Srebrenica-Zeitzeugenberichte am Thalia Theater

"Entweder du schießt oder du stellst dich dazu"

"Don't forget Srebrenice" ("Vergeßt Srebrenica nicht") steht auf einer Hauswand in der bosnisch-herzegowinischen Hauptstadt Sarajevo.
"Don't forget Srebrenice" steht auf einer Hauswand in Sarajevo. © dpa / picture alliance / Matthias Schrader
Von Alexander Kohlmann |
In "Srebrenica – I counted my remaining life in seconds …" am Hamburger Thalia Theater wird das Massaker aus der Perspektive von drei Zeitzeugen erzählt, deren Lebenswege sich 1995 kreuzten. Den bedrückenden, emotionalen Schilderungen kann sich das Publikum kaum entziehen.
Die Textvorlage ist streng dokumentarisch, jedes Wort, was an diesem Abend fällt, soll genau so gesprochen worden sein, in den Interviews, die der Regisseur Branko Šimić und der Fotograf Armin Smailovic geführt haben. Sie sprachen mit einem Überlebenden, der berichtete, wie er erst auf einer mehrtägigen Irrfahrt mit tausenden anderen muslimischen Männern von der bosnisch-serbischen Armee verschleppt worden ist, und nach den Gewehrsalven auf dem Hinrichtungsplatz feststellte, dass die Schüsse ihn als Einzigen verfehlt haben, dass er tot unter den Leichen seiner Freunde liegt.
Nach einer mehrtägigen Flucht erreicht er ein Lager, das unter Beobachtung des Roten Kreuz steht – und wird Jahre später zu einem der wichtigsten Zeugen vor dem Kriegsverbrecher-Tribunal in Den Haag. Kontrastiert wird dieser lange Monolog mit den Erinnerungen eines ehemaligen UN-Blauhelm-Soldaten, der die Hilflosigkeit der Schutztruppe beschreibt, die sich von der internationalen Gemeinschaft allein gelassen fühlte und zu Unrecht für ihre Untätigkeit in den Medien gescholten worden sei. Auch ein Täter kommt in den Texten zu Wort, ein Armee-Angehöriger, der sich auf einen Befehlsnotstand beruft, "entweder Du schießt oder Du stellst Dich dazu".
Opfer, Täter, Blauhelm-Soldat
Die Inszenierung verzichtet darauf, dieser beeindruckenden Text-Ebene mit einer falschen Theater-Illusion zu begegnen. In der kleinen Garage des Thalia-Theaters liegen Brennholz-Stämme aus dem Baumarkt, ganz zu Beginn schlägt sie der Schauspieler Jens Harzer kurz und klein, bevor er mit seiner Kollegin Vernesa Berbo auf zwei Hockern platznimmt und zu berichten beginnt. Dabei liest Harzer den Text nicht nur, sondern er verwandelt sich förmlich in den überlebenden Zeitzeugen, erspielt sich jeden Satz, lässt die Ereignisse vor seinem inneren Auge Wirklichkeit werden – und erreicht genau damit das Publikum so emotional wie es eine TV-Dokumentation niemals leisten könnte.
Denn natürlich ist das Theater hier immer auch Fiktion, Harzer spielt eine Figur, deren reales Vorbild wir nie zu Gesicht bekommen, aber in der unmittelbaren Auseinandersetzung mit einem denkenden und fühlendem Menschen ist es kaum möglich, sich seiner Schilderung zu entziehen. Kontrastiert wird diese szenische Lesung mit den von Vernesa Berbo eher nüchtern vorgetragenen Erinnerungen des Blauhelm-Soldaten und des Täters – und durch verschwommene Bilder auf den Wänden im Hintergrund: Original-Schauplätze, eine Schule, ein Feld...
So entsteht auf der kleinsten Bühne des Thalia-Theaters ein bedrückendes Geschichtspanorama, dessen Aktualität heute niemand lange suchen muss. Denn der Abend verhandelt auch die Frage, was ein radikaler Pazifismus und Friedenssoldaten, die dem Schlachten untätig zusehen, wert sind, wenn die Gegenseite zu jeder Brutalität bereit ist.
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