Andrea Edenharter ist Professorin für Staats-, Verwaltungs-, Europa-, und Religionsverfassungsrecht und Rechtsvergleichung. Sie studierte Rechtswissenschaft an der Universität Regensburg, wo sie 2013 promoviert wurde und sich 2017 habilitierte. 2019 wurde sie als Professorin für Verwaltungsrecht, insb. Wirtschaftsverwaltungsrecht sowie Allgemeine Staatslehre an die Fernuniversität Hagen berufen.
"Es darf in der Coronakrise keine Denk- und Redeverbote geben"
29:29 Minuten
Ob die Coronamaßnahmen gelockert werden dürfen, wird heiß diskutiert. Richtig so, sagt die Juristin Andrea Edenharter. Denn würde eine gesellschaftliche Debatte darüber verhindert, wäre das "obrigkeitsstaatliches Verhalten".
Die von der Politik verhängten Maßnahmen zur Bekämpfung der Pandemie seien zwar wichtig und richtig, sagt die Staatsrechtlerin Andrea Edenharter. Trotzdem müsse darauf geachtet werden, dass sie sowohl verfassungsgemäß als auch verhältnismäßig seien und dass sowohl die "Mündigkeit der Bürgerinnen und Bürger respektiert" werde als auch deren Freiheitsrechte gewahrt blieben.
Wichtig sei aus Sicht der Staatsrechtlerin zudem, dass die Parlamente sowohl im Bund als auch auf Länderebene beim Umgang mit der derzeitigen Krise voll einbezogen würden und funktionstüchtig blieben. Auch müssten "die Stärken des Föderalismus" genutzt werden, um auch so Gewaltenteilung zu garantieren.
Rolle der Opposition in der Krise wichtig und schwierig
Auch wenn naturgemäß in Krisenzeiten die öffentliche Aufmerksamkeit auf dem Regierungshandeln liege, sei politische Opposition notwendig, um eine "konstruktive Diskussion" und einen "Ideenaustausch" zur Bewältigung der Krise zu leisten und eine möglichst breite gesellschaftliche Debatte anzustoßen. Dies sei wichtig, um die nötige Transparenz der Maßnahmen im Umgang mit der Krise zu ermöglichen. Die Rolle der AfD betrachtet Edenharte als "destruktiv".
Ausnahmslose Gottesdienst-Verbote zu rigoros
Gottesdienste, auch im Hinblick auf Ostern, komplett und "ohne Wenn und Aber" zu verbieten, sei ein Eingriff in die Religionsfreiheit, der in dieser "Rigorosität" nicht zu rechtfertigen sei. Man müsse man auch bedenken, dass gerade in Krisenzeiten Religion für viele Menschen ein Halt sei.
Das Interview im Wortlaut:
Deutschlandfunk Kultur: In der gegenwärtigen Krise, Frau Edenharter, sind ganz grundlegende Freiheiten außer Kraft gesetzt: persönliche Freiheit, Berufsfreiheit, Versammlungsfreiheit, Religionsfreiheit. Haben Sie begründete Zweifel, dass es richtig ist, in einer Pandemie – zumindest zeitlich befristet und parlamentarisch legitimiert – Grundrechte aller einzuschränken, um das Leben vieler zu schützen?
Edenharter: Die jetzigen Maßnahmen, die die Politik zur Eindämmung des Coronavirus getroffen hat, sind wichtig und auch richtig. Zu Beginn der Krise gab es vor allem Zweifel an der Rechtsgrundlage für die Ausgangs- und Kontaktbeschränkungen. Da war vieles unklar. Der Bundestag hat da inzwischen mit der Einführung von § 28 Abs. 1, Absatz 1, zweiter Halbsatz im Infektionsschutzgesetz nachgebessert. Diese Vorschrift ist grundsätzlich eine taugliche Rechtsgrundlage für die getroffenen Maßnahmen.
Was ich mir noch gewünscht hätte, wäre eine zeitliche Befristung dieser Vorschrift gewesen, sodass die Exekutive das zwar verlängern kann, aber dass die jeweilige Beschränkung eben nur für 14 Tage angeordnet werden kann. Und im Falle mehrfacher Verlängerungen hätte aus meiner Sicht das Parlament beteiligt werden müssen. Da hätte das Gesetz selber einen Mechanismus vorsehen können.
