Ellen Häring: "Es klingelte bei mir zu Hause das Telefon, ich sollte dringend in Mexiko anrufen, weil etwas mit meiner Freundin Mona passiert war. Da habe ich erfahren, dass sie zusammen mit ihrem Mann ermordet worden war. Ein Mord – das gab es bisher nicht in meinen Vorstellungen. Es ist bis heute so, dass ich sie manchmal vor mir sehe, weil ich es einfach nicht glauben kann."
Monas Mörder
Am 11. Januar 2011 wird eine deutsche Staatsbürgerin zusammen mit ihrem Mann in Mexiko ermordet. Alles deutet darauf hin, dass der Mord in Zusammenhang mit Korruption und Drogenkriminalität steht. Bis heute sind die Mörder auf freiem Fuß.
Der Tankwart trägt weite Hosen, ein rotes Basecap und hört Reggeaton. Gute Stimmung bei den Jungs an der Tankstelle, nicht weit entfernt von Mexiko-Stadt.
Mario und ich sitzen in einem Mietwagen, einem kleinen Chevrolet. Vor uns liegt die schwerste Reise unseres Lebens. Wir fahren zu unseren Freunden. Sie liegen in einem Grab, fünf Stunden entfernt von hier, in einem Dorf, das wir nicht kennen. Tehuitzingo. Vor zwei Jahren wurden unsere deutsche Freundin Mona und ihr mexikanischer Mann Arnelo dort umgebracht. "Tod durch Enthauptung" - so kalt ist die Sprache der Akten, die ich in den letzten zwei Jahren viel zu oft gelesen habe. Die Mörder sind auf freiem Fuß.
Wir machen uns auf den Weg in die Stadt Puebla, 1,5 Millionen Einwohner, Sitz des deutschen Volkswagenwerkes. Unsere erste Station ist die dortige Mordkommission. Wir sind angemeldet.
Wir stellen das Auto an einer achtspurigen Ausfallstraße ab. Weit und breit nur Einkaufszentren, Industriehallen, ein gigantischer Schrottplatz. Hinter rostigen Kotflügeln und zerbeulten Kühlerhauben duckt sich ein Fertigbau.
Der Ermittler hat Urlaub
Der zuständige Ermittler ist im Urlaub. Sein Vertreter auf einem dringenden Termin. Der Vertreter des Vertreters sitzt hinter einer Gittertür.
Francisco Javier Gonzalez Mendez, Kriminalbeamter der Mordkommission, ist Mitte 30, ein kräftiger Typ mit Igelhaarschnitt, einer Brille und sympathischem Lächeln. Er sitzt in einem zwölf Quadratmeter großen Büro voller Akten, zwei weitere Schreibtische drücken sich neben seinem. Ein alter Computer, daneben ein verstaubter Mini-Weihnachtsbaum aus Plastik. Die roten Kugeln tanzen im Wind des Ventilators. Das ist die Mordkommission des gesamten Bundesstaates Puebla. Fünfeinhalb Millionen Einwohner. Drei Ermittler. Gonzalez guckt jetzt ernst.
Die mexikanischen Gesetze erlauben keine Tonaufnahmen. Mein Aufnahmegerät muss ich ausschalten.
Der Beamte erzählt, was wir bereits aus den Akten wissen: Arnelo und Mona werden am 11. Januar 2011 in ihrem Haus in Tehuitzingo gegen Abend ermordet. Enthauptet. Die Mörder sind Bauern aus einer Landwirtschaftsgenossenschaft, die einige Felder, die Arnelo gehören, nach und nach in Besitz genommen haben. Arnelo geht vor Gericht, weil er die Felder zurückhaben möchte. Er bekommt recht. Das war im Dezember 2010. Danach gibt es mehrere Begegnungen, es kommt zu Drohungen und zum lautstarken Streit. Schließlich wird Arnelo aus dem Weg geräumt und weil Mona gerade im Haus ist, muss auch sie sterben. Es gibt einen Zeugen, der hilft Phantombilder anzufertigen, sie stimmen mit den Verdächtigen aus der Genossenschaft überein. Aber der Zeuge wird bedroht und will niemanden mehr identifizieren. Spuren werden von der örtlichen Polizei verwischt, manche sogar vernichtet.
