Spuren in der polnischen Erde
Sie ist ironisch, mitleidlos, sarkastisch und, wenn es um Männer geht, oft satirisch: Joanna Bator verquirlt so viele farbige Geschichten zu einem prallen kleinbürgerlichen Sittenbild Polens, dass die Wahrscheinlichkeit der Fabel aus dem Blick gerät.
Auf einem Sandberg am Ortsrand von Wałbrzych werden in den 60er-Jahren Plattenbauten errichtet, ein Haus sinkt später an einer Ecke ein. Als nachgiebiger Sandberg erweist sich in Joanna Bators gleichnamigem Roman auch Polens Geschichte im 20. Jahrhundert. Die 1968 geborene Kulturwissenschaftlerin untergräbt auf spannende, ironische, zuweilen pittoreske Weise manch nationalen Mythos.
Auf dem Wałbrzycher Sandberg wohnen die Hauptpersonen des Romans. Jadzia Maslak ist aus Zentralpolen, ihr Mann, der Steiger Stefan Chmura, aus den an die Ukraine verlorenen Ostgebieten in das einst deutsche Waldenburg zugewandert. Südwestlich von Breslau fühlen sie sich als Fremde – und sind befremdet vom Aussehen ihrer Tochter, deren erste 30 Jahre im Mittelpunkt des Buches stehen. Denn Dominika gleicht weder ihrem wenig auffälligen Vater noch ihrer kleinen, runden, weißlichen und weichen Mutter. Sie ist hoch aufgeschossen, dunkelhäutig, kraushaarig, breitnasig und mathematisch ungewöhnlich begabt.
Ihre Andersartigkeit erweist sich am Ende als Folge eines Seitensprungs der – Großmutter Zofia. Denn die Gene des aus dem Warschauer Ghetto geflohenen Juden Ignacy Goldbaum, den Zofia in den letzten Kriegsmonaten versteckte, haben eine Generation übersprungen.
Joanna Bator könnte noch viel haarsträubendere Geschichten glauben machen. Ihre Erzählerin ist in jedem Kapitel ein oder zwei Personen nah und wechselt behände zwischen Handlung und Erinnerung, individueller Erleben und historischen Ereignissen. Es ist ein digressives Erzählen, ironisch, mitleidlos, sarkastisch und, wenn es um Männer geht, oft satirisch. Die quicklebendige, rasch Register wechselnde und sie zudem vorführende Sprache (Übersetzung: Esther Kinsky) sowie die Sympathie für Frauen erinnert deutsche Leser an Elfriede Jelinek.
Skrupellose Geschäftemacherei, eine Putzneurose, ein Traumland namens "BeErDe" – "Der Sandberg" verquirlt so viele farbige Geschichten zu einem prallen kleinbürgerlichen Sittenbild Polens, dass die Wahrscheinlichkeit der Fabel aus dem Blick gerät, zuweilen auch die Fabel selbst. Das Ende bricht dann vergleichsweise plötzlich herein und präsentiert Dominikas jüdischen Großvater wie einen deus ex machina. Davor zogen allerlei Russen, Ukrainer und Deutsche, ja sogar Brasilianer und Schwule durch den Roman und hinterließen ihre Spuren in der polnischen Erde, den polnischen Herzen und auch den polnischen Frauenschößen. Mit streckenweise umwerfendem erzählerischem Furor etabliert Joanna Bator das Fremde und Unreine als Teil der polnischen Nation.
Besprochen von Jörg Plath
Joanna Bator: "Der Sandberg", Roman
Aus dem Polnischen von Esther Kinsky
Suhrkamp Verlag, Berlin 2011
492 Seiten, 26,90 Euro
Auf dem Wałbrzycher Sandberg wohnen die Hauptpersonen des Romans. Jadzia Maslak ist aus Zentralpolen, ihr Mann, der Steiger Stefan Chmura, aus den an die Ukraine verlorenen Ostgebieten in das einst deutsche Waldenburg zugewandert. Südwestlich von Breslau fühlen sie sich als Fremde – und sind befremdet vom Aussehen ihrer Tochter, deren erste 30 Jahre im Mittelpunkt des Buches stehen. Denn Dominika gleicht weder ihrem wenig auffälligen Vater noch ihrer kleinen, runden, weißlichen und weichen Mutter. Sie ist hoch aufgeschossen, dunkelhäutig, kraushaarig, breitnasig und mathematisch ungewöhnlich begabt.
Ihre Andersartigkeit erweist sich am Ende als Folge eines Seitensprungs der – Großmutter Zofia. Denn die Gene des aus dem Warschauer Ghetto geflohenen Juden Ignacy Goldbaum, den Zofia in den letzten Kriegsmonaten versteckte, haben eine Generation übersprungen.
Joanna Bator könnte noch viel haarsträubendere Geschichten glauben machen. Ihre Erzählerin ist in jedem Kapitel ein oder zwei Personen nah und wechselt behände zwischen Handlung und Erinnerung, individueller Erleben und historischen Ereignissen. Es ist ein digressives Erzählen, ironisch, mitleidlos, sarkastisch und, wenn es um Männer geht, oft satirisch. Die quicklebendige, rasch Register wechselnde und sie zudem vorführende Sprache (Übersetzung: Esther Kinsky) sowie die Sympathie für Frauen erinnert deutsche Leser an Elfriede Jelinek.
Skrupellose Geschäftemacherei, eine Putzneurose, ein Traumland namens "BeErDe" – "Der Sandberg" verquirlt so viele farbige Geschichten zu einem prallen kleinbürgerlichen Sittenbild Polens, dass die Wahrscheinlichkeit der Fabel aus dem Blick gerät, zuweilen auch die Fabel selbst. Das Ende bricht dann vergleichsweise plötzlich herein und präsentiert Dominikas jüdischen Großvater wie einen deus ex machina. Davor zogen allerlei Russen, Ukrainer und Deutsche, ja sogar Brasilianer und Schwule durch den Roman und hinterließen ihre Spuren in der polnischen Erde, den polnischen Herzen und auch den polnischen Frauenschößen. Mit streckenweise umwerfendem erzählerischem Furor etabliert Joanna Bator das Fremde und Unreine als Teil der polnischen Nation.
Besprochen von Jörg Plath
Joanna Bator: "Der Sandberg", Roman
Aus dem Polnischen von Esther Kinsky
Suhrkamp Verlag, Berlin 2011
492 Seiten, 26,90 Euro