Stadt der Verlockungen

Von Julio Segador |
Rio de Janeiro vereinigt Widersprüche auch in den Klischees: schöne Frauen, Caipirinhas, Samba und Karneval koexistieren einträchtig mit Favelas, Drogen und Bandenkriminalität. Seit einigen Jahren herrscht in der wunderschönen Stadt Aufbruchstimmung, denn Rio ist Austragungsort der Fußball-WM 2014 und Gastgeber der Olympischen Spiele 2016.
Gott schuf die Welt in sechs Tagen, am siebten Tag erschuf er Rio de Janeiro, sagen die Cariocas, die Einwohner der Metropole. Für sie ist Rio die Stadt der tausend Verlockungen, die Stadt im Herzen Brasiliens, die Stadt der Wiege des Samba und der schönen Lieder, kurz die "Cidade maravilhosa", die wundervolle Stadt - so jedenfalls heißt sie in der Hymne Rios.

Eine Hymne, die die Cariocas, die Einwohner Rios, jedes Jahr beim Karneval voller Inbrunst schmettern. Sie sind stolz auf ihre Stadt:

Hymne Rios

Rio ist schön, Rio ist spektakulär. Eine pulsierende Metropole gespickt mit berühmten Stränden, mit weltbekannten Sehenswürdigkeiten, ein Schmelztiegel der Völker und Kulturen. Und es gibt sogar einen Menschen, der jeden Morgen – ganz für sich allein - einen eigenen ungetrübten Blick auf Rio hat.

Die Ruhe vor dem Sturm an der Corcovado-Bahn, der Zahnradbahn, die zur Christusstatue hochfährt. Die Popcorn-Bude liegt verwaist im Morgenlicht, der Ticketschalter ist menschenleer. Nur Wilson steht vor der roten Zahnradbahn, die jeden Tag Heerscharen von Touristen zur Christusstatue, dem Wahrzeichen von Rio de Janeiro befördert. Seit sechs Jahren arbeitet er auf dem Berg Corcovado und darf jeden Morgen als erster hinauf.

Wilson: " Klar, das ist schön. Denn man kommt oben an und ist der erste. Ich habe das Privileg allein mit Christus sein. Das ist estupendo, wie die Spanier sagen. Wunderbar."

Corcovado, das bedeutet "der Bucklige", was auf diesen Hügel durchaus zutrifft. Wie ein Buckel erhebt sich der Hügel und wer dort hinauffährt, dem liegt die Stadt zu Füßen, der hat ohne Zweifel den besten und schönsten Blick auf Rio de Janeiro. 710 Meter ist der Corcovado, auf dem die Christusstatue thront, hoch, bereits 1884 fuhr die erste Bahn zum Gipfel der Versuchung, wie der Hügel von den Entdeckern genannt wurde.

Es ruckelt und poltert und geht durch einen dichten grünen Urwald, durch den Tijuca Nationalpark, ein Überbleibsel Regenwald in Rio de Janeiro. Dann hält der Zug. Wilson marschiert voran, über Stufen und Treppen geht es, bis man plötzlich vor ihm steht. Cristo Redentor, Christus der Erlöser. Fast 40 Meter ist die Statue hoch, über 1000 Tonnen schwer.

Wilson: "Das ist er. Der Cristo segnet mit seinen ausgebreiteten Armen."

Der Blick von der Aussichtsplattform auf dem Corcovado ist überwältigend. Man kann weit über den Ozean sehen, der Zuckerhut zeigt sich von seiner besten Seite, unten erstrecken sich die berühmten Strände von Copacabana und Ipanema. In den Blick kommen grüne Hügel und Berge, die in der ersten Morgensonne dampfen. Rio de Janeiro, die Cidade Maravilhosa, die wundervolle Stadt. Wilson ist ergriffen.

