu, diese Verbindung so prägnant wie möglich auszudrücken."

"Erziehe den Knaben seinem Wege gemäß; er wird nicht davon weichen, auch wenn er alt wird.

Gehe nicht rasch gerichtlich vor; denn was willst du hernach tun, wenn dein Nächster dich zuschanden macht?"


"Die Welt wird durchsichtiger. Das Unüberschaubare wird begreifbarer; und dadurch, zweiter Punkt, mein Handeln wird dadurch motiviert. Ich weiß jetzt eher, was zu tun sinnvoll ist oder was nicht zu tun geboten ist. Und es wird, dritter Punkt, der Resignation - 'Ich kann ja doch nichts machen, das Schicksal läuft, wie es will.' - Also gerade gegen so einen resignativen Zug bietet die Weisheit das Erkennen von Ordnungen und eben diesen Zusammenhang von Tun und Ergehen ein wunderbares Heilmittel. Und das hält dann auch eine Gesellschaft zusammen."

Nun ist es weiß Gott nicht so, dass ein Befolgen der Sprüche nach dem Tun-Ergehen-Zusammenhang die Garantie für ein gelingendes Leben wäre. Die Autoren der Sprüche waren nicht naiv. Sie sahen den Fleißigen, der auch arm sein kann und den Gerechten, dem Ungerechtigkeit widerfährt. Daran hat sich nichts geändert.

"Jeder Blick heute in die Welt zeigt, dass man mit Betrug und bösen Machenschaften ein Vermögen machen kann und dass der, der ehrlich seine Steuererklärung abgibt, der Dumme ist. Das sehen die Weisen auch, dass es nicht so einfach ist. Und da gibt es solche Sprüche: 'Reicher und Armer begegneten sich, der sie beide geschaffen hat, ist Gott.' Also, es ist nicht so, dass nur der Reiche und der Gesunde Zeichen für ein ordentliches Leben und deshalb für Gottes Segen ist, sondern Gott hat den Armen wie den Reichen erschaffen. Man darf den Schluss, den Zusammenhang von Tat und Folge nicht dazu verwenden, um aus der Folge auf eine Tat zu schließen. Also, zu sagen, dem geht es schlecht, und deshalb ist das ein Halunke gewesen, das wäre – hätte man die Weisen gröblich missverstanden."

Aber: Die Sprüche ergreifen Partei, sie werten. Der Halunke steht durchaus nicht auf der richtigen Seite. In Form von Vergleichen wird dies deutlich.

"Besser wenig mit Gerechtigkeit, als ein großes Einkommen mit Unrecht."

"Ein Armer, der in seiner Unschuld wandelt, ist besser als ein verkehrtes, dummes Maul."


Was soll’s? – könnte da ein Betrüger, ein Nicht-Rechtschaffender sagen. Die Weisen Israels aber kennen Gott: Jahwe. Er ist als Bestandteil unserer Welt gedacht.

"Fern ist Jahwe von den Frevlern, aber das Gebet der Gerechten hört er."

Der Spötter freilich würde nun einwenden, ein solcher Satz sei nicht das Papier Wert auf dem er stehe. Für Professor Weyer-Menkhoff weisen aber die Sprüche einen Weg, der tieferes Erkennen möglich macht. Nicht selten beziehen sie den Leser nämlich als Subjekt ein. So wird ein Prozess in Gang gesetzt, bei dem sich der Einzelne neu wahrnimmt. Der bereits erwähnte Spruch der Grube, die man sich womöglich selbst gräbt, verweist darauf. Dies ist natürlich kein zwingendes Gesetz, aber eine solche Bildsprache hat poetische Kraft. Weyer-Menkhoff:

"Anders als bei einem naturwissenschaftlichen Kausalzusammenhang - da sagt man einfach ein Ding, was nicht festgehalten wird, fällt aufgrund der Schwerkraft nach unten. Da ist der Leser gar nicht bei, da ist auch der Autor nicht bei, da ist überhaupt keine Person bei, das ist möglichst personenabstrakt, neutral und objektiv. Die Sprüche machen es genau umgekehrt, die Sprüche sind Kunst, eben poetische Kunst. Die Kunst stellt etwas dar, mit sinnlichen, konkreten Mitteln, um den Betrachter – in dem Fall den Hörer – mit einzubeziehen und ihn in eine andere Welt, in ein anderes Nachdenken, in eine andere Perspektive zu bringen."

"Wind mit dunklen Wolken bringt Regen und heimliches Geschwätz schafft sauere Gesichter."

"Besser ein Gericht Gemüse und Liebe dabei, als ein gemästeter Ochs und Hass dabei."