"Es tut mir leid",
sagt Gonzalez und beißt sich auf die Lippen.
Wir schweigen. Warum war bis heute niemand auf dem Grundstück, um das es geht? fragen wir dann und äußern den naheliegenden Verdacht, dass dort Drogen angebaut oder gelagert werden. Die Killer der Drogenkartelle enthaupten ihre Opfer, das weiß jeder in Mexiko.
Der Beamte blickt auf seinen zerkratzten Schreibtisch. Dann hebt er den Blick:
"Wenn ich dort hinfahre, dann machen die Hackfleisch aus mir. Das ist keine Gegend, in der wir ermitteln können."
Drei Beamte für 250 Morde
Dann erfahren wir noch, dass die drei Beamten für rund 250 Morde und 350 Verschwundene oder Entführte im Jahr zuständig sind. Macht zweihundert für jeden. Hinzu kommen die Altfälle. Mona und Arnelo sind 24 Monate nach ihrer Liquidierung ein Altfall.
In der Altstadt von Puebla scheint die Sonne aus dunkelblauem Himmel, pastellfarbene Kolonialbauten stehen in Reih und Glied. Wir flanieren durch ein Weltkulturerbe der Unesco. Rechts eine Handleserin, links der Empanada-Verkäufer, weiter vorne ein blinder Musiker. Mexiko ist voller Gegensätze, der wichtigste ist der zwischen Arm und Reich. Wo es viele Arme gibt, findet die Drogenmafia schnell Unterstützer, besonders auf dem Land. Die staatlichen Behörden sind bestechlich, eine Strafverfolgung gibt es praktisch nicht. In den letzten sechs Jahren wurden in Mexiko 60.000 Menschen im sogenannten Drogenkrieg ermordet. Meine Freundin Mona und ihr Mann Arnelo sind zwei davon. 98% der Morde werden nicht aufgeklärt.
Vor einem Laden mit Videospielen kämpfen muskelbepackte Helden gegen das Böse, Kinder starren mit aufgerissenen Augen auf den Bildschirm.
Alle wissen, wer die Mörder sind
Dahinter führt eine Treppe in das Büro eines Anwalts, laut Aktenlage ein wichtiger Zeuge. Er hat Arnelo vor Gericht vertreten, als er um sein Grundstück kämpfte. Ein kleiner, dicker Mann Mitte fünfzig, unscheinbar. Er wirkt, als hätte er auf Besuch aus Deutschland gewartet:
"Im Dorf wissen alle, wer die Mörder sind. Einer handelt dort sogar mit Waffen. Er sieht genauso aus wie der auf dem Phantombild, das erstellt wurde. Warum nimmt ihn niemand fest?"
Die Antwort darauf gibt er gleich selbst:
"Es ist eine üble Vetternwirtschaft, aber keiner traut sich hier etwas zu bewegen. Der Waffenhändler soll sogar einen Lehrer umgebracht hat. Er hat ihn mit seinem Transporter überfahren und über die Straße geschleppt. Die Leute haben Angst vor ihm."
Arnelos Anwalt kennt die abgelegene Gegend gut, hat viele Mandanten dort. Fast immer geht es um Grundstückstreitigkeiten. Dass die Mordkommission kapituliert und nicht dorthin fahren will – ein Armutszeugnis. Er selbst war am 6. Januar, fünf Tage vor dem Verbrechen, auf den Feldern – zusammen mit Arnelo und einem Topografen.
Empfangen wurden sie von 20 Männern, jeder mit einer Machete bewaffnet:
"Die Lage war natürlich angespannt, sie wollten uns mit ihren Macheten einschüchtern. Wir waren ja allein, weit weg vom Dorf, draußen auf den Feldern."
Die 20 Bewaffneten brachten sich in Stellung. Kein Zutritt, das war die Devise, unter gar keinen Umständen:
"Da stecken massive, sehr, sehr schmutzige Interessen dahinter. Ich glaube, dass dort Marihuana angebaut wird und deshalb keiner von uns hinsoll."