Deutschlandfunk Kultur: Das heißt also, dass die Politik an den von Ihnen genannten Bereichen so nachgebessert hat, dass Ihre Kritik, die Sie im Verfassungsblog im Internet geäußert haben, dass die Maßnahmen nicht durch das Infektionsschutzgesetz gedeckt sind, so nicht mehr besteht.
Edenharter: Richtig. Es gab vorher eine andere Rechtslage. Das Infektionsschutzgesetz hatte vorher gar nichts zu Ausgangs- und Kontaktbeschränkungen gesagt. Jetzt hat der Gesetzgeber an dieser Stelle nachgebessert. Hier hat man jetzt zumindest eine Rechtsgrundlage für diese Art von Maßnahmen.
Das, was ich weiter kritisiert habe, sind keine juristischen Spitzfindigkeiten, sondern das dient dazu, um auch das Vertrauen der Bürger in den Rechtsstaat zu stärken, damit man eine taugliche Rechtsgrundlage hat und es vor allem transparent ist, wie lange und wie oft von wem etwas verlängert werden kann. Aber ja, in der Zwischenzeit hat der Gesetzgeber, Bundestag und Bundesrat, nachgebessert. An dieser Stelle hat sich die Kritik insoweit erledigt.
Deutschlandfunk Kultur: Es liegen Klagen vor gegen Gottesdienstverbote in mehreren Bundesländern. – Hätten die Aussicht auf Erfolg? Das bezieht sich auf die Religionsfreiheit.
Edenharter: Ja, es gab ja schon erste Entscheidungen dazu. Ohne dass ich mich hier an dieser Stelle den Traditionalisten anschließen möchte, die entsprechende Anträge eingereicht hatten, die Religionsfreiheit ist durch die Maßnahmen im Moment sehr stark eingeschränkt. Dies gilt insbesondere im Hinblick auf Ostern, aber auch im Hinblick auf das jetzt stattfindende Pessach-Fest. Religiöse Feiern sind im Moment nicht möglich.
Aus meiner Sicht wären bei entsprechenden Vorkehrungen durchaus religiöse Feiern möglich - allerdings nicht wie üblich, sondern ich könnte mir so was vorstellen wie vergangenen Sonntag der Papst in Rom gefeiert hatte: einen Gottesdienst mit nur ganz wenigen Gläubigen, stellvertretend für die Gemeinde – natürlich mit Einhaltung des Mindestabstands usw. Aber dass zumindest einzelne Gläubige an den Gottesdiensten, an den religiösen Feiern teilnehmen können, das ist ja auch Ausdruck des theologischen Verständnisses, zumindest der Katholischen Kirche, wo ich als Katholikin dazu sagen kann, dass die Gemeinde dafür essenziell ist bei dem Gottesdienst.
Komplettes Gottesdienstverbot nicht zu rechtfertigen
Deutschlandfunk Kultur: Das heißt also, dass der Teil Ihrer Kritik, nochmal bezugnehmend auf das, was Sie im Verfassungsblog geschrieben haben, wo Sie davon reden, dass solche Einschränkungen, zum Beispiel der Versammlungsfreiheit letztendlich eine faktische Entmündigung der Bevölkerung sind und dass in die Freiheitsrechte der Bürger – eben auch religiöse Freiheitsrechte – trotz der Krise nicht in verfassungswidriger Weise eingegriffen werden darf. Das besteht durchaus weiterhin als Kritik?
Edenharter: Ja, die Maßnahmen sind notwendig. Also, wir können auf keinen Fall Gottesdienst feiern. Wir können auf keinen Fall im Moment so in den Synagogen beten, wie wir das gewohnt sind. Das ist völlig klar. Da kann auch im Moment kein vernünftiger Mensch daran zweifeln.
Aber ich frage mich doch, ob man nicht in verhältnismäßiger Art und Weise es schaffen könnte, trotzdem irgendeine Form von Gottesdienst – gerade jetzt zu diesen Hochfesten – zuzulassen und gleichzeitig den Infektionsschutz sicherzustellen. Das komplette Verbot jeglicher religiöser Feiern, da muss man auch bedenken, dass gerade jetzt in so einer Krisenzeit für immer noch viele Menschen Religion ja ein Halt ist, auch ein Zufluchtsort. Wenn man das jetzt komplett ohne Wenn und Aber verbietet, dann ist das ein Eingriff, der in dieser Rigorosität meines Erachtens nicht zu rechtfertigen ist. Man kann an alternative Lösungen – bis hin zu Freiluftgottesdiensten – denken, jetzt im Sommer, mit ganz wenigen Leuten und Mindestabstand. Ich denke, das wäre auch nicht gefährlicher als Joggen im Park am Sonntagnachmittag.