"Das entscheidende dieser Weisheit ist eben, dass sie sich immer mit anderen zusammen weiß. Wir denken normalerweise von uns aus und sagen: 'Erst mal gibt es mich und dann gibt es auch noch die Welt und alles mögliche andere.' Und die Weisheit sagt: 'Es gibt dich nicht und dann das andere, sondern es gibt das andere und dich nur zusammen. Du bist nur ein Teil und nur als Teil kannst du dich wahrhaft begreifen.' … Wie bei einer Ehe, das man sagt: 'Ich bin immer nur der eine von uns beiden.' Die Weisheit ist also die Haltung und die Bildung, die weiß, dass sie nicht alleine lebt, sondern, dass sie in einer Welt lebt, in der immer ein anderer, etwas anderes schon da ist und ich nie nur ich bin."

"Wie das Wasser das Angesicht, so spiegelt ein Menschenherz das andere wider."

Man nähert sich der Weisheit, indem man den Anderen als gleichwertiges Gegenüber erkennt und anerkennt. Man soll nach ihr streben, doch ein genau definierbares Ziel kann Weisheit niemals sein.

"So gibt es diesen einen Spruch: 'Wenn du einen siehst, der sich weise dünkt, da ist für einen Toren mehr Hoffnung als für ihn.' Ein Spruch über die Weisheit, der sagt: Wenn einer schon auftritt und sagt ich bin weise, dann weiß ich, der ist der Allerdümmste. Der kann zwar ganz klug sein, aber er ist ungebildet. Er weiß nicht, dass er in einem offenen Feld mit anderen und der Welt zusammen ist. Er denkt, er hat die Dinge in der Hand und hat sie begriffen."

"Wohl dem Menschen, der Weisheit erlangt, und dem Menschen, der Einsicht gewinnt! Denn es ist besser, sie zu erwerben, als Silber und ihr Ertrag ist besser als Gold. Sie ist edler als Perlen, und alles was du wünschen magst, ist ihr nicht zur vergleichen."

"Erkenntnis ist eben nicht ein Besitz wie Gold und Silber. Erkenntnis kann ich nicht kaufen und verkaufen wie Ware, sondern Erkenntnis ist unlösbar mit meiner Person verbunden. Darum auch mit meiner Haltung. Es ist etwas, was mich bildet und nicht etwas, was ich habe."

Nach dem Alten Testament ist Weisheit deshalb so unendlich kostbar, weil sie von Gott geschaffen wurde - als seine erste Schöpfung. Köckert:

"Auf der anderen Seite sehen sie in Sprüche 8, wie die Weisheit als erstes Geschöpf Gottes - und zwar wird sie vorgestellt als Frau, als junge Frau, die als erstes Geschöpf vor Gott spielt und ihn zu seinem weiteren erschaffenden Handeln anregt. Und sie ist Wonne Gottes, Freude Gottes und auf der anderen Seite, Freude der Menschen. Die Welt ist also, wenn man so will, entstanden durch Mitwirkung der Weisheit."

"Als er die Grundfesten der Erde legte, da war ich als sein Liebling bei ihm, ich war seine Lust täglich und spielte vor ihm allezeit; ich spielte auf seinem Erdkreis und hatte meine Lust an den Menschenkindern."

Für das alte Israel besteht somit ein unmittelbarer Zusammenhang zwischen Gott und Weisheit, Frau Weisheit! Aus ihr heraus, so könnte man sagen, entspringt die göttliche Ordnung, die wiederum in den Sprüchen formuliert wird. Daher gilt:

"Die Furcht des Herrn ist der Anfang der Erkenntnis."

Diese Vorstellung von einer göttlichen Ordnung kennt auch Jesus Christus. In seiner Lehre verbindet sich Altes und Neues Testament, denn als jüdischer Rabbi schöpft er aus den Quellen des Alten Testaments. Weyer-Menkhoff:

"Es gibt die Sache mit der Feindesliebe in der Bergpredigt. Ihr habt gehört, dass zu den Alten gesagt ist, ihr sollt den Feind hassen, ich aber sage euch, liebet eueren Feind. Da gibt es in den Sprüchen etwas ganz ähnliches: 'Freue dich nicht über den Fall deines Feindes und dein Herz sei nicht froh über sein Unglück, denn der Herr könnte es sehen und Missfallen daran haben und seinen Zorn von ihm wenden.' Wenn man das so sieht, dann merkt man, die Bergpredigt besteht eigentlich auch aus Weisheitssprüchen, ist die selbe Gattung - auch übrigens ganz poetisch."

Köckert: "Das hat ja auch seine ganz schlichte Ursache darin, dass Jesus kein Christ, sondern Jude war. Das darf man doch nicht vergessen und insofern gibt es hier eine ganz organische Verbindung."