Staat im Staate
Spannend geschrieben, ohne reißerisch zu sein, zeigt der britische Historiker John Dickie, wie die italienische Mafia einen Staat im Staate errichten konnte, mit eigenen Regeln und Institutionen. Er erzählt von den Initiationsriten, den Strategien der „ehrenwerten Gesellschaft“ und ihren Kooperationspartnern in Staat, Gesellschaft und Kirche.
Wäre der Handel mit Zitronen Mitte des 19. Jahrhunderts nicht so ein lukratives Geschäft gewesen, wer weiß, vielleicht gäbe es dann keine Mafia. Palermo war der wichtigste Hafen auf Sizilien, Drehscheibe für Groß- und Einzelhandel und schon damals galt: Wer sich nicht für die richtigen Wachleute entschied, konnte seiner Ernte nicht sicher sein. Wer sich dagegen wehrte, bekam noch mehr Probleme und konnte schon damals nicht auf Hilfe von Justiz und Politik hoffen. Denn schon in den Anfangsjahren der geheimen Organisation gab es Regeln wie die Schweigepflicht und die Initiationsriten, Regeln, die sich bis heute gehalten haben.
Sehr anschaulich zeigt John Dickie, wie es der sizilianischen Mafia gelang, sich anzupassen, sich zu wandeln, ohne sich in ihrem Kern grundlegend zu verändern. Die Mafia habe sich zu einem Staat im Staate entwickelt, in dem jede Mafiafamilie mit dem Einverständnis der Gesamtorganisation „eine Schattenherrschaft über die Bewohner ihres Gebietes“ ausübe. Ein perfektes System: „Ein Mafioso beschützt am Ende unter Umständen sowohl den Inhaber eines Autohauses als auch die Bande von Autodieben, die ihn bestehlen.“
Dabei schaffte es die Mafia bis in die 80er Jahre des 20. Jahrhunderts einen Schleier über ihr Innenleben, ihre Struktur und ihre Regeln zu legen.
„Mafia galt vielfach als primitiver Begriff von Ehre, als rudimentärer Kodex der Ritterlichkeit, an den sich die rückständigen Bewohner in den ländlichen Gebieten Siziliens hielten.“
Allzu lange sei die sizilianische Kultur mit der mafiosità verwechselt worden, eine Begriffsverwirrung, die durchaus im Interesse des organisierten Verbrechens gewesen sei. Wer von einer geheimen kriminellen Organisation gesprochen habe, sei lange als Verschwörungstheoretiker abgetan worden, als einer der nicht verstehe, wie die Sizilianer denken. Und das, obwohl, wie John Dickie belegt, schon im 19. Jahrhundert vieles über die Regeln und Institutionen der ehrenwerten Gesellschaft erforscht worden war – nur man wollte es von offizieller Seite lange nicht wahrhaben.
Das änderte sich erst, als Tommaso Buscetta, einer der mächtigen Bosse, in den 80er Jahren auspackte und die omertà, die Schweigepflicht, brach. Durch ihn erhielt der Untersuchungsrichter Giovanni Falcone Einblicke in das Innenleben der sizilianischen Mafia. Er erfuhr viele Details über ihre pyramidenförmige Kommandostruktur und über das Ausmaß an innerer Disziplin.
Dieser Tommaso Buscetta ist auch für John Dickie ein wichtiger Kronzeuge, daneben hat er sich aber auch durch weniger beachtete Quellen gearbeitet. So hat der britische Historiker eine umfassende Geschichte der Cosa Nostra geschrieben, spannend, aber ohne die gängigen Klischees zu bedienen. Die Mafia, das wird in der Lektüre deutlich, war nie eine „ehrenwerte“ Gesellschaft, sondern immer eine kriminelle Vereinigung zum Zweck der eigenen Bereicherung. Sie erweiterte ihre Einnahmequellen: Schutzgeld, Entführung, Erpressung, Korruption.
Nach dem Zweiten Weltkrieg begann „die Plünderung Palermos“, die Mafia profitierte vom Bauboom der Nachkriegszeit:
„Die Plünderung Palermos machte jeden zerfallenen Barockpalast, jede billig gebaute Sozialwohnung, jeden ehrgeizig geplanten Apartmentkomplex zu einem Denkmal für Korruption und Verbrechen.“
Eine Vetternwirtschaft zwischen Politikern, Bauunternehmern und Mafiosi entstand, mit Verbindungen nach ganz oben.
In den 70er Jahre stieg die sizilianische Mafia schließlich auch in das internationale Drogengeschäft ein. Gelingen konnte das nur, wie Dickie in seiner genauen Analyse zeigt, weil der Staat sein Gewaltmonopol nicht durchsetzen konnte oder wollte. Für die Regierungen in Rom wurden die Mafiosi nach und nach zu einem Bestandteil einer neuen politischen Normalität, sie wurde zu einem „Instrument der lokalen Verwaltung“.
Politische Macht erstrebte die Mafia nie, wer in Rom regierte, interessierte die Ehrenmänner letztlich nicht, zumindest solange sich die Politiker zu ihren Gunsten instrumentalisieren ließen. Deshalb seien die Mafiosi auch überzeugt gewesen, letztlich immer ungeschoren davon zu kommen, auch nach dem von Giovanni Falcone angestrebten Mammutprozess, bei dem 1987 mehr als 350 Mafiosi verurteilt wurden.