Deutschlandfunk Kultur: Wir kommen aber aus dem grundsätzlichen Dilemma, Frau Edenharter, wahrscheinlich nicht heraus, dass wir immer justieren müssen in der Abwägung: Was ist wichtiger - Schutz oder Freiheit? Und der Schutz der Menschen ist bei jeder Form von Zusammenkommen mehrerer Menschen geringer, als wenn man sich nicht zusammentut. Aber gleichzeitig engt es in einem erheblichen Maße die Freiheit ein, zusammen zu joggen, zu beten.
Edenharter: Das ist das Grunddilemma, in dem wir im Moment stecken. Das heißt, es ist natürlich oberste Priorität, Schutz der Gesundheit der Bevölkerung, auch Aufrechterhaltung des Gesundheitssystems. Aber andererseits muss natürlich auch darauf geachtet werden, was von den Freiheitsrechten, von den übrigen Freiheitsrechten zumindest so viel noch übrig bleibt, wie im Moment vertretbar ist in dieser Krise.
Pflicht zu Handy-Überwachung verfassungsrechtliches Problem
Deutschlandfunk Kultur: Bundesgesundheitsminister Spahn ist zunächst erst einmal gescheitert mit seinem Vorhaben, das Handytracking im neuen Infektionsschutzgesetz zu verankern – also die digitale Erfassung von persönlichen Netzwerken, um dann im Krankheitsfall Kontaktpersonen schnell auszumachen und zu benachrichtigen. Gibt es aus Ihrer Sicht gewichtige Gründe, die dagegen sprechen, auch digitale Methoden einzusetzen, wenn es gilt, Menschenleben zu retten?
Edenharter: Da muss man, denke ich, unterscheiden. Bei dem Vorschlag von Gesundheitsminister Spahn hat es sich um ein verpflichtendes Handy-Tracking gehandelt. Das heißt, um eine Rechtsgrundlage für die Abfrage von Funkzelldaten. Das wäre hier verpflichtend für alle gewesen. Aus meiner Sicht wäre das verfassungsrechtlich sehr bedenklich gewesen, weil man mit dieser Art von Mechanismus genaue Bewegungsprofile von allen Handynutzern hätte angeben können. Das hätte aus meiner Sicht in unverhältnismäßiger Weise in das Recht auf informationelle Selbstbestimmung eingegriffen.
Deutschlandfunk Kultur: Auch wenn es nur für eine gewisse Zeit, also diese Krisenzeit, gelten würde oder gegolten hätte?
Edenharter: Ja, denn das heißt, man hätte über sämtlicher Handynutzer in Deutschland Bewegungsprofile erstellen können. Hier hätten die Betroffenen ja gar nicht eingewilligt. Das ist eine andere Situation als bei der Nutzung von Google, Facebook etc. Hier willigt man zumindest am Anfang ein, auch wenn in der Praxis natürlich die Überwachung im Ergebnis die gleiche ist. Aber trotzdem wäre aus meiner Sicht eine verpflichtende Überwachung unverhältnismäßig gewesen, weil das Recht auf informationelle Selbstbestimmung hier in unverhältnismäßiger Weise eingeschränkt worden wäre.
Danach gibt’s aber jetzt Vorschläge für ein freiwilliges Handy-Tracking mit Hilfe freiwilliger Apps, so wie es jetzt vorgeschlagen wird. Das würde ich persönlich etwas anders und differenzierter bewerten. Die jetzt ins Spiel gebrachte Blue-Tooth-Technologie würde mit dem Infektionsradius noch am ehesten korrelieren. Aber man muss bedenken, dass es Unwägbarkeiten gibt – insbesondere im Hinblick darauf, dass die Technik den Abstand zu den Infizierten misst, aber in der Praxis es oft auch nicht auf den Abstand unbedingt ankommt, wenn zum Beispiel eine Wand oder eine Mauer dazwischen ist.
Deutschlandfunk Kultur: Worauf es aber vielleicht ankommt, um da mal reinzugrätschen, Frau Edenharter, ist doch letztendlich auch, welche Art von Staat solche Maßnahmen durchführen möchte. Es geht ja hier nicht um Totalüberwachung à la China, sondern, wenn es überhaupt Vorbilder gibt, dann geht es ja um so ein Konzept wie Singapur es beispielsweise hat, wo durchaus die Daten geschützt werden, wo die Daten anonymisiert sind, wo die Speicherzeit von vornherein eine kurze ist.