Gerüchte kursieren, dass über Arnelos Felder der Zugangsweg zu einem künstlichen Dorf führt – zu einem Drogendorf, wo Anbau, Lagerung und Waffenhandel betrieben werden. Zwei Jahre nach dem Mord sind die Felder abgeriegelt, erzählt der Anwalt. Sie sind nicht etwa in der Hand des Staates, sondern der mutmaßlichen Mörder. Die Drogenmafia hat das Gebiet übernommen.
Drohungen auf der Polizeiwache
Der Rechtsanwalt ist ganz ruhig, während er die Ungeheuerlichkeiten ausspricht. Für ihn liegt nahe, dass die örtliche Polizei von dem Kuchen etwas abbekommt. Der wichtigste Zeuge, weiß der Anwalt, sollte die Verdächtigen identifizieren – Auge in Auge, ungeschützt, ohne Spiegelwand:
"Einen so wertvollen Zeugen auf diese Weise preiszugeben, ist eine grobe Fahrlässigkeit. Er wurde noch auf der Wache bedroht – das war nicht an einer Straßenecke, das war kein Drohbrief, den sie nach Hause geschickt haben – nein, das war dort, direkt auf der Wache."
Der Zeuge, 24 Jahre alt, Vater von zwei Kindern, hat die mutmaßlichen Mörder im Haus gesehen, will sich aber, nachdem er bedroht wurde, an nichts mehr erinnern. Warum die deutschen Behörden nicht nachhaken, versteht der Anwalt nicht und schüttelt den Kopf:
"Warum geht da keiner hin? Warum habt ihr nicht einmal den wichtigsten Zeugen geschützt"
Die deutschen Behörden geben sich zufrieden mit dem, was aus Mexiko kommt - nämlich nichts. Am 23. August 2012 stellt die Berliner Staatsanwaltschaft das Verfahren ein. Kein noch so winziges Sandkorn stört das mexikanische Getriebe.
Ich frage mich: Warum hat Mona die Gefahr nicht gesehen? Wir waren vor 30 Jahren zum ersten Mal zusammen in Mexiko, später haben wir beide einen Mexikaner geheiratet. Sie kannte das Land sehr gut. Wusste sie von dem Grundstücksstreit? Von den Drogen?
Der Anwalt bestätigt meine Vermutung.
"Ich hatte den Eindruck, dass Mona ihren Partner Arnelo einfach unterstützt hat. Sie war in den Rechtsstreit überhaupt nicht verwickelt. Als sie einmal hier war, hat sie sich nicht eingemischt und auch keine Meinung dazu geäußert, wie man in der Sache vorgehen sollte."
Ich stelle mir vor: Mona, wie sie hier sitzt, vor den ausgebreiteten Plänen. Felder, irgendwo in kargen Hügeln, die sie nicht interessieren. Dass sie froh ist, wieder rauszukommen, sich dann in einen dieser zauberhaften patios um die Ecke setzt, einen eiskalten Limonensaft bestellt und ein Buch herausholt. Eines über Homöopathie. Denn das war ihr wichtig: ihre Praxis in Berlin, ihre Arbeit als Heilpraktikerin.
Wir verabschieden uns. Der Anwalt macht uns Mut, morgen das Dorf Tehuitzingo aufzusuchen, ins Haus zu gehen. Morgens hin, abends zurück, bevor es dunkel wird, rät er uns. "Und achten sie auf einen weißen Nissan, der hat mich auch schon verfolgt."
Schlaflose Nacht im Hotel
Wir verbringen eine schlaflose Nacht im Hotel. Zweieinhalb Stunden Weg liegen vor uns. Meine Hand umklammert eine grellrote Tasche – Tortillería Machiata steht darauf, Tehuitzingo. Mona hat mir die Tasche mitgebracht: ein witziges Detail aus dem Heimatdorf ihres Mannes, in dem sie seit einigen Jahren den Winter verbracht hat. Vor ihrem Tod habe ich sie als Sporttasche benutzt. Seither hüte ich sie wie einen Schatz.