Heute scheint nach einer Phase der Konfrontation, in der die Mafia den Staat mit Gewalt zum Nachgeben zwingen wollte, durch Bombenanschläge und Attentate, Ruhe eingekehrt zu sein. Eine trügerische Ruhe, wie der Autor schreibt. Niemand außerhalb der Organisation wisse, wie die Kräfteverhältnisse innerhalb der Mafia zur Zeit sind, wie viel Einfluss die Bosse, die im Gefängnis sitzen, noch haben. Niemand kann voraussagen, ob sich die Mafia gerade einfach nur neu strukturiert und auf der Suche ist nach neuen Partnern in der Politik. Auf alle Fälle ist die Geschichte der Mafia noch nicht zu Ende.
John Dickie: Cosa Nostra. Die Geschichte der Mafia
Übersetzt von Sebastian Vogel
S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2006
560 Seiten. 19,90 Euro.
Sehr anschaulich zeigt John Dickie, wie es der sizilianischen Mafia gelang, sich anzupassen, sich zu wandeln, ohne sich in ihrem Kern grundlegend zu verändern. Die Mafia habe sich zu einem Staat im Staate entwickelt, in dem jede Mafiafamilie mit dem Einverständnis der Gesamtorganisation „eine Schattenherrschaft über die Bewohner ihres Gebietes“ ausübe. Ein perfektes System: „Ein Mafioso beschützt am Ende unter Umständen sowohl den Inhaber eines Autohauses als auch die Bande von Autodieben, die ihn bestehlen.“
Dabei schaffte es die Mafia bis in die 80er Jahre des 20. Jahrhunderts einen Schleier über ihr Innenleben, ihre Struktur und ihre Regeln zu legen.
„Mafia galt vielfach als primitiver Begriff von Ehre, als rudimentärer Kodex der Ritterlichkeit, an den sich die rückständigen Bewohner in den ländlichen Gebieten Siziliens hielten.“
Allzu lange sei die sizilianische Kultur mit der mafiosità verwechselt worden, eine Begriffsverwirrung, die durchaus im Interesse des organisierten Verbrechens gewesen sei. Wer von einer geheimen kriminellen Organisation gesprochen habe, sei lange als Verschwörungstheoretiker abgetan worden, als einer der nicht verstehe, wie die Sizilianer denken. Und das, obwohl, wie John Dickie belegt, schon im 19. Jahrhundert vieles über die Regeln und Institutionen der ehrenwerten Gesellschaft erforscht worden war – nur man wollte es von offizieller Seite lange nicht wahrhaben.
Das änderte sich erst, als Tommaso Buscetta, einer der mächtigen Bosse, in den 80er Jahren auspackte und die omertà, die Schweigepflicht, brach. Durch ihn erhielt der Untersuchungsrichter Giovanni Falcone Einblicke in das Innenleben der sizilianischen Mafia. Er erfuhr viele Details über ihre pyramidenförmige Kommandostruktur und über das Ausmaß an innerer Disziplin.
Dieser Tommaso Buscetta ist auch für John Dickie ein wichtiger Kronzeuge, daneben hat er sich aber auch durch weniger beachtete Quellen gearbeitet. So hat der britische Historiker eine umfassende Geschichte der Cosa Nostra geschrieben, spannend, aber ohne die gängigen Klischees zu bedienen. Die Mafia, das wird in der Lektüre deutlich, war nie eine „ehrenwerte“ Gesellschaft, sondern immer eine kriminelle Vereinigung zum Zweck der eigenen Bereicherung. Sie erweiterte ihre Einnahmequellen: Schutzgeld, Entführung, Erpressung, Korruption.
Nach dem Zweiten Weltkrieg begann „die Plünderung Palermos“, die Mafia profitierte vom Bauboom der Nachkriegszeit:
„Die Plünderung Palermos machte jeden zerfallenen Barockpalast, jede billig gebaute Sozialwohnung, jeden ehrgeizig geplanten Apartmentkomplex zu einem Denkmal für Korruption und Verbrechen.“
Eine Vetternwirtschaft zwischen Politikern, Bauunternehmern und Mafiosi entstand, mit Verbindungen nach ganz oben.
In den 70er Jahre stieg die sizilianische Mafia schließlich auch in das internationale Drogengeschäft ein. Gelingen konnte das nur, wie Dickie in seiner genauen Analyse zeigt, weil der Staat sein Gewaltmonopol nicht durchsetzen konnte oder wollte. Für die Regierungen in Rom wurden die Mafiosi nach und nach zu einem Bestandteil einer neuen politischen Normalität, sie wurde zu einem „Instrument der lokalen Verwaltung“.
Politische Macht erstrebte die Mafia nie, wer in Rom regierte, interessierte die Ehrenmänner letztlich nicht, zumindest solange sich die Politiker zu ihren Gunsten instrumentalisieren ließen. Deshalb seien die Mafiosi auch überzeugt gewesen, letztlich immer ungeschoren davon zu kommen, auch nach dem von Giovanni Falcone angestrebten Mammutprozess, bei dem 1987 mehr als 350 Mafiosi verurteilt wurden.
Heute scheint nach einer Phase der Konfrontation, in der die Mafia den Staat mit Gewalt zum Nachgeben zwingen wollte, durch Bombenanschläge und Attentate, Ruhe eingekehrt zu sein. Eine trügerische Ruhe, wie der Autor schreibt. Niemand außerhalb der Organisation wisse, wie die Kräfteverhältnisse innerhalb der Mafia zur Zeit sind, wie viel Einfluss die Bosse, die im Gefängnis sitzen, noch haben. Niemand kann voraussagen, ob sich die Mafia gerade einfach nur neu strukturiert und auf der Suche ist nach neuen Partnern in der Politik. Auf alle Fälle ist die Geschichte der Mafia noch nicht zu Ende.
John Dickie: Cosa Nostra. Die Geschichte der Mafia
Übersetzt von Sebastian Vogel
S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2006
560 Seiten. 19,90 Euro.