Edenharter: Aber da würde ich persönlich auf Freiwilligkeit setzen. Das ist eben genau das, was dieses Bluetooth-System eben gewährleisten kann. Hier werden die Zahlencodes nur zwischen den einzelnen Handys ausgetauscht, nicht zentral gespeichert. Es ist natürlich immer noch ein Datenschutzproblem, da eine Anonymität gerade nicht stattfindet. Das heißt, man hat auch hier noch ein gewisses Restrisiko und wenn man so etwas macht, müsste man natürlich auf den Datenschutz achten, aber unmöglich ist es an der Stelle nicht.
Das heißt, ein auf Freiwilligkeit basierendes System mit entsprechenden Vorkehrungen, dass Datenschutz sichergestellt ist, dass es technisch möglichst gut funktioniert, das ist durchaus zu erwägen. Aber es muss eben freiwillig sein. Wirklich freiwillig. Da meine ich auch, dass es nicht von Seiten der Politik dann heißt: "Diejenigen, die sich nicht beteiligen, sind daran schuld, wenn sich alle anderen infizieren." Also, es darf kein Druck ausgeübt werden.
Deutschlandfunk Kultur: Also, so etwas wie beispielsweise Standortbestimmung gehört ja längst zum digitalen Alltag. Das ist dann ja auch von den Nutzern bestimmter Anwendungen immer – in Anführungsstrichen – "freiwillig". Wir wissen über die Zusammenhänge von NSA Ausspioniertem, von Facebook, dass Daten missbraucht werden. Dann halten Sie es mit dem Whistleblower Edward Snowden, der davor warnt, dass solche Mechanismen auch zur Überwachung an irgendeinem Punkt nicht nur gebraucht, sondern missbraucht werden können.
Edenharter: Ja, natürlich. Man muss immer genau drauf achten: An wen gelangen die Daten? Und wenn man so ein System etabliert, muss man sicherstellen, dass die Daten nicht in fremde Hänge gelangen. Und man muss sicherstellen, dass sie so weit wie möglich anonymisiert sind – also nicht bloß eine Pseudo-Anonymisierung stattfindet, sondern dass tatsächlich ein Personenbezug in der Realität nicht mehr hergestellt werden kann, mit dem Hintergrund, dass man auch keine Bewegungsprofile erstellt.
Datenschutz ist ein Grundrecht
Deutschlandfunk Kultur: Datenschutz ist ja noch kein Grundrecht. Zeigt diese ganze Diskussion auch, dass es das vielleicht sein sollte? Dass Datensouveränität eben kein Luxus ist, den wir uns mal leisten und mal nicht, wenn es grad nicht passt?
Edenharter: Natürlich ist Datenschutz ein Grundrecht, sowohl nach deutschen Grundrechten als auch nach der Europäischen Grundrechte-Charta. Im Grundgesetz steht nicht ausdrücklich Grundrecht auf Datenschutz drin, aber das Bundesverfassungsgericht hat im Volkszählungsurteil in den 1980er-Jahren das Recht auf informationelle Selbstbestimmung kreiert. Genau dieses Grundrecht schützt vor einer Weitergabe von Daten, von denen man das selber nicht möchte.
Das heißt, die grundrechtlichen Absicherungen sind da. Da gibt’s auch inzwischen ausdifferenzierte Rechtsprechung dazu. Ich sehe da keine Defizite. In so einer Krise werden Maßnahmen beschlossen, und im Nachgang muss man natürlich immer genau hinschauen, ob das jetzt noch grundrechtlich vereinbar ist oder eben nicht. Aber grundsätzlich wäre der Grundrechtsschutz an dieser Stelle da.
Deutschlandfunk Kultur: Der Politologe und Philosoph Reinhard Mehring warnte Ende März in der Frankfurter Rundschau davor, dass wir uns auf dem Weg in eine "Expertokratie" bewegen in Deutschland. Ist es nicht eigentlich begrüßenswert, dass die Politik eben nicht Politik aus dem Bauch heraus macht oder gar im Interesse des eigenen Machterhalts, sondern sich auf Experten stützt?
