Die Wut über Diskriminierung verschwindet nicht
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Die Coronakrise hat die Proteste gegen das Staatsbürgerschaftsgesetz in Indien verstummen lassen. Aber der Ärger darüber ist geblieben. Denn erstmals dient Religion als Kriterium, um festzulegen, wer Inder werden darf – und Muslime gehören nicht dazu.
Weithin waren die Rufe der Demonstranten noch bis zum 24. März zu hören, in Shaeen Bagh, einem Stadtteil von Neu Delhi. Dann ließ der indische Präsident Modi die Proteste von 5000 Soldaten räumen. Als Maßnahme gegen die Ausbreitung des tödlichen Coronavirus. Bis dahin protestierten monatelang Künstler, Studenten und andere Intellektuelle, unter ihnen aber vor allem Frauen, gegen das neue Staatsbürgerschaftsgesetz.
Und auch wenn sie nun nicht mehr demonstrieren, ihre Wut über das Gesetz ist nicht verschwunden. Die hohe Zahl der Frauen, die auf die Straße gingen, fiel auf, nicht nur in Neu Delhi, sondern auch in Kalkutta und anderen Städten. Das machte diese Protestwelle einzigartig, auch außerhalb Indiens.
"Das beängstigte den Staat. Er investiert in die Erziehung von Frauen und verschafft ihnen eine Ausbildungsmöglichkeit, kann ihnen dann aber schlecht verbieten, ihren Verstand zu nutzen. Aber jeder, der das tut, erkennt, dass dieses Gesetz islamfeindlich ist, dass dieses Gesetz diskriminierend ist, dass dieses Gesetz faschistische Tendenzen hat. Der Staat ist gezwungen, sich mit den gebildeten jungen Frauen auseinanderzusetzen, weil er nicht mehr weiß, wie er sie sonst kontrollieren soll", erklärt Mitra Darshana, die an den Protesten in Kalkutta bis zum Schluss teilnahm, weil sie – wie alle anderen demonstrierenden Frauen – befürchtet, dass besonders ihnen eine selbstbestimmte und freie Zukunft genommen wird. Weil vor allem Frauen durch das neue Staatsbürgerschaftsgesetz staatenlos geworden sind. Sie konnten ihre indische Herkunft nicht nachweisen.
Indische Regierungspartei will "Himmel für Hindus"
Die 31-jährige Mitra Darshana ist Professorin für Staatsbürgerschafts- und Einwanderungsrecht an der nationalen Universität für Rechtswissenschaften in Kalkutta. Für sie ist das neue Staatsbürgerschaftsgesetz eine logische Konsequenz der Politik, die die indische Regierung seit Jahren verfolgt.
"Wenn man sich das Wahlmanifest der Bharatiya-Janata-Partei (BJP), der heutigen Regierungspartei, anschaut, dann sieht man, dass sie bereits 2014 angekündigt hatte, Indien zu einem 'Himmel für Hindus' zu machen. Und deshalb protestieren die Menschen. Sie befürchten, dass Indien tatsächlich eine Hindu-Nation wird, und dies auf Kosten aller anderen Minderheiten".
Masoom kann sich noch gut an diese Atmosphäre auf den Demonstrationen erinnern. Der 28-Jährige koordinierte als Freiwilliger die Aktivitäten, die auf den Straßen stattfanden.
"Wir waren seit dem 15. Dezember jeden Tag dabei. Seit dem Tag, als die Proteste begonnen hatten. Die Menschen versammelten sich in der Umgebung von Shaheen Bagh relativ schnell. Die Polizei ging sehr hart gegen sie vor. Auch die Studenten der nahe gelegenen Jamia Millia Islamia Universität wurden attackiert, obwohl die gar nicht an den Protesten beteiligt waren. Sie wurden sogar in der Bibliothek der Uni mit Tränengas beschossen. Zu einem Protestmarsch hatten verschiedene Organisationen aufgerufen. Wir waren entschlossen zu protestieren, bis die Regierung NRC und CAA widerruft."
Staatsbürgerschaftsgesetz diskriminiert Muslime
Hinter den Abkürzungen NRC und CAA verbirgt sich vor allem eins: die Diskriminierung von Muslimen. Obwohl der Islam nach dem Hinduismus die zweitgrößte Glaubensrichtung in Indien ist. Immerhin 14 Prozent der Bevölkerung.
Das NRC, das "National Register of Citizens", ist das neue Staatsbürgerschaftsregister des Bundesstaates Assam, das Ende vergangenen Jahres veröffentlicht wurde. In ihm sind die Einwohner erfasst, die nachweisen können, Inder zu sein. Dafür müssen sie oder ihre Eltern vor dem 26. März 1971 nach Assam gekommen sein – dem Tag vor der Unabhängigkeitserklärung des benachbarten Bangladeschs von Pakistan.
Wer in Indien geboren wird, ist Inder – eigentlich
Das CAA ist der "Citizenship Amendment Act" und soll Hindus, die in den islamischen Nachbarländern Pakistan, Bangladesch und Afghanistan aus religiösen Gründen verfolgt werden, die indische Staatsbürgerschaft ermöglichen. Muslime sind von diesem Verfahren ausgeschlossen. Warum? Die Gesetzgeber sagen, es gebe keine muslimischen Flüchtlinge aus jenen drei Ländern. Die Opposition hält dagegen, dass auch dort muslimische Sekten verfolgt werden, und außerdem würde es gegen die Verfassung verstoßen, Muslime auszuschließen. In der Tat habe die indische Regierungspartei BJP damit das, was in Indien seit 1955 galt, abgeschafft, erklärt die Juristin Mitra Darshana.
