Staat im Staate
An vielen Orten in Ostdeutschland sind die Hinterlassenschaften der sowjetischen Truppen noch zu sehen: zerfallende Kasernengelände in der Größe von Kleinstädten. Was hier geschah, blieb selbst der DDR-Führung verborgen. Silke Satjukow gibt in "Besatzer. 'Die Russen' in Deutschland 1945–1994" einen umfassenden Überblick über die Präsenz der "Waffenbrüder" in Ostdeutschland.
Sie war Staat im Staate, eine selbstherrlich und scheinbar regellos agierende Macht: die "Gruppe der sowjetischen Streitkräfte in Deutschland" (GSSD). Knapp 50 Jahre lang lebten die "Waffenbrüder" in der DDR, doch erlaubten sie kaum einen Blick hinter die Kasernenmauern. Die Jenaer Historikerin Silke Satjukow erzählt nun die Geschichte dieser "Russen", und sie enthüllt das Ausmaß der Besatzung: Insgesamt zehn Millionen Militärs schickte Moskau seit Kriegsende nach Ostdeutschland. 1989 weilten 339.000 Sowjetsoldaten in der DDR, dazu 207.000 Zivilangestellte und Angehörige. Allein in Wünsdorf, bei Stab und Verwaltung, residierten 35.000 Sowjetbürger. Das fremde Heer okkupierte 2,2 Prozent des DDR-Territoriums, es nutzte 1026 "Objekte" mit 36.000 Gebäuden (777 dieser "Russenstädtchen" waren geschlossene Areale).
Jährlich 1,2 Milliarden Mark zahlte die DDR für den Unterhalt der Gäste. Was diese Gäste taten, blieb im Detail jedoch selbst Honecker und Mielke verborgen. Eine Ost-Berliner Regierungskommission versuchte sich 1988 an einer geheimen Inventur des Unternehmens GSSD – und scheiterte. Nicht einmal Truppenstärken und Liegenschaften der "Russen" zwischen Oder und Elbe ließen sich lückenlos erfassen. (Souverän war die DDR tatsächlich nur auf dem Papier; im Krisenfall kommandierte allein der Kreml.)
"Autokratisch" nennt Silke Satjukow die sowjetischen Kommandeure; ihre Machtansprüche seien "fürstengleich" gewesen. Was immer ein Militärchef wollte, hat er requiriert – Häuser und Grundstücke (auch private), Wälder und Wege, Arbeitskräfte, Leistungen. Und die ostdeutschen Behörden? Schauten weg. Kuschten.
In ihrer Studie spannt die Autorin weite Bögen – von 1945 bis 1994, von der Politik bis ins Intim-Persönliche. Sie erzählt vom Grauen zu Kriegsende, vom staatstragenden Mythos der "Befreiung", vom freudlosen Alltag der Befreier und ihrem ruhmlosen Abzug. Drei Siedlungen als "Kristallisationsorte von Nahkontakten" werden zum Ausgangspunkt für "dichte Beschreibungen": Dresden und Weimar sowie Nohra, ein Nest in Thüringen, gleich neben einem Übungsplatz gelegen. Aktenauszüge und Aussagen von Zeitzeugen sorgen für Kolorit; der Originalton illustriert, was "Besatzung" selbst an entlegenen Orten bedeutete: in der Dorfkneipe und im Gartenverein, im Eckladen oder im Kaufhaus.
"Deutsch-sowjetische Freundschaft" war in der DDR Teil der Staatsdoktrin – aber wenig mehr. Fraternisierung sahen die Oberen auf beiden Seiten nicht gern. Bei den Sowjets bemerkte Silke Satjukow gar "paranoide Verhinderungsstrategien". Und dennoch, schreibt sie, fanden die kleinen Leute zueinander: in der Fabrik und auf dem Gemüsefeld, bei illegalen Tauschgeschäften, bisweilen als Freunde, Liebende, Ehepartner.
Spannend liest sich, was die Autorin über die Wahrnehmung der anderen, den wechselseitigen Kulturschock mitzuteilen weiß. Etwa: "Die ‚Russenkasernen’ blieben fremde, dunkle Orte, die nach einer Mischung aus Schweiß und Schmieröl, Kohl und Knoblauch, billiger Seife und beißend süßlichen Papirossi rochen ..." Auch die tragischen Momente der Besatzungsära werden bildhaft dargestellt – entwürdigende Zustände in den Kasernen, Kameradenquälerei, tödliche Unfälle bei Manövern, Hetzjagden auf Deserteure, Straftaten und Selbstmorde.