Edenharter: Natürlich muss sich die Politik beraten lassen. Sie muss Informationen einholen. Das ist völlig klar. Aber es darf eben nicht dazu führen, dass nur noch eine bestimmte Gruppe an Experten mitspricht – in diesem Fall die Virologinnen und Virologen. Sondern es müssen auch andere Stimmen gehört werden, etwa aus den Wirtschaftswissenschaften, der Soziologie, der Ethik, der Psychologie usw. usf.
Maßnahmen gegen Corona nicht ohne Parlamente
Deutschlandfunk Kultur: Aber das passiert doch auch. Beispielsweise, wenn man sich die Zusammensetzung der Expertenkommission in Nordrhein-Westfalen anschaut, die Ministerpräsident Laschet dort zusammengestellt hat, dann ist da ein Ex-Verfassungsrichter drin. Dann ist da ein Soziologe drin. Da ist natürlich ein Virologe drin, aber auch eine Ethikerin, eine Sozialexpertin, ein Philosoph. Das kommt doch dem, was Sie fordern, eigentlich sehr entgegen.
Edenharter: Richtig. Aber das passiert jetzt erst so langsam. Zu Anfang hatte man den Eindruck, es geht hier um rein naturwissenschaftliche Diskurse. Es geht nur darum, wie sich das Virus ausbreiten könnte, die verschiedenen Modelle und so weiter, und nicht um die gesellschaftlichen Folgen, die die Maßnahmen auch haben können.
Das heißt, es ist völlig richtig, wenn man jetzt die Expertinnen und Experten aus den anderen Bereichen einbezieht. Aber für mich ist noch was ganz anderes wichtig: Es darf nicht dazu kommen, dass sich plötzlich die Regierung nur von Expertinnen und Experten beraten lässt und dass das Parlament völlig außen vor bleibt, also, dass Bundestag, Bundesrat, aber auch die Landesparlamente völlig außen vor bleiben. Das wäre mir als Verfassungsrechtlerin noch wichtig, dass insbesondere hier die Parlamente gestärkt sind, dass auch eine Diskussion innerhalb der Parlamente stattfindet – und genau diese fehlen – dass nicht alles nur über die Presse, in den Medien diskutiert wird, sondern dass wir von dem Sachverstand, der auch in den Parlamenten sitzt, noch viel mehr Gebrauch machen, als es bisher passiert ist.
Deutschlandfunk Kultur: Fürchten Sie denn das, was der Rechtswissenschaftler Hans-Michael Heinig sieht, nämlich dass wir uns in Richtung eines "faschistoid-hysterischen Hygienestaats" bewegen?
Edenharter: Das ist ein Zitat, das in den letzten Wochen sehr, sehr häufig wiedergegeben wurde. Im Moment befürchte ich das noch nicht. So weit sind wir ganz sicher noch nicht in Deutschland.
Deutschlandfunk Kultur: Aber Sie sagen "noch nicht".
Edenharter: Wir sind im Moment nicht so weit, aber wir müssen auch daran arbeiten, dass es nicht so weit kommt. Es wäre schon möglich. Im Moment sehe ich da Deutschland aber auf einem sehr guten Weg, dass uns das gelingt. Demokratie und Rechtsstaatlichkeit müssen auch in Krise-Zeiten gewahrt werden, so richtig und wichtig die aktuellen Maßnahmen in der Sache auch sind. Also, nur rechte Gruppen mit ihren Verschwörungstheorien können anderes über die Maßnahmen behaupten.
Aber trotzdem müssen wir darauf achten, dass die Freiheitsrechte geachtet bleiben, dass die Parlamente, die Regierungen im Bund und in den Ländern in Deutschland funktionieren. Auch die Stärken des Föderalismus müssen genutzt werden, die ebenfalls eine Gewaltenteilung ermöglichen. Und es muss auch die Mündigkeit der Bürgerinnen und Bürger respektiert werden. Das heißt, die Regierungen dürfen der Bevölkerung nicht einfach drohen, "wenn ihr das und das nicht macht, werden die Maßnahmen über Ostern noch verschärft" oder so. Oder: "Darüber darf jetzt nicht gesprochen werden", also, das heißt, über mögliche Strategien für eine langsame Lockerung der Ausgangsbeschränkungen und der sonstigen Maßnahmen. Also, so was halte ich für falsch.
Keine Denkverbote, keine Redeverbote
Es muss ein wirklicher Diskurs möglich sein. Es muss ein gesamtgesellschaftlicher Diskurs möglich sein. Und es darf keine Denkverbote und auch keine Redeverbote geben, denn so was wäre obrigkeitsstaatliches Verhalten.