Der Vulkan Popocatéptl stößt dicke Rauchschwaden aus.
In den Gärten blühen Oleanderbüsche in Rot, Weiß und Pink. Mangobäume tragen schwere Früchte. Ein Kind schläft in der Hängematte. Auf den Feldern wächst sattgrün das Zuckerrohr. Dort, wo kein Wasser fließt, zupfen Esel gelangweilt an ausgetrockneten Halmen. Auf halber Strecke drehen wir die Klimaanlage auf die höchste Stufe. Draußen sind jetzt fast 40 Grad. Noch 53 km bis Tehuitzingo.
Jetzt schlängeln sich Serpentinen die Berge hinauf. Kakteen stecken wie Stricknadeln in der roten Erde. Ab und zu ein toter Hund. Dann nichts mehr: kein Dorf, keine Siedlung, keine Finca. Nur eine sehr gut ausgebaute Straße – besser als die Autobahn, für die wir Mautgebühren bezahlt haben. Wer braucht so eine Straße im Niemandsland? Wer hat sie bezahlt?
35 Kilometer vor Tehuitzingo hat unser Handy keinen Empfang mehr. Ich denke an den weißen Nissan. Wir werden nervös. Dann endlich. Noch zwei Kilometer.
Endlich – noch zwei Kilometer
Esperanza erwartet uns mit zwei Schwestern und ihrem Schwager. Sie leben nicht hier, sie sind gekommen – wegen uns und weil Bauarbeiter im Haus sind. Wir stellen das Auto in den Innenhof, unauffällig.
Hier hat Mona gelebt. Hier wurde ihr das Leben genommen. Ich hatte Angst vor diesem Moment. Jetzt ist er da und ich fühle mich meiner Freundin ganz nah. Ich sehe mich um und ich sehe SIE: im Wohnzimmer auf dem Sofa, sie hört Musik. Am großen Tisch im Essbereich, sie frühstückt. Am Herd in der Küche, sie kocht. Irgendwas Deutsches. Als ich mich wieder umdrehe, kauert eine zerbrechliche, alte Frau auf dem Sofa und zittert.
Esperanza hat die beiden Ermordeten gefunden:
"Beide Türen waren auf, als ich kam. Und weil alles offen war, bin ich gleich nach oben. Ich dachte noch, die sind bestimmt nur kurz rausgegangen. Im ersten Stock habe ich dann Mona gefunden. Im Zimmer meiner Schwester. Es standen zwei Betten darin, und sie lag auf dem Boden, ihr Gesicht zugedeckt mit vielen Kissen. Ich bin rausgerannt, ich habe geschrien, weil ich doch gesehen habe, dass es Mona war. Und trotzdem habe ich sie gesucht, ich habe einfach nicht verstanden, dass sie es war."
Esperanza war Monas Lieblingsschwägerin, trotz des großen Altersunterschieds. Sie war 50, Esperanza über 70. Beide Vegetarierinnen, Pflanzenliebhaberinnen, mit einer Neigung zur Esoterik. Esperanza ist heute traumatisiert. Nachdem sie Mona im ersten Stock findet, rennt sie in den Innenhof und entdeckt ihren Bruder im Anbau des Hauses. Genauso wie Mona mit durchgeschnittener Kehle. Ausgeblutet.
"Als ich reinkam, sah ich Arnelo – aber ich wusste in dem Moment nicht mehr, wer er war. Ich suchte doch nach Mona."
Verwischte und vernichtete Spuren
Ihr Schwager kommt ihr zu Hilfe. Die Ermittlungen waren total schlampig, niemand hat Interesse, das Verbrechen aufzuklären, ist er sich sicher. Im Gegenteil, die örtliche Polizei hat Spuren verwischt und vernichtet.
Schwager: "Es gab einen blutigen Schuhabdruck, die Sohle eines Stiefels war voller Blut."
Esperanza: "Und die haben gesagt, das muss sofort sauber gemacht werden."