Das Buch ist eine Pioniertat; vergleichbare Untersuchungen zur alliierten Besatzung (in ganz Deutschland) existieren nicht. Hervorhebenswert sind Tiefgang und Sorgfalt der Recherche, die Systematik und die Begeisterung der Autorin für ihren Stoff. Immer wieder überrascht sie den Leser – mit einem unvermuteten Blickwinkel, einem dramatischen Zitat, sogar mit Wortspielen. Eine "Politik-, Verwaltungs- und Wirtschaftsgeschichte der sowjetischen Besatzung" wollte die Verfasserin liefern, erweitert um einen "kulturgeschichtlich orientierten Ansatz". Das kluge, wissenschaftlich präzise, dabei gut geschriebene Werk ist mehr: ein Glücksfall von einer Monographie - mal Lesebuch (mit Thrillerqualität), mal Reiseführer in eine versunkene Welt.
Rezensiert von Uwe Stolzmann
Silke Satjukow: Besatzer. "Die Russen" in Deutschland 1945–1994 Verlag Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 2008.
406 Seiten, 34,90 Euro
Jährlich 1,2 Milliarden Mark zahlte die DDR für den Unterhalt der Gäste. Was diese Gäste taten, blieb im Detail jedoch selbst Honecker und Mielke verborgen. Eine Ost-Berliner Regierungskommission versuchte sich 1988 an einer geheimen Inventur des Unternehmens GSSD – und scheiterte. Nicht einmal Truppenstärken und Liegenschaften der "Russen" zwischen Oder und Elbe ließen sich lückenlos erfassen. (Souverän war die DDR tatsächlich nur auf dem Papier; im Krisenfall kommandierte allein der Kreml.)
"Autokratisch" nennt Silke Satjukow die sowjetischen Kommandeure; ihre Machtansprüche seien "fürstengleich" gewesen. Was immer ein Militärchef wollte, hat er requiriert – Häuser und Grundstücke (auch private), Wälder und Wege, Arbeitskräfte, Leistungen. Und die ostdeutschen Behörden? Schauten weg. Kuschten.
In ihrer Studie spannt die Autorin weite Bögen – von 1945 bis 1994, von der Politik bis ins Intim-Persönliche. Sie erzählt vom Grauen zu Kriegsende, vom staatstragenden Mythos der "Befreiung", vom freudlosen Alltag der Befreier und ihrem ruhmlosen Abzug. Drei Siedlungen als "Kristallisationsorte von Nahkontakten" werden zum Ausgangspunkt für "dichte Beschreibungen": Dresden und Weimar sowie Nohra, ein Nest in Thüringen, gleich neben einem Übungsplatz gelegen. Aktenauszüge und Aussagen von Zeitzeugen sorgen für Kolorit; der Originalton illustriert, was "Besatzung" selbst an entlegenen Orten bedeutete: in der Dorfkneipe und im Gartenverein, im Eckladen oder im Kaufhaus.
"Deutsch-sowjetische Freundschaft" war in der DDR Teil der Staatsdoktrin – aber wenig mehr. Fraternisierung sahen die Oberen auf beiden Seiten nicht gern. Bei den Sowjets bemerkte Silke Satjukow gar "paranoide Verhinderungsstrategien". Und dennoch, schreibt sie, fanden die kleinen Leute zueinander: in der Fabrik und auf dem Gemüsefeld, bei illegalen Tauschgeschäften, bisweilen als Freunde, Liebende, Ehepartner.
Spannend liest sich, was die Autorin über die Wahrnehmung der anderen, den wechselseitigen Kulturschock mitzuteilen weiß. Etwa: "Die ‚Russenkasernen’ blieben fremde, dunkle Orte, die nach einer Mischung aus Schweiß und Schmieröl, Kohl und Knoblauch, billiger Seife und beißend süßlichen Papirossi rochen ..." Auch die tragischen Momente der Besatzungsära werden bildhaft dargestellt – entwürdigende Zustände in den Kasernen, Kameradenquälerei, tödliche Unfälle bei Manövern, Hetzjagden auf Deserteure, Straftaten und Selbstmorde.
Das Buch ist eine Pioniertat; vergleichbare Untersuchungen zur alliierten Besatzung (in ganz Deutschland) existieren nicht. Hervorhebenswert sind Tiefgang und Sorgfalt der Recherche, die Systematik und die Begeisterung der Autorin für ihren Stoff. Immer wieder überrascht sie den Leser – mit einem unvermuteten Blickwinkel, einem dramatischen Zitat, sogar mit Wortspielen. Eine "Politik-, Verwaltungs- und Wirtschaftsgeschichte der sowjetischen Besatzung" wollte die Verfasserin liefern, erweitert um einen "kulturgeschichtlich orientierten Ansatz". Das kluge, wissenschaftlich präzise, dabei gut geschriebene Werk ist mehr: ein Glücksfall von einer Monographie - mal Lesebuch (mit Thrillerqualität), mal Reiseführer in eine versunkene Welt.
Rezensiert von Uwe Stolzmann
Silke Satjukow: Besatzer. "Die Russen" in Deutschland 1945–1994 Verlag Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 2008.
406 Seiten, 34,90 Euro