Deutschlandfunk Kultur: Der Göttinger Soziologe Berthold Vogel spricht davon, dass Gesellschaften in Krisensituationen "staatsbedürftig" sind - also, Vater Staat ist gefragt, ein starker Staat, der schnell und effektiv handeln und schützen soll. Die Bürger scheinen sich nicht nur Autorität, sondern möglicherweise auch Autoritäres in so einer Situation zu wünschen. Sehen Sie da Gefahren?
Edenharter: Natürlich muss man immer darauf hinschauen, was jetzt wer fordert. Wir müssen hier in Deutschland auch bei uns alles tun, dass wir weiterhin mündige Bürgerinnen und Bürger haben, dass wir offene Diskussionen haben über die Maßnahmen, dass gestritten wird und dass nicht nur einzelne ausschließlich bestimmen, was gemacht wird, und dass das dann widerspruchslos zu dulden ist.
Aber Sie spielen jetzt auf die Stunde der Autokraten an, so wie wir das gegenwärtig in Ungarn und Polen erleben. Das, denke ich, ist nur auf den ersten Blick so, dass die Krise jetzt die Stunde der Autokraten sei. In Ungarn hat Präsident Orban die Krise dazu genutzt, um das Parlament zu entmachten, um am Parlament vorbei regieren zu können und zudem jegliche Kritik an der Regierung unter Strafe zu stellen. In Polen sollen Präsidentschaftswahlen jetzt als reine Briefwahl stattfinden. Aber in diesen Ländern herrschten bereits vor Corona sehr starke autokratische Tendenzen.
Deutschlandfunk Kultur: Aber Sie können natürlich hinter der Maßgabe, dass sie das tun, was ja in anderen europäischen Staaten auch getan wird, nämlich die Bürger schützen. Das passiert überall, und dafür werden eben Freiheitsrechte eingeschränkt – vor diesem aktuellen Hintergrund können sie das weitertreiben, vielleicht weniger behindert, was ihnen sonst nicht so leicht möglich gewesen wäre.
Edenharter: Ja, natürlich. Also, hier hat die Coronakrise noch einen willkommenen Anlass geliefert, um die Macht der Regierungen in diesen Ländern auszubauen. Hier hat jeder, die Regierung sowohl in Polen als auch insbesondere in Ungarn, die Krise zum Anlass genommen, um die eigenen Kompetenzen noch viel weiter auszubauen und auch um den Widerspruch, der noch aus dem Parlament gekommen wäre, hier abzuwürgen.
Autokraten in Corona-Krise ohne Lösungskompetenz
Deutschlandfunk Kultur: Und vor allen Dingen im Vergleich zu anderen Maßnahmen in anderen EU-Ländern eben nicht zeitlich begrenzt.
Edenharter: Nein, das auf keinen Fall. Es ist zwar in Ungarn pseudomäßig begrenzt. Das heißt, es wird gesagt, dass das Parlament seine Kompetenzen jederzeit wieder zurückholen könne. Aber das ist in der Sache nicht realistisch.
Was ich sagen wollte: Ist das jetzt eine Stunde der Autokraten? Ganz sicher nein! Der Kampf dieser Systeme, also autokratischer Systeme, gegen das Virus kann sicher nicht effizienter sein als in einer Demokratie mit offenen gesellschaftlichen Diskussionen - schon allein deswegen nicht, weil Lösungsvorschläge und Ideen ja nicht ausgetauscht werden können. Es wird von vornherein von der Regierung alles Abweichende abgewürgt und ein Wettbewerb der Ideen kann sich hier gar nicht durchsetzen.
Stattdessen bauen diese Art von Autokraten, die es im Übrigen nicht nur in Ungarn und Polen gibt, auf simplifizierende populistische Pseuderklärungen. Und sie suchen nach Sündenböcken.
Aber diese Strategie wird auf lange Sicht scheitern, weil man auch in diesen Regierungen in Zeiten der Krise nicht über überlegenes Wissen verfügt. Man hat keine Lösungskompetenzen. Das wird deswegen nachweislich schlichtweg scheitern.
