Stadt der verschwundenen Frauen
Die Millionenstadt Ciudad Juárez gilt als Geisel rivalisierender Drogenbanden. Die täglichen Mordmeldungen verdrängen ein Phänomen, das ebenfalls seit Jahren beunruhigt: Die sogenannten Femicides, die gezielten Morde an Frauen.
"Sie werden wegen ihrer Organe umgebracht. Es sind Prostituierte. Sie haben etwas mit dem Drogenhandel zu tun. Es sind Opfer des Menschenhandels. Ihre Freunde sind Verrückte, Drogendealer, die, wenn sie einen erfolgreichen Tag haben Partys feiern und Frauen opfern. Sie sind Teil einer Sekte. Es gibt unglaubliche Theorien."
"Juárez und die meisten Grenzstädte waren immer Städte der Erholung und Ablenkung für die Menschen aus den USA. Man ging einfach rüber und trank und genoss Frauen und machte all das, was man in den Vereinigten Staaten nicht tun durfte. Die Grenzstädte hatten schon immer den Ruf, dass man dort das Illegale, das Unerlaubte machen kann, all das, was Zuhause unmöglich ist. Aber dort war es ja jenseits der Grenze und man kam mit allem davon. Das führte zu dem Gefühl, Frauen sind leicht ersetzbar. Niemand untersuchte die Fälle, nie wurde ein Täter gefunden. Ich habe bislang noch keine Familie getroffen, der Gerechtigkeit wiederfuhr. Das ist meiner Ansicht nach unerhört, schrecklich, es ist eine Anklage gegen das mexikanische System."
Die Avenida Benito Juárez, die einstige Prachtstraße von Ciudad Juárez gleich hinter der Santa Fe Bridge, über die der Besucher vom amerikanischen El Paso aus kommt.
Die Stadt wirkt heruntergekommen, die Avenida Benito Juárez ist nicht einmal mehr ein Schatten aus vergangenen Tagen. Wenig erinnert daran, dass hier einmal gefeiert und gelebt wurde, gelacht und getanzt. Viele Läden sind geschlossen, Scheiben eingeschlagen, Türen mit Brettern vernagelt. Fenster und Türen sind vernagelt. Die Bars, Restaurants, Geschäfte, Straßenhändler und Musikanten, die in der Vergangenheit Gäste anlockten, wirken heute ausgestorben, auch wenn immer noch laute Musik aus Häusern dringt. Ausländer, die des bunten Nachlebens aus den USA nach Ciudad Juarez kamen, sind auf den Straßen nicht mehr zu sehen. Und doch: Wie ein Schlachtfeld, auf dem es offene Schießereien gibt, wie eine Stadt, in der gleich einem Wildwestfilm hinter jeder Ecke ein Bandit wartet, wirkt die Stadt nicht.
"Auch wenn das Verbrechen nicht mehr so generell gegen Frauen geht wie vor etlichen Jahren, sterben doch noch immer Frauen. Wir hatten gerade erst den Fall einer Frau, die gemeinsam mit ihrem Kind umgebracht wurde, mit einem ihrer Kinder von vier, fünf Jahren, Das heißt, das weibliche Geschlecht ist weiterhin im Blick der Kriminellen. Wir wissen nicht genau, ob einige dieser Personen mit dem organisierten Verbrechen in Verbindung stehen. Aber im Allgemeinen ist es so in Ciudad Juárez, dass von den Bandenkriegen immer ganze Familien betroffen sind, auch Frauen. Das können Ehefrauen sein, Töchter, das können sogar die Mütter sein, die auf die eine oder andere Art in den Drogenhandel oder eine andere Aktivität verwickelt sind."
Früher wurde immerhin in Ciudad Juárez der ermordeten Frauen gedacht. Noch vor einem Jahr stand dort direkt an der Brücke auf einer Verkehrsinsel ein mannshohes Kreuz, das an sie erinnerte. Dutzende faustgroßer Nägel symbolisierten die Toten.
Heute ist das Kreuz verschwunden. Auch die Laternenmasten und Telefonzellen, die vernagelten Restaurants und Bars wurden von den Erinnerungen an die verschwundenen Frauen befreit: den Postern mit Bilder der Vermissten, den Kurzinformationen und Kontaktmöglichkeiten zu Angehörigen und der Polizei. Selbst die rosa Kreuze an den Orten der Massengräber in der Stadt sind nicht mehr da. Als hätte es die Frauenmorde in Juárez nie gegeben.
In einem etwas heruntergekommenen Stadtviertel liegt das Gebäude der Casa Amiga, einer Hilfsorganisation, deren Gebäude durch seine frisch weinrote und gelbe Farbe auffällt. Alles ganz neu, gepflegt. Ordentlich angelegt. Doch auch hier Gitter vor den Fenstern und eine Kamera am Eingang.
"Casa Amiga gibt es seit 1999 und wurde von unserer ersten Direktorin gegründet, als sie begann, die Fälle der ermordeten und verschwundenen Frauen zu dokumentieren. Und während der Arbeit an dieser Dokumentation kamen die Leute zu ihr und sagten: 'Schön, aber was passiert mit den Frauen, die überleben, die aus einer gewalttätigen Situation herauskommen? Niemand unterstützt sie.' Daraufhin gründete sie Casa Amiga. Als erste und wichtigste Aufgabe sehen wir noch immer unsere Arbeit rund um das Thema Gewalt."
Casa Amiga arbeitet wie ein deutsches Frauenhaus, sagt die Direktorin, doch das in einem Umfeld ständiger Gewalt. Irma Cassa ist eine junge Frau Ende 30, Mutter und lebensfroh. An jedem Tag kämpft sie hier in der Casa Amiga einen Kampf, den sie nicht gewinnen kann. Vor ihr auf dem Schreibtisch liegt ein dicker Ordner mit Bildