Der Welterbetitel als Rettung für ein Vergnügungsviertel?
Wer an St. Pauli denkt, dürfte an Fußball, die Reeperbahn, Alkohol und Sex denken. Dass gerade dieser Hamburger Bezirk ein immaterielles Weltkulturerbe werden soll, wirkt wie eine Werbekampagne. Ein solcher Unesco-Titel könnte aber helfen, das bedrohte "alte" St. Pauli zu bewahren.
Das Partyvolk flaniert über die Große Freiheit, vorbei an den bunten Neonreklamen über der kleinen Seitenstraße, die abbiegt von der Reeperbahn. Eine Bar reiht sich an die nächste, alle Eingänge von Türstehern bewacht, die Musik dröhnt nach draußen. Mittendrin im Getümmel steht André, auf dem Kopf einen kleinen quietschrosanen Plastikcowboyhut: "Ich bin der André, bin 26 und trinke heute Abend mit meinen Freunden!" Er heiratet schon bald, feiert seinen Junggesellenabschied.
Einige Barbesitzer freut der Boom der Junggesellenpartys auf St. Pauli – andere Clubbetreiber sind genervt. Vor der "Cliv-Lounge" passt Margarete auf, wer hineinkommt und wer nicht: "Die feiern einfach, die trinken, haben schon vorher total vorgeglüht, sind schon mega-angetrunken. Und nur Leute reinzuholen, damit es voll aussieht, ist ja auch nicht sinnvoll. Was bringt uns das, wenn sie den Laden vollspucken und wir dann putzen müssen."
Fluch und Segen für Clubbetreiber
Julia Staron vom BID Reeperbahn, dem Business Improvement District, ist selbst auch Clubbetreiberin am Spielbudenplatz. Anfang des Jahres hatte Staron zusammen mit Freunden bei Bier und Wein die Idee entwickelt, St. Pauli zum "immateriellen Unesco-Weltkulturerbe" zu machen. Immer mehr und immer schrillere Junggesellenabschiede gehören aber sicher nicht dazu, findet Julia Staron:
"Wenn Du hier am Wochenenden drei Junggesellenabschiede hast, dann sagst Du: 'Naja, gut. Gehört halt auch dazu.' Aber wenn Du natürlich am Abend 35 siehst, dann möchtest Du sie eigentlich alle klatschen, um das mal so ganz dumpf zu sagen. Nein, ich bin natürlich überhaupt nicht für Gewalt. Aber es nervt extremst."
Julia Staron sitzt morgens um zehn an einem der Stehtische im "Kukuun", vor sich den ersten Kaffee. Von der Terrasse aus fällt der Blick auf den Spielbudenplatz, auf die Erotik-Shops auf der anderen Seite der Reeperbahn. Was genau macht für sie den Stadtteil aus? Womit qualifiziert sich das Viertel als immaterielles Weltkulturerbe? Was hat St. Pauli davon?
Julia Staron sitzt morgens um zehn an einem der Stehtische im "Kukuun", vor sich den ersten Kaffee. Von der Terrasse aus fällt der Blick auf den Spielbudenplatz, auf die Erotik-Shops auf der anderen Seite der Reeperbahn. Was genau macht für sie den Stadtteil aus? Womit qualifiziert sich das Viertel als immaterielles Weltkulturerbe? Was hat St. Pauli davon?
Wertschätzung für St. Pauli
"In meiner Übersetzung wäre es eine Wertschätzung für das Viertel und seine Entwicklung, weil ich glaube, dass hier in der Gesellschaft St. Paulis oder in der Idee von Gesellschaft eine sehr bestimmte, eine sehr besondere Haltung vorhanden ist. Und das ist die Vorstellung von Freiheit: das leben zu können, die Lebensentwürfe des anderen ertragen zu können, dass das funktioniert."
