Gescheiterte Privatisierungen

Das wird uns noch lange wehtun

Reisende auf dem Berliner Hauptbahnhof drängeln sich auf einem Bahnsteig und warten auf den Zug.
Wenn der Zug nicht kommt: Reisende auf dem Berliner Hauptbahnhof. © picture alliance / CHROMORANGE / Karl-Heinz Spremberg
Ein Kommentar von Andreas Wirsching · 28.03.2023
Deutschland war mal bekannt dafür, dass vieles gut funktioniert, meint der Historiker Andreas Wirsching. Doch dann sei der Neoliberalismus und die Privatisierung von staatlichen Kernaufgaben gekommen. Damit sei das Land folgenschwer gescheitert.
Im März 2021 fiel in Thüringen der Notruf 110 aus. Das Radio meldete: "Die zuständige Firma ist informiert. Wie lange die Störung dauert, lässt sich nicht sagen."

110: Kein Anschluss unter dieser Nummer

Wer sich fragt, warum wohl eine private Firma für den klassischen Polizeiruf zuständig ist, der blicke ungefähr 30 Jahre zurück. Damals setzte sich das New Public Management durch, eine Unterabteilung des Neo-Liberalismus. Sein Credo lautete: Privatisierung und Wettbewerb machen auch die Kernbereiche staatlicher Daseinsvorsorge – Sicherheit und Gesundheit, Energie und Verkehr – effizienter. Und vor allem billiger.
In Zeiten knapper Kassen war das für Politiker aller Couleur eine unwiderstehliche Versuchung: Es war doch viel leichter, kostspielige Bereiche der öffentlichen Daseinsvorsorge an den Markt abzugeben, als unpopuläre haushaltspolitische Prioritäten setzen zu müssen.
Heute ist die Ideologie des New Public Management folgenschwer gescheitert. Nichts funktioniert mehr richtig; und geradezu verzweifelt suchen Politikerinnen und Politiker, staatliche Handlungsmacht zurückzugewinnen.
Stichwort Sicherheit: Ab 2005 privatisierte das Bundesverteidigungsministerium die Pflege der Panzer. Man gründete die „Heeresinstandsetzungslogistik GmbH“ und machte einen „Share Deal“ mit der Rüstungsindustrie. Infrastruktur und Leistungszusagen wurden verkauft; dafür versprach die Industrie ein „dynamisches Verfügbarkeitsmanagement“.

Mehr McKinsey-Berater, weniger Panzer

Danach stieg die Zahl der McKinsey-Berater an – und die der einsatzbereiten Panzer ging zurück. Heute kratzt der Bundesverteidigungsminister mühsam seine wenigen funktionsfähigen Leoparden zusammen.
Stichwort Gesundheit, wo seit 2003 das Marktprinzip gilt: Die Bundesregierung forcierte die Privatisierung öffentlicher Krankenhäuser und zwang sie in ein ökonomistisches Leistungsregime. Ärzte und Patienten kennen die Folgen seit Langem: ruinöser Wettbewerb, Überbürokratisierung, Funktionsverlust.
Zwanzig Jahre später bemerkte das auch der Bundesgesundheitsminister. Als kranke Kinder wegen Überfüllung der Kliniken zu sterben drohten, fand er, wir bräuchten nunmehr „weniger Ökonomie und mehr Medizin“.

Bei Insolvenz zahlt der Steuerzahler

Stichwort Energie: Bis zum Jahre 2000 wurde die E.ON vollprivatisiert. Damit gehörten ihr zahllose Energiebetriebe, die einst kommunales und staatliches Eigentum gewesen waren. 2016 wurden sie in der börsennotierten Uniper gebündelt, was vor allem den Aktionären nutzte.
Als jedoch 2022 die Insolvenz drohte, verstaatlichte die Bundesregierung die Firma bekanntlich. Und welch süße Hoffnungen keimen seitdem in Bayern: Hier erwägt die Regierung, die 97 Wasserkraftwerke, die früher dem Freistaat gehörten, für einen Milliardenbetrag zurückzukaufen und damit Bayerns Energieprobleme zu mildern – ein wahrlich groteskes Szenario.
Über das Stichwort Verkehr wollen wir lieber schweigen. In welchem Zustand die 1994 gegründete Deutsche Bahn AG heute ist, weiß jeder.
Unsere Verkehrsleistungen sind längst zur internationalen Lachnummer geraten. Dazu hat auch die weitgehende Abschaffung des Berufsbeamtentums mit Treuepflicht und Streikverbot beigetragen.
Eisenbahn- oder Postbeamter zu sein, beamteter Fluglotse oder auch kommunal beamteter Busfahrer, begründete einst Würde und Berufsstolz für viele Hunderttausend Menschen. Die deutsche Politik hat das durch einen privatisierten Niedriglohnsektor ersetzt. Der fordert nun mit Lohnstreiks seinen Teil ein und trägt zur Lahmlegung des öffentlichen Sektors bei.

Effizienz? Nicht mehr in Deutschland

Mag mancher noch glauben, die Deutschen zeichneten sich durch besondere Effizienz aus: Das ist längst zur Lebenslüge geworden. 30 Jahre lang hat die deutsche Politik das Tafelsilber unseres Staates verkauft – heute fällt es uns allen als Bleigewicht auf die Füße. Die Schmerzen werden noch lange anhalten.

Andreas Wirsching ist Direktor des Instituts für Zeitgeschichte München–Berlin und Inhaber des Lehrstuhls für Neueste Geschichte an der LMU München sowie Mitglied der Bayerischen Akademie der Wissenschaften. Er ist Verfasser zahlreicher Werke zur deutschen und europäischen Geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts.

Der Historiker Andreas Wirsching spricht am 08.01.2016 im Institut für Zeitgeschichte in München (Bayern) während einer Pressekonferenz zur Vorstellung des Buches «Hitler, Mein Kampf - Eine kritische Edition», der kommentierten Fassung der Hetzschrift «Mein Kampf» des späteren nationalsozialistischen Diktators Adolf Hitler. Hitler hatte die Hetzschrift 1924 verfasst.
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