Spurensuche in den Wirren des 20. Jahrhunderts
Nach seiner missglückten Flucht in die USA nahm sich Berliner Philosoph Walter Benjamin im spanischen Grenzort Port Bou 1940 das Leben. Was aber ist aus seinen Mitschülern geworden, mit denen er 1912 das Abitur ablegte? Das wollte der Germanist Momme Brodersen herausfinden.
In Port Bou, einem kleinen spanischen Grenzort, wo sich Walter Benjamin 1940 das Leben nahm, erinnert ein von Dani Karavan gestalteter begehbarer Gedenkort an den heute berühmten Philosophen und Schriftsteller. In Anlehnung an Benjamins Fragment gebliebenes "Passagen"-Projekt und seine missglückte Flucht in die USA hat Karavan den Ort "Passagen" genannt. Wer die zum Meer führende Treppe hinuntergeht, sieht das Auf und Ab der Meereswellen. Erst unmittelbar bevor man Gefahr läuft, in die Tiefe zu stürzen, bildet eine Glasplatte eine durchsichtige Grenze. Auf dieser Glasscheibe ist ein Walter-Benjamin-Zitat eingraviert:
"Schwerer ist es, das Gedächtnis der Namenlosen zu ehren als das der Berühmten. Dem Gedächtnis der Namenlosen ist die historische Konstruktion geweiht." (GS I/3, S. 1241).
Für die Namenlosen interessiert sich Momme Brodersen in seinem Buch "Klassenbild mit Walter Benjamin". Den Anfang der Spurensuche markiert ein Foto von Benjamins Abiturklasse aus dem Jahr 1912. Als äußerst schwierig erweist es sich, die Namen der jungen Männer - 13 entstammen jüdischen Familien - den auf dem Bild abgebildeten Personen zuzuordnen. Selbst im Fall von Walter Benjamin, dem heute bekanntesten Abiturienten dieses Jahrgangs, gelingt es nicht zweifelsfrei. Enge Freunde Benjamins, Gershom Scholem und Fritz Strauß, sind sich nicht einig, wer auf dem Bild Benjamin ist. Es könnte sogar sein, dass er nicht anwesend war, als das Foto gemacht wurde. Denn von den 22 jungen Männern, die zu diesem Abiturjahrgang der Kaiser-Friedrich-Schule in Berlin-Charlottenburg gehörten, sind nur 20 zum Fototermin erschienen.
Die stille Eintracht, die unter den jungen Männern auf dem Foto zu herrschen scheint, täuscht. Das Bild wird von den nicht sichtbaren Spannungen - unter Einfluss der Geschichte - im Laufe der Zeit zerrissen werden. Momme Brodersen hat es sich zur Aufgabe gemacht, die einzelnen Teile zu rekonstruieren. Das gelingt ihm durch Verschriftlichung. Jeden Einzelnen stellt er in den Geschichtsverlauf und zeigt, was ihn bewegte und wovon er bewegt wurde.
Der gesamte Jahrgang meldet sich 1914 freiwillig zum Heeresdienst. Fünf aus dem Jahrgang fallen im Ersten Weltkrieg. Nur einer von ihnen, eben Walter Benjamin, wird nicht Soldat. Die Überlebenden positionieren sich nach dem Krieg links und rechts im parteipolitischen Spektrum der Weimarer Republik. Vier treten nach 1933 der NSDAP oder anderen Nazi-Organisationen bei. Vor den Nazis fliehen müssen neun aus der Abiturklasse, da sie jüdischen Familien entstammen. Sie sehen sich, wie Walter Benjamin, gezwungen, ins Exil zu gehen. Benjamin wird auf der Flucht vor den Nazis 1940 Selbstmord begehen - drei weitere Abiturienten aus seiner Klasse werden wie er Opfer des Naziterrors.