Zu diesem St. Pauli gehören das immer weniger anrüchige Erotik-Entertainment, dazu gehört der FC St. Pauli mit seinen Fans, dazu gehören auch die alten Spelunken, von denen viele schon längst dicht machen mussten, weil die Mieten in wahnwitzige Höhen stiegen. Dazu gehören natürlich die Theaterhäuser am Spielbudenplatz und die jungen Sexarbeiterinnen an der Davidstraße, im "Pink Palace" oder in der Herbertstraße.
Subkultur auf dem Kiez
Um einem Unesco-Welterbetitel näher zu kommen, haben Julia Staron und ihre Mitstreiter einen Fragebogen erstellt. So wollen sie herausfinden, was die Menschen an St. Pauli besonders schätzen, was sie sich für den Stadtteil wünschen – zum Beispiel Menschen wie Margit Cenki. Sie wohnt ein paar hundert Meter von Julia Starons "Kukuun"-Club entfernt, vis-à-vis den Hafenstraßenhäusern. Sie findet die Idee mit dem Fragebogen, der vor ihr auf dem Tisch liegt, einfach absurd:
"Was im Fragebogen und auch sonst so fehlt, ist die Subkultur, die ja auch diesen ganzen Reichtum, wenn es überhaupt noch welchen gibt, geschaffen haben. Es hat da niemand unterschrieben wie der 'Pudel' oder der 'Mojo' oder das 'Molotow', die ja dauernd einen Mehrwert schaffen. Und dann ist die soziale Frage überhaupt nicht drin."
Kampf gegen Gentrifizierung
Wenn Julia Staron für diejenigen steht, die mit dem Entertainment, mit den Touristen auf dem Kiez viel Geld verdienen, steht Margit Cenki für das Hafenstraßen-St. Pauli, für den "Park Fiction", der mit viel Eigeninitiative der Anwohner durchgesetzt wurde. Cenki hat gegen die Gentrifizierung der Bernhard-Nocht-Straße gekämpft und für eine stadtteilgerechte und weniger profitgeleitete Neubebauung des riesigen Areals, auf dem früher einmal die sogenannten Esso-Häuser standen.
Dass nun aus dem "Business Improvement Districts", dem BID, die Idee mit dem Weltkulturerbe kommt, überrascht sie nicht. Auch nicht, dass mit Corny Littmann einer der umtriebigsten Theatermacher auf dem Kiez zu den Unterzeichnern gehört: "Sobald das BID drunter steht, das ja die Besitzer, die Hausbesitzer vertritt und dann Corny Littmann, der fast alle Läden am Kiez dann bald hat oder so. Das sind alles Leute, die davon leben, Geschichten zu erzählen, die es nicht mehr gibt."
Am Ende sei das kleinteilige, vielfältige St. Pauli schon lange durch die immer weiter steigenden Mieten bedroht. Der "Golden Pudel Club" oder der "Butt-Club" hätten einst Experimentierräume finden können, weil eben noch nicht jeder Quadratmeter des Viertels erschlossen und durchkalkuliert gewesen sei.
Welterbetitel als PR-Kampagne?
Genauso kritisch wie Margit Cenki sieht Niels Boeing von der Initiative "St. Pauli Selbermachen" die Idee mit dem Weltkulturerbe: "Das kann sich ruhig verändern. Mir kam es immer nur darauf an, dass dann auch alle Mitspracherecht haben und alle gemeinsam entscheiden. Wie wollen wir es ändern? Oder wie soll es sich verändern? Zu welchen Bedingungen?"
Niels Boeing fürchtet, dass mit einem Welterbetitel vor allem Werbung für das Viertel gemacht werden soll, dass es um PR geht, die noch mehr Touristen anlocken soll: "Dann wird doch wahrscheinlich dasselbe passieren wie an allen Orten, an denen es auch ein materielles Weltkulturerbe gibt. Sagen wir mal: Altstadt Dubrovnik, die gar nicht mehr atmen können vor lauter Tourismus. Diesen Effekt könnte das dann auch haben. Das heißt, der Schuss könnte sogar tierisch nach hinten losgehen, dass es eigentlich noch wüster wird auf St. Pauli."
