Staatliche Grundsicherung

Wieviel ein Mensch zum Leben braucht

04:13 Minuten
"Armut!" steht am 11.01.2016 in Berlin am Potsdamer Platz an einer Wand.
Schriftzug "Armut!" in Berlin: Andreas Aust fordert eine transparente Ermittlung des menschenwürdigen Existenzminimums. © picture alliance / dpa / Jens Kalaene
Ein Einwurf von Andreas Aust |
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Millionen Menschen leben von der Grundsicherung: Sie soll ihnen eine würdige Existenz garantieren. Doch dieses Grundrecht werde verletzt, kritisiert der Politologe Andreas Aust. Die Bundesregierung arbeite mit Tricks, um den Bedarf kleinzurechnen.
Wenn die Bundesregierung das Existenzminimum ermittelt, dann fragt sie nicht, "Was braucht der Mensch zum Leben?", sondern sie vergleicht, wieviel Geld die Ärmsten in unserer Gesellschaft im Monat etwa ausgeben. Dieses Vorgehen nennt sich "Statistikmodell". Es wirkt seriös und wissenschaftlich fundiert - leidet aber an massiven Defiziten.
Denn die Bundesregierung traut ihrem eigenen Verfahren nicht. Würde sie sich konsequent an die Ergebnisse des Statistikmodells halten, lägen die Regelsätze für die Grundsicherung um mehr als ein Drittel höher, als sie es tatsächlich sind. Das heißt: der Regelbedarf müsste bei mindestens 570 Euro liegen, statt bei 424 Euro.

Niedrigere Beträge politisch gewünscht

Da hilft es nur, in die Methodik einzugreifen, damit die politisch gewünschten niedrigen Beträge für die Grundsicherung herauskommen. Ohne Willkür und statistische Tricks geht das nicht.
Ein Beispiel: Bis zum Jahr 2011 wurden die Ausgaben der untersten ärmsten 20 Prozent erfasst, um den Regelbedarf zu bestimmen. Doch anscheinend waren deren Ausgaben noch zu hoch, sodass seitdem nur noch die untersten 15 Prozent auf der Einkommensskala berücksichtigt werden. Eine überzeugende Begründung dafür gibt es nicht, außer dass die Bezugsgruppe durch den Trick ärmer wird.
Beispiel zwei: Die Grundsicherung soll nicht nur das physische Überleben garantieren, sondern auch die Teilhabe am gesellschaftlichen, kulturellen und politischen Leben. Doch gerade hier wird der Willkür Tür und Tor geöffnet, denn die Bundesregierung hält sich nicht an ihr "Statistikmodell", sondern streicht von den tatsächlichen Ausgaben der Bezugsgruppe die Ausgaben, die sie für nicht relevant hält.

Fünfeinhalb Jahre sparen – für einen alten Kühlschrank

So gut wie alle Ausgaben, die mit gesellschaftlicher Teilhabe zu tun haben, wurden als "nicht regelsatzrelevant" gestrichen oder massiv gekürzt. Letzteres gilt etwa für die Bereiche Mobilität, Freizeit und Kultur oder Gaststättenbesuche. Aber auch die Anschaffung eines gebrauchten Kühlschranks wird zu einer Herkulesaufgabe: fünfeinhalb Jahre müsste ein Hartz-IV-Berechtigter den dafür vorgesehenen Anteil für langlebige Verbrauchsgüter sparen, um dann bescheidene 112 Euro für einen alten Kühlschrank ausgeben zu können.
Ausgaben der Referenzgruppe für politisch wenig opportune Produkte wie Alkohol oder Tabak fallen einfach unter den Tisch. Gleiches gilt etwa für den Weihnachtsbaum an Heiligabend, den Handyvertrag, Tierfutter für das Haustier, das Benzin fürs Auto oder den Café-Besuch. So entsteht ein Rechenwerk mit gravierenden Unzulänglichkeiten – und einem Ergebnis, welches weit von gesellschaftlicher Teilhabe entfernt ist.

Abenteuerliche Berechnungen beim Bedarf von Kindern

Geradezu abenteuerlich werden die Berechnungen der Bundesregierung, wenn es um den Bedarf von Kindern geht. Denn die Fallzahlen sind bei den konkreten Ausgaben viel zu klein, um daraus halbwegs seriöse Hochrechnungen abzuleiten. Doch das ficht die Bundesregierung nicht an, den Regelbedarf für Kinder dann eben ohne verlässliche statistische Grundlage zu ermitteln.
2018 ist eine neue Statistik erhoben worden. Damit steht eine neue Ermittlung der Regelbedarfe an. Diese Gelegenheit muss für eine grundlegende Korrektur genutzt werden. Schluss mit der Willkür! Wir brauchen eine transparente, methodisch saubere Ermittlung des menschenwürdigen Existenzminimums. Dazu sollte die Bundesregierung jetzt eine unabhängige Kommission einberufen. Die Regelsätze müssen den Bedarf ausreichend decken. Doch davon sind wir weit entfernt.

Andreas Aust, geboren 1966 in Linz am Rhein, Politikwissenschaftler, arbeitet beim Paritätischen Wohlfahrtsverband in Berlin in der Paritätischen Forschungsstelle. In dieser Funktion beschäftigt er sich mit Fragen der sozialen Ungleichheit, u.a. mit der Kritik an der Ermittlung des Existenzminimums. Zuletzt erschienen als Expertise der Forschungsstelle: "Verschlossene Türen. Eine Untersuchung zu Einkommensungleichheit und Teilhabe von Kindern und Jugendlichen".

© S. Aust
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