Durch Momme Brodersens Bildrekonstruktion treten einzelne Gestalten aus dem Dunkel der Geschichte hervor und werden als Personen erkennbar. Das führt dazu, dass nicht nur ihre, sondern Geschichte überhaupt einsehbar wird. In ihren Verwerfungen spiegelt sie sich in den Biografien dieses Jahrgangs. Brodersens Buch, das er als Beschriftung eines Fotos versteht, ehrt nicht die Namenlosen, sondern es zeigt sie. Als das Foto 1912 gemacht wurde, saßen die späteren Täter mit den Opfern noch in einem Raum.
Besprochen von Michael Opitz
Momme Brodersen: Klassenbild mit Walter Benjamin. Eine Spurensuche.
Siedler Verlag, München 2012
235 Seiten, 19,99 Euro
"Schwerer ist es, das Gedächtnis der Namenlosen zu ehren als das der Berühmten. Dem Gedächtnis der Namenlosen ist die historische Konstruktion geweiht." (GS I/3, S. 1241).
Für die Namenlosen interessiert sich Momme Brodersen in seinem Buch "Klassenbild mit Walter Benjamin". Den Anfang der Spurensuche markiert ein Foto von Benjamins Abiturklasse aus dem Jahr 1912. Als äußerst schwierig erweist es sich, die Namen der jungen Männer - 13 entstammen jüdischen Familien - den auf dem Bild abgebildeten Personen zuzuordnen. Selbst im Fall von Walter Benjamin, dem heute bekanntesten Abiturienten dieses Jahrgangs, gelingt es nicht zweifelsfrei. Enge Freunde Benjamins, Gershom Scholem und Fritz Strauß, sind sich nicht einig, wer auf dem Bild Benjamin ist. Es könnte sogar sein, dass er nicht anwesend war, als das Foto gemacht wurde. Denn von den 22 jungen Männern, die zu diesem Abiturjahrgang der Kaiser-Friedrich-Schule in Berlin-Charlottenburg gehörten, sind nur 20 zum Fototermin erschienen.
Die stille Eintracht, die unter den jungen Männern auf dem Foto zu herrschen scheint, täuscht. Das Bild wird von den nicht sichtbaren Spannungen - unter Einfluss der Geschichte - im Laufe der Zeit zerrissen werden. Momme Brodersen hat es sich zur Aufgabe gemacht, die einzelnen Teile zu rekonstruieren. Das gelingt ihm durch Verschriftlichung. Jeden Einzelnen stellt er in den Geschichtsverlauf und zeigt, was ihn bewegte und wovon er bewegt wurde.
Der gesamte Jahrgang meldet sich 1914 freiwillig zum Heeresdienst. Fünf aus dem Jahrgang fallen im Ersten Weltkrieg. Nur einer von ihnen, eben Walter Benjamin, wird nicht Soldat. Die Überlebenden positionieren sich nach dem Krieg links und rechts im parteipolitischen Spektrum der Weimarer Republik. Vier treten nach 1933 der NSDAP oder anderen Nazi-Organisationen bei. Vor den Nazis fliehen müssen neun aus der Abiturklasse, da sie jüdischen Familien entstammen. Sie sehen sich, wie Walter Benjamin, gezwungen, ins Exil zu gehen. Benjamin wird auf der Flucht vor den Nazis 1940 Selbstmord begehen - drei weitere Abiturienten aus seiner Klasse werden wie er Opfer des Naziterrors.
Durch Momme Brodersens Bildrekonstruktion treten einzelne Gestalten aus dem Dunkel der Geschichte hervor und werden als Personen erkennbar. Das führt dazu, dass nicht nur ihre, sondern Geschichte überhaupt einsehbar wird. In ihren Verwerfungen spiegelt sie sich in den Biografien dieses Jahrgangs. Brodersens Buch, das er als Beschriftung eines Fotos versteht, ehrt nicht die Namenlosen, sondern es zeigt sie. Als das Foto 1912 gemacht wurde, saßen die späteren Täter mit den Opfern noch in einem Raum.
Besprochen von Michael Opitz
Momme Brodersen: Klassenbild mit Walter Benjamin. Eine Spurensuche.
Siedler Verlag, München 2012
235 Seiten, 19,99 Euro