Ein Viertel, viele Gesichter
An der Kreuzung Bernhard-Nocht-Straße Ecke Davidstraße empfängt Günther Zint im "St. Pauli Museum". Zint hat den Kiez mindestens ein halbes Jahrhundert lang mit der Kamera dokumentiert, kennt jeden Winkel des Viertels: "Es gibt mehrere St. Paulis. Einmal das St. Pauli als Idee: Religionsfreiheit, Handwerksfreiheit, also Gewerbefreiheit. Dann ist es ein St. Pauli, was die Touristen beherrschen. Und dann gibt es das St. Pauli, das so linksorientiert ist: FC St. Pauli, Flora und so weiter ausmacht."
Dazu passten im Übrigen auch die vielen Suppenküchen, die jeden Tag rund 1.500 Essen an arme oder obdachlose Menschen ausgeben, so Günther Zint. Oder das "Café mit Herz", wo einmal die Woche eine kostenlose Sprechstunde angeboten wird: "Und wenn da Medikamente nötig sind, wird von Frau Glunz jemand mit Bargeld in die Apotheke geschickt – die haben ja keinen Krankenschein – und dann müssen wir denen natürlich auch die Medikamente dazu liefern."
Bewahrung des alten St. Pauli
Dass das alte St. Pauli, trotz Gentrifizierung und der allzu starken Fixierung auf immer mehr Touristen überleben könnte, zeigt ein Blick in den Elbschlosskeller in der Talstraße. Die Spelunke existiert seit 1952 und die Kiez-Fotos, die Günter Zint schon vor Jahrzehnten in schwarz-weiß von den Gestrandeten dieser Kneipe gemacht hat, schießt heute die Fotografin CP Krenkler. Vorm Elbschlosskeller zeigt die St. Paulianerin eine Auswahl. Zum Beispiel das Bild einer grell geschminkten, wasserstoffblonden Frau. Stämmig, im glitzernden Paillettenkleid.
"Mitte Siebzig oder so. Hat auch ganz normal Family und so. Und Mausi, das ist wirklich eine total rührende Geschichte, ist total dicke mit Tessy. Das ist der bürgernahe Polizist. Und Mausi geht dann, wenn sie ein neues Kleid hat, zu Tessy auf die Davidwache und zeigt ihm ihr schickes, neues Kleid. Das finde ich total süß", erzählt CP Krenkler.
Das nächste Foto: eine hagere Frau, unübersehbare Narben am Oberarm, ein offenes Lachen, tiefe Falten im Gesicht. "Das ist Angie, zum Beispiel. Angie ist eine traurige Geschichte. Sie wohnt tatsächlich im Elbschlosskeller oder hat da gewohnt. Jetzt, glaube ich, gerade nicht mehr. Aber das zog sich über zwei Jahre hin."
Das nächste Foto: eine hagere Frau, unübersehbare Narben am Oberarm, ein offenes Lachen, tiefe Falten im Gesicht. "Das ist Angie, zum Beispiel. Angie ist eine traurige Geschichte. Sie wohnt tatsächlich im Elbschlosskeller oder hat da gewohnt. Jetzt, glaube ich, gerade nicht mehr. Aber das zog sich über zwei Jahre hin."
Die junge Fotografin schaut auf, begrüßt Rita. Stammkundin aus dem Elbschlosskeller, Bierdose in der Hand: "Hey, hallo!" – "Hey! St. Pauli! Alles gut, alles gut." – "Sie habe ich auch fotografiert im Elbschlosskeller." – "Ach was, ach was. Ich bin auch auf Facebook. Ich tanze wie eine Göttin! Hey, St. Pauli!"
Die beiden Frauen halten noch einen Plausch, dann nimmt Rita die drei Stufen runter in den Elbschlosskeller. Auch so ein Ort, der St. Pauli ausmacht, wo sich abends auch Anzug- und Jogginghosenträger hineinverirren, in dem Rita tanzt und Mausi ihr neues Kleid ausführt. Die Frage bleibt, ob ein Unesco-Welterbetitel genau dieses St. Pauli bewahren kann oder es im Dienste einer werbewirksamen Aufhübschung dauerhaft zerstört.