"In Indien gibt es seit 1955 eine absolute Geburtsrechtsregelung, die besagt, dass jeder, der auf dem Territorium Indiens geboren wird, automatisch indischer Staatsbürger ist, unabhängig davon, woher die Eltern stammen. Dieses Gesetz wurde aber inzwischen mehrmals geändert, zuletzt 2019. Inzwischen ist das Ius Soli, also das Anrecht auf die Staatsbürgerschaft durch Geburt, derart eingeschränkt, dass nur Menschen mit nachweislich indischer Abstammung ein Anrecht auf die Staatsbürgerschaft haben."
Doch das zu beweisen ist schwierig, vor allem im Bundesstaat Assam, wo ein Großteil der Menschen lebt, die vor dem Unabhängigkeitskrieg aus dem überwiegend muslimischen Bangladesch nach Indien geflohen waren. Von den mehr als 30 Millionen Einwohnern konnten es fast zwei Millionen nicht nachweisen.
"Wie soll das in einem Land wie Indien funktionieren, wo viele Menschen keine Geburtsurkunden, keine Schulunterlagen und nicht einmal Eigentumsdokumente haben?" – Sanghamitra Das stammt aus Assam und promoviert zurzeit an der Arizona State University in den USA. Sie müsste sich eigentlich keine Sorgen machen und ist doch vom "National Register of Citizens NRC" betroffen.
Man muss geschickt sein, um Bürger von Assam zu bleiben
"Mein Name wurde im NRC falsch geschrieben. Die Namen meiner ganzen Familie waren richtig aufgelistet, nur meiner nicht. Wäre dies nicht korrigiert worden, wäre ich kein Bürger von Assam. Das war für mich anfangs ein bisschen beängstigend, aber dann hat sich meine Mutter darum gekümmert, denn zu der Zeit habe ich in Delhi studiert und konnte nicht selbst dorthin. Aber sehen Sie, wie geschickt man da sein muss, um sich in den Verwaltungsdingen zurechtzufinden?! Es gibt so viele Menschen auf dem Lande, deren Namen nicht stimmen oder deren Namen gar nicht in der Liste vorkommen. Sie benötigen viel Geld für diese Verwaltungsangelegenheiten. Meine Mutter konnte das leicht aus der Welt schaffen, denn sie hat Kontakte und sie ist eine gebildete Frau. Aber was ist mit den Frauen, die keine Bildung haben und die Witwen sind? Dies gibt mir ein wenig zu denken."
Für solche Menschen hat Juristin Mitra Darshana gemeinsam mit Kollegen ein Rechtsberatungsportal gegründet. Denn jede abgelehnte Person hat 120 Tage Zeit, um Berufung einzulegen. Darshana rät dringend dazu, dem Ablehnungsbescheid zu widersprechen: "Wenn Sie keinen Einspruch einlegen, fallen Sie aus dem System. Deshalb benötigen die Betroffenen Rechtshilfe und Anwälte, die sie beraten." Glaubt man Mitra Darshana, hat sich der indische Staat mit dem neuen Staatsbürgerschaftsgesetz weit aus dem Fenster gelehnt.
"Sie haben Rechtsstreitigkeiten auf einem noch nie dagewesenen Niveau vor sich. Das ist eine Größenordnung, für die die indische Justiz einfach nicht gerüstet ist, und sie werden unweigerlich feststellen, dass das zu einer massenhaften Staatenlosigkeit allein in Assam führen wird. Und natürlich bedeutet es nicht, dass nur, weil jemand nicht als Staatsbürger Indiens akzeptiert wird, er automatisch Bürger eines Nachbarlandes wird. Bangladesch hat bereits gesagt, dass es all diese Menschen, die aus dem NRC ausgeschlossen wurden, nicht akzeptiert. Was geschieht also mit den zwei Millionen Menschen? Man kann sie nicht alle in Internierungslager stecken!"
Indische Regierung baut Internierungslager
Tatsächlich hat die Regierung bereits mehrere Internierungslager eingerichtet und weitere werden gerade gebaut. Überwachen lassen sich die humanitären Verhältnisse dort kaum. Beobachtern und Journalisten wird die Einreise nach Assam extrem erschwert. Niemand, der das neue Staatsbürgerschaftsgesetz befürwortet, will mit Journalisten darüber reden. Trotz vieler Versuche. Erstmals in der Geschichte Indiens dient also Religion als Kriterium, um festzulegen, wer Inder werden darf. Wäre das Coronavirus nicht aufgetaucht, wäre die Eskalation bereits im vollen Gang. Doch Krisen verschwinden nicht einfach, nur weil keiner mehr hinschaut.
"Was sich bereits abzeichnet, ist, dass durch diese Gesetze ein Misstrauen entstanden ist. Die religiöse Feindseligkeit hat zugenommen und die ohnehin bestehenden Spannungen sind weiter gewachsen. Das könnte langfristig die Gesellschaft spalten und uns alle zu Anklägern machen."