Schwager: "Dann war da ein Pullover. Der war voller Blut. Da haben wir gesagt: Bitte nehmen sie den Pullover! Nein, haben die gesagt, sie haben den Pulli genommen und ihn verbrannt."
Beide glauben zu wissen, wer die Mörder sind: die Anführer der Genossenschaft und zwei ihrer Söhne. Sie hatten Streit mit Arnelo, waren mehrfach im Haus, auch am Tag des Verbrechens. Das hat ein Zeuge gesehen, mit dessen Hilfe Phantombilder erstellt wurden.
Der Schwager erinnert sich an das absurde Verhör bei der Polizei:
"Da kommt ein Typ rein, ich sehe den und denke: das ist ja der vom Phantombild! Und das war der Anführer der Genossenschaft. Er sah identisch aus, so als hätte ihn jemand direkt eingescannt. Und da merke ich, dass der Kerl bestens mit dem Polizeichef befreundet ist. Die sehen sich und umarmen sich zur Begrüßung!"
Da eines der Opfer eine deutsche Staatsbürgerin ist, schickt die deutsche Botschaft einen Verbindungsbeamten des BKA nach Tehuitzingo. In der Akte findet sich sein Bericht. Den lokalen Polizeichef bezeichnet er als "sichtlich überfordert", den Tatort findet er vier Tage nach dem Entdecken der Leichen freigegeben, verändert und gereinigt vor. Sein Vorschlag, eine Belohnung von 2000 Euro auszusetzen, damit die Nachbarn reden, wird in Deutschland abgelehnt. Zweimal erkundigt sich die deutsche Strafverfolgungsbehörde noch nach dem Stand der Dinge. Nachfragen stellt sie nicht und leitet auch keine weiter. Das Verfahren wird eingestellt. Die zuständige Berliner Staatsanwältin hält es nicht einmal für nötig, die Angehörigen darüber zu informieren.
Eine weiße Kerze zur Erinnerung
Wir gehen nach oben, in den ersten Stock. Wir treten in ein Zimmer, es ist leer. In der Mitte auf dem Boden steht eine weiße Kerze. Esperanza hat sie aufgestellt, genau an der Stelle, an der sie Mona gefunden hat. Ich berühre mit meinen Händen den Boden neben der Kerze. Braune Kacheln. Kalt.
Von einem Laubengang gehen drei Zimmer ab. Eines davon gehörte Mona.
Hier bin ich, und sie ist nicht mehr da. Ihr Bett, ein Kleiderständer, eine Hängematte. Die runden Fenster in Form von Sonne und Mond hat sie selbst entworfen. Sie sind aus den Wänden gebrochen. Auf den Ornamenten aus Backstein liegt eine dicke Staubschicht. Weiße Kerzen haben sich in der Sonne zu skurrilen Wachsfiguren verformt. Ringsherum liegen Muscheln, die sie gesammelt hat. Über ihrem Bett hängt ein Gedicht über die Zeit.
Ich hänge das Gedicht ab, suche eine Muschel aus und lege beides in die grellrote Tasche. Die anderen Räume, die Bücher, die Notizen – ich nehme alles wahr, wie in Trance.
Zum Friedhof fahren wir im Auto des Schwagers, unauffällig. Wir blicken aus verdunkelten Scheiben auf das Dorf Tehuitzingo - staubig, rauh, abweisend. Was hat Mona hier bloß gesucht?
Wir fahren vorbei an einem Getränkeladen, hier soll einer der Mörder leben. Esperanza zeigt
nach links. Ich gucke nicht hin.
Der Mann, der Mona zuletzt gesehen hat
Bevor wir zum Friedhof kommen, halten wir bei Bonfilio, einem Verwandten. Laut Akte ist er der Mann, der Mona zuletzt gesehen hat. Ich will ihn kennenlernen.