Wilson: "Jeden Morgen mache ich ein kleines Ritual, spreche ein Gebet und danke Gott für den schönen Tag. Das ist ein guter Ort um zu meditieren. Ich glaube daran, dass man jeden Tag eine neue Sache dort unten entdecken kann, die man zuvor noch nicht gesehen hat."

Wilson schreitet über die Aussichtsplattform, zeigt auf das Maracanã-Stadion, wo in knapp 2 Jahren das Finale der Fußball-Weltmeisterschaft stattfindet soll. Und auf die große Lagune, wo 2016 bei den Olympischen Spielen die Ruderer um Medaillen kämpfen werden. Die Wolkenkratzer an der Küste wirken klein, an den Hängen wuchern die Favelas, die Armenviertel.

Wilson: "Das hier oben ist eine Sache – das da unten eine ganz andere. Die Menschen laufen hin und her. Stress, Gewalt und hier oben hat man einen Moment des Friedens. Deshalb sagen alle, die hier hochkommen, mein Gott wie schön Rio doch ist."

Wilson schüttelt seinen Schlüsselbund und zeigt seinen Schatz. Im Sockel - unter den Füßen der Christusstatue - ist eine Kapelle. Wilson schließt sie täglich auf:

Wilson: "Die Besucher kommen hier rein, beten, reflektieren. Ich habe hier schon viel gesehen. Viele Menschen, die anders rausgehen. Viele spüren hier eine sehr starke Energie. Sie schreiben etwas auf, auf irgendeinem Papierfetzen und lassen ihre schriftlichen Bitten hier. Ob Papierserviette oder Zettel, sie benutzen alles, um ihre Botschaft zurückzulassen."

Es sind unzählige Eindrücke, die man aufnimmt, wenn man in Rio de Janeiro ist. Und manchmal sind die Eindrücke so stark, dass man sich entscheidet, für immer in Rio zu leben. Jens Glüsing ist einer dieser neuen Cariocas. Der Hamburger kam Anfang der 90er Jahre als Korrespondent für das Nachrichtenmagazin "Der Spiegel" nach Rio. Er würde die Stadt gegen keine andere eintauschen. Vieles hat ihn hier heimisch werden lassen, vieles zieht ihn auch nach über 20 Jahren an.

Jens Glüsing: "Ach, das sind viele Dinge. Das ist der Dschungel in der Stadt. Das ist das Zusammenspiel von Strand, Stadt und Grün. Das sind die Frauen, die wunderschön sind, und das sind die Menschen, die total nett sind. Es ist einfach eine Stadt mit einer unschlagbaren Lebensqualität. Die alte Sambamusik, die ist sehr schön. Die ganze Gegend, die jetzt für Olympia umgebaut wird, Gamboa, Saude, Mora, Conceição, das ist sehr schön."

Die alte Sambakultur, von der Jens Glüsing spricht, prägt Rio bis heute, ebenso der Bossa nova. Dieser Musikstil steht für Leichtigkeit, für schöne Frauen, für das Wogen der Wellen, für das Lebensgefühl in Rio de Janeiro in den Fünfziger- und Anfang der Sechzigerjahre.

Rio war damals Hauptstadt Brasiliens, und die Cariocas bezeichnen die damalige Epoche noch heute als die "Anos dourados", die goldenen Jahre. Danach folgte der Niedergang der Stadt. Die Schönen, Reichen und Wichtigen zogen nach São Paulo weiter. Rio, die wundervolle Stadt, trauerte längst vergangenen Zeiten hinterher.

Inzwischen sprechen wieder sehr viele über die "Anos dourados" und die Stadt putzt sich heraus. Rio wird Gastgeber sein bedeutender sportlicher Großereignisse. Bei der Fußball-WM 2014 finden im Maracanã-Stadion wichtige Begegnungen statt. 2016 - während der Olympischen Spiele - präsentiert sich die Stadt am Zuckerhut der ganzen Welt.