Deutschlandfunk Kultur: Nochmal zurück nach Deutschland: Ich denke, man kann schon sagen, dass wir hier eine stabile liberale Demokratie haben, die man aber – darüber sprachen wir ja schon – trotzdem schützen muss, auch und gerade in Krisenzeiten. Augenblicklich ist es so, dass Opposition in Deutschland faktisch ausfällt. Das kann man gut finden, weil man sagt, "wir ziehen jetzt alle gemeinsam an einem Strang und verfangen uns nicht in irgendwelchen politischen Rivalitäten. Jetzt muss getan werden, was getan werden muss." Das kann man so sehen. Oder man könnte natürlich auch sagen: "Bräuchten wir nicht gerade in dieser Lage mehr denn je eine wirklich kritische Opposition?"
Edenharter: Oppositionsarbeit ist in diesen Zeiten naturgemäß schwierig, weil die Regierungen die öffentliche Aufmerksamkeit auf sich ziehen, weil die Regierungen die Maßnahmen ergreifen. Aber trotzdem ist die Opposition jetzt gefordert, wenn es um eine konstruktive Diskussion im Bundestag, in den Landtagen geht, wenn es um Ideenaustausch geht zur Bewältigung der Krise - das heißt, um die Sammlung von möglichst vielen Ideen und Ansätzen.
Es geht ja gerade nicht darum, die Handlungsfähigkeit der Regierungen zu torpedieren, wie das die AfD mit ihren Manövern und Verschwörungstheorien gerade mal wieder tut, sondern es geht darum, eine möglichst breite gesellschaftliche Debatte anzustoßen, damit einerseits die nötige Transparenz hergestellt wird, andererseits aber auch die Akzeptanz der Bevölkerung für die Maßnahmen erhalten bleibt. Dieses ist nur mit einer Opposition möglich, die ihrerseits konstruktiv ihren Beitrag leistet, die aber andererseits auch mal den Finger in die Wunde legt, wenn eine Maßnahme der Regierung im Einzelfall unverhältnismäßig ist.
Deutschlandfunk Kultur: Das gibt die AfD vor zu tun. Sie ist die größte Oppositionspartei im Deutschen Bundestag. Auf ihrer Webpage im Internet zitiert die AfD Ihre Argumente, Frau Edenharter, um damit zu unterstreichen, dass aus Sicht der Partei Teile der coronabedingten Einschränkungen von Bürgerrechten verfassungswidrig sind oder waren. Wir haben schon darüber diskutiert, dass es inzwischen Anpassungen gegeben hat.
Man könnte doch sagen, die Partei nimmt ihre Rolle als Opposition ernst, nämlich zu gucken, ob das, was die Regierung tut, verfassungsmäßiges Handeln ist.
Edenharter: Ja, das tut sie nämlich gerade nicht, weil sie die Zitate, die sie genommen hat, aus dem Zusammenhang gerissen hat. Natürlich habe ich betont, dass an einigen Stellen bestimmte Einzelmaßnahmen unverhältnismäßig sein können. Aber ich habe drei Zeilen weiter in dem zitierten Interview auch gesagt, dass sich Krisenbekämpfung und verhältnismäßiges Handeln ja nicht ausschließen. Das heißt, die AfD fährt hier auch in dieser Situation wieder ihren Kurs, die Bemühungen der Regierung zu torpedieren und insbesondere auch Dinge aus dem Zusammenhang zu reißen – nicht konstruktiv zu argumentieren, sondern gerade ihre institutionelle Verfassungswidrigkeit unter Beweis zu stellen. Sie hat das im Übrigen ja auch in Sachsen getan, wo es ihr gerade nicht darum ging, die Gesundheit zu schützen. Sondern da haben sie den Landtag noch zusammenkommen lassen, obwohl die Infektionsgefahr schon hinlänglich bekannt war.
AfD in der Krise wieder nur destruktive Opposition
Deutschlandfunk Kultur: Aber richtig ist ja, was die AfD schreibt, dass sie gesagt haben, dass per Gesetz klare Grundlagen für die Maßnahmen im Kampf gegen das Corona-Virus geschaffen hätten werden müssen, vielleicht schon früher, und dass sie auch gesagt haben, dass das Infektionsschutzgesetz vor seiner Anpassung ihnen die Kompetenzen, die die Behörden dann für sich in Anspruch genommen haben, nicht gegeben hat.
Edenharter: Ja, natürlich. Aber die AfD hat das auch nicht weiter durchdacht, sondern sie haben auch nicht darauf Rücksicht genommen, dass man in so einer so aktuellen Krise möglicherweise gar keine Rechtsgrundlagen haben kann, weil das bisher einfach nicht auf dem Radar war. Das ist aus meiner Sicht normal, dass erstmal die ideale Rechtsgrundlage für die eine oder andere Maßnahme nicht besteht. Das muss natürlich kritisiert werden. Das ist auch legitim. Und der Bundestag, Bundesrat hat auch seine Handlungsfähigkeit demonstriert und hat an dieser Stelle nachgebessert. Das ist ein demokratisches Handeln auch von Seiten des Parlaments.
In diesem Prozess hat sich die AfD auch wieder mehr als destruktiv verhalten, indem sie den Maßnahmen – zumindest zu weiten Teilen – gerade nicht zugestimmt hat.
Deutschlandfunk Kultur: Sie haben vorhin davon gesprochen, dass es legitim, ja notwendig ist, dass man über Exit-Strategien nachdenkt. Österreich macht sich jetzt auf den Weg, indem sie einerseits kleinere Geschäfte wieder öffnen wollen, also da Lockerungen der Beschränkung einführen wollen, auf der anderen Seite aber eine weitreichende Schutzmaskenpflicht verordnen. Könnte das aus Ihrer Sicht auch für uns ein Weg sein, der von der Verfassung gedeckt wäre?
Edenharter: Da kann ich relativ wenig dazu sagen. Das wäre auf jeden Fall eine Entscheidung, die wir auf sehr unsicherer Tatsachengrundlage treffen müssten. Über Sinn und Unsinn von Schutzmasken sind sich die Virologinnen, Virologen selber bislang auch nicht einig. Das heißt, man müsste hier noch viel mehr auch nach wissenschaftlichen Erkenntnissen suchen, ob das tatsächlich schützt oder nicht.
Aber jetzt mal unterstellt, man käme zum Ergebnis, "jawohl, diese Masken schützen, und wenn jeder diese Maske in der Öffentlichkeit trägt, dann wird die Ausbreitung zumindest verlangsamt" - dann sähe ich aus verfassungsrechtlichen Gründen kein Problem, das zu tun.
Schutzmaskenpflicht verhältnismäßig – wenn für alle erhältlich
Natürlich ist es auch wieder ein Eingriff in Freiheitsgrundrechte, aber ich denke, der ist verhältnismäßig, zumal – was dann aber auch sichergestellt werden müsste – wenn der Staat dafür sorgt, dass die Bürgerinnen und Bürger auch an die notwendigen Masken kommen und die Leute nicht darauf angewiesen sind, dass sie sich irgendwie behelfsmäßig Schals um den Mund wickeln müssen. Da muss tatsächlich auch dafür gesorgt werden, dass man wirksame Masken hat. Das müssen nicht die Masken sein, die in den Kliniken verwendet werden, aber das, was eben nach virologischer Ansicht hier sinnvoll ist, wenn man das auf der Straße trägt. Da müsste der Staat aber dafür sorgen, dass das tatsächlich zugänglich ist.
Deutschlandfunk Kultur: Ganz kurz zum Schluss noch: Sie sind Professorin an der Fernuni Hagen. Für Sie und Ihre Arbeit ändert sich im Moment nicht viel?
Edenharter: Für uns ändert sich durchaus etwas. Natürlich arbeiten wir sehr viel mit Fernlehre, aber trotzdem schreiben unsere Studierenden auch Präsenzklausuren am Ende des Semesters. Da sind wir jetzt genau in der Phase, dass wir Präsenzklausuren natürlich absagen mussten. Und wir stellen jetzt E-Klausuren. Das heißt, das ist jetzt ein ganz anderes Format. Das ist auch von der Technik abhängig. Man musste auch hier schnell reagieren. Wie ist das technisch zu lösen? Aber da hat unsere Technikabteilung sehr gute Arbeit geleistet, so dass jetzt hier diese Prüfungskampagne im Wege von E-Klausuren und E-Prüfungen gut stattfinden kann.
Im Sommersemester müssen wir verstärkter noch natürlich auf Online-Lehre setzen. Möglicherweise werden wir Seminare, die wir bisher als Präsenzseminare veranstaltet haben, zu Online-Seminaren machen. Aber grundsätzlich sind wir da sehr gut aufgestellt. Ich habe schon Anfragen bekommen von Kolleginnen und Kollegen von Präsenz-Unis mit der Frage: "Wie macht ihr das mit eurer Fern-Lehre? Was habt ihr da für Systeme? Was wäre vielleicht auch für uns ein gangbarer Weg?"