Bonfilio trägt einen breiten Sombrero, unter seinem quietschfarbenen Hemd wölbt sich ein mächtiger Bauch. Seine Leidenschaft sind Kampfhähne. Er gibt dem abgemagerten Hund einen Tritt, greift in einen Käfig und zieht einen kräftigen Hahn mit goldgelbem Gefieder heraus. Er zeigt uns, wie er die Hähne trainiert und wie er sie pflegt. Er besprüht die Federn mit Wasser:
"So, wenn sich das Tier jetzt erfrischt hat, dann massiert man die Beine, intensiv, denn die Nervenstränge sollen sich dehnen. Dann kriegt das Tier Vitamine. Dafür haben wir hier diese Vitaminpillen, da geben wir ihm jetzt mal eine – na, bitte, was sag ich, jetzt hat er sie schon gefressen!"
Bonfilio tritt bei den großen Hahnenkämpfen der Region an und riskiert jedes Mal den Tod seiner Tiere. Er stattet sie mit Rasierklingen an den Beinen aus. Nur der Stärkere überlebt.
Als ich Bonfilio sage, dass wir nicht wegen der Hähne gekommen sind, lacht er. "Ich weiß", sagt er, und setzt sich auf einen rostigen Stuhl unter einen Zitronenbaum:
"Am 11. Januar bin ich vorbeigegangen, ich habe geklingelt, denn das Tor war abgeschlossen. Mona kam heraus. 'Wo ist denn Arnelo?' habe ich gefragt. 'Er ist gerade weggegangen', sagte sie, 'ich kann dir nicht aufmachen, er hat den Schlüssel mitgenommen. Ich wollte, dass er abschießt, das ist mir lieber.' Ich weiß nicht, ob diese Leute zu dem Zeitpunkt schon dagewesen waren, aber Mona war immer so nett zu mir, so fröhlich, und an dem Tag nicht. Sie hat mit mir gesprochen und sich so weggeduckt. Ich habe gefragt: 'Ist alles in Ordnung, brauchst du etwas?' 'Nein', sagte sie, 'danke, es ist alles in Ordnung. Arnelo ist nicht da.' Aber sie hat auf den Boden geguckt, sie war traurig."
Das war am frühen Nachmittag. Danach wurde sie nicht mehr gesehen.
Bonfilio wohnt um die Ecke des Friedhofs - ein heilloses Durcheinander: Grabplatten unter und übereinander, die Steine verwittert, die Blumen verdorrt. Kaum eine Pflanze hält der Hitze stand. Wir klettern über die Platten, Esperanza führt uns zum Mausoleum der Familie. Eine blutrote Bugambilia windet sich um ein kleines Tor und trotzt der Dürre. Es ist der Eingang zur Grabstelle.
Wir betreten einen Raum, ähnlich einer kleinen Kapelle, vorne ein Altar mit Kreuzen. Rechts und links hohe, graue Wände.
Ein Foto als Abschiedsgeschenk
Esperanza legt ihre Hand an die Stelle, an der die beiden Särge von Mona und Arnelo einbetoniert sind. Dann beugt sie sich hinab, um vom Fußboden verdorrte Gladiolen wegzuräumen.
Mario stellt eine große weiße Kerze auf die Erde, daneben ein Tongefäß, in dem die Mexikaner Räucherwaren verbrennen. Die Grabkammer füllt sich mit Rauch. Esperanza stützt sich an die Wand.
Mona und Arnelo, ihr habt Besuch bekommen, sagt sie. Ellen und Mario sind hier. Wir gehen jetzt und wissen nicht, wann wir uns wiedersehen.
Wir wollen uns nicht nur verabschieden, wir wollen Gerechtigkeit, sagen wir noch. Gerechtigkeit wollen wir auch, antwortet Esperanza. Aber wer will uns schon hören?
Wir müssen zurück, bevor es dunkel wird. Wir schenken Esperanza ein Foto: Mona lächelt weich in die Kamera, ihr langes Haar hat sie zusammengebunden. Arnelo sitzt hinter ihr, in einem Kanu, sein weißer Schnauzbart blitzt in der Sonne.
Die Rückfahrt muss schnell gehen. Kein weißer Nissan folgt uns. Wir schweigen. Mario rast über die Serpentinen. Ich halte mich fest an einer grellroten Tasche mit einem Gedicht und einer Muschel.