Eduardo Paes ist der Manager des Ganzen. Vor wenigen Tagen wurde er mit großer Mehrheit als Bürgermeister wiedergewählt. Die Cariocas vertrauen dem 42-Jährigen mit dem Macher-Image. Der Politiker hat sich auf die Fahnen geschrieben, die Gewalt in der Stadt, vor allem in den Armenvierteln, den Favelas, in den Griff zu bekommen. Und Paes spricht den Menschen in Rio Mut zu:

"”Rio hat sehr lange nicht an seine Zukunft geglaubt. Rio hat sich über Jahre an schlechte Dinge gewöhnt. Und es war grenzwertig zu sehen, dass es Bereiche in unserer Stadt gab, wo der Staat und die öffentliche Gewalt nicht präsent waren und keine Autorität besaßen.”"

Paes will bis zur Fußball-Weltmeisterschaft 2014 eine ganze Reihe von Infrastruktur-Programmen vorantreiben und abschließen. Vor allem den Umbau der Hafenregion zu einem modernen Freizeit- und Geschäftsviertel. Zudem soll die Infrastruktur für die WM und Olympia schnellstmöglich fertig gestellt werden - dazu zählen die Autobahn- und die Metroanbindung der Region der Barra da Tijuca, wo das olympische Dorf stehen wird. Paes ist zuversichtlich, dass der Zeitplan eingehalten wird.

Paes: "Ich kann ganz ruhig sagen, dass wir voll im Zeitplan für Olympia liegen. Der Olympiapark wird zu mehr als der Hälfte mit privaten Geldern gebaut, in London hat man das alles mit öffentlichen Geldern gebaut. Hier haben wir Privatgelder. Es läuft also alles sehr gut mit Olympia, die großen Straßentrassen sind im Bau, ich bin da wirklich ganz ruhig.”"

Es wird eine anstrengende und turbulente zweite Amtszeit des Bürgermeisters von Rio. Spätestens aber wenn er zusammen mit dem Präsidenten des Internationalen Olympischen Komitees im August 2016 die Olympischen Spiele in der Cidade Maravilhosa eröffnet, dürfte er für den Stress und die Anstrengungen entschädigt werden.
Es gibt viele Orte, die den Besuchern in Rio gefallen werden. Die Stadt fesselt einen, sie beeindruckt, sie macht aber auch betroffen.

Denn der üppigen Vegetation und den vielen Sehenswürdigkeiten stehen die Favelas, die Armenviertel gegenüber, die ein anderes Gesicht der Stadt zeigen. Sie sind die traurige, dunkle Seite der "Cidade Maravilhosa", in der fast ein Fünftel der Bevölkerung lebt. Armut, Drogenkrieg und Bandenkriminalität prägen seit Jahren den Alltag in diesen Labyrinthen, die sich an den Hügeln nach oben schlängeln. Doch das Image der Favelas wandelt sich: Denn die Polizei hat damit begonnen, die Favelas zu "befrieden", die vormaligen No-Go-Areas sind sicherer geworden. Das wird inzwischen auch touristisch genutzt.

Agenturen bieten geführte Streifzüge durch die Viertel und ihre Geschichte an. Rios Armenviertel - einst mordsgefährlich, sind heute zum Teil eine Touristenattraktion.

Leo: ""Heute lernen wir das andere Gesicht Rios kennen. Rund ein Fünftel der Bevölkerung lebt in Favelas, informellen Elendsvierteln, wie hier in Rocinha, sie ist die größte Favela Brasiliens mit schätzungsweise 70.000 Bewohnern."

Leo ist der Guide der Stadtführung Favela Tour. In seinem weißen Van fährt er mehrere Touristen durch Serpentinen bergaufwärts. Links und rechts der Hauptstraße von Rocinha ein Labyrinth aus ineinander verschachtelten, ärmlichen Behausungen und engen, zwielichten Gassen. Zwei Kölner klettern etwas skeptisch aus dem Wagen.

Touristin: "Wir haben ein bisschen hin und her überlegt, weil so eine Art von Elendstourismus eigentlich nicht unser Ding ist."

Nachdem klar ist, dass ein Teil der Kosten für die Tour von umgerechnet 30 Euro in ein Sozialprojekt münden, machte das Kölner Pärchen dann doch mit.

Drei Stunden lang geht es durch die Favela. Hintergründe zur aktuellen Sozialpolitik gehören genauso dazu wie Alltag und Geschichte von Rocinha. Die Touristen sind angespannt, schließlich galt das Armenviertel jahrelang als No-Go-Area. Leo führt die Leute in eine Sackgasse - einst das Zentrum des Drogenhandels von Rio.

Leo: "24 Stunden am Tag konnte man hier alles kaufen. Die Drogengangs kontrollierten den Zugang und verteidigten ihr Territorium gegen Polizei und verfeindete Gangs. Doch vor ein paar Monaten besetzte die Polizei die Favela und eroberte die Kontrolle von den Drogengangs zurück."

Seit gut zwei Jahren werden in und um Rio Favelas befriedet. Das ist Teil des Sicherheitskonzeptes von Rio de Janeiro, das Bürgermeister Eduardo Paes mit harter Hand durchsetzt. Mit Blick auf Fußball-WM und Olympische Spiele wurden bisher gut 20 der über 900 Favelas von Rio unter Kontrolle gebracht. Flankierend investiert die Stadt in Sozialprojekte in den Favelas.

Leo: "Rund 100 Millionen US-Dollar wurden hier in Rocinha investiert, für Favelas, die nicht so nah an touristisch attraktiven Gegenden liegen, gibt es nun kein Geld mehr - und auch hier wurden noch längst nicht alle Versprechen auf den Weg gebracht, auch der Drogenhandel hat natürlich nicht aufgehört, sich nur verlagert. Aber es ist das erste Mal, dass wirklich etwas für Favelas getan wird, das Resultat werden wir wahrscheinlich erst in 20 oder 40 Jahren sehen."

Ortswechsel zur Nachbar-Favela Vidigal. Motorradtaxis fahren die Bewohner über die engen und steilen Gassen. Am höchsten Punkt des Hügels, hat man eine herrliche Aussicht auf Rio, das Zentrum liegt nur 20 Minuten entfernt, trotzdem ist von Lärm und Hektik der Großstadt nichts zu spüren.

Andreas, ein Aussteiger aus Österreich, hat hier vor drei Jahren ein Haus erworben - für 20.000 Reais, umgerechnet 8.000 Euro. Damals hatten noch die Drogengangs in den Favelas das Sagen.

Andreas: "Die Drogengangs waren halt schon Teil vom System hier, das war auch zum Großteil kein Problem, die haben halt für Ordnung gesorgt ... es gibt immer Leute, die sagen, mit der Drogengang war alles besser, ja, ich meine die verkaufen hier ihre Häuser schon für 300.000 Reais jetzt, da oben da baut der Helió Pellegrino, das ist ein berühmter Architekt, der baut ein 5-Sterne Hotel hier her, schauen wir mal wie das weiter geht."

Andreas hat aus seinem Haus ein kleines Hotel gemacht. Vidigal Guest House, nennt er die Unterkunft, das Geschäft floriert. Der Ruf von Rios Favelas hat sich gewandelt und zieht immer mehr Menschen an. Bewohner, Unternehmer, Spekulanten, Touristen und Neugierige. Nicht allen gefällt das. Manche, so wie Irene, eine Schmuckhändlerin aus Rocinha, sehen das mit gemischten Gefühlen. Sie hofft, dass auch sie teilhaben kann am Boom in der wundervollen Stadt.

Irene: "Ich mag die Touristen, sie kaufen ja auch was. Aber in letzter Zeit kommen immer mehr, die Preise für alles steigen. Ich sage ja nicht, dass früher alles besser war, aber es scheint, als seien wir in Mode gekommen, jetzt müssen wir mal gucken, wie wir auch selbst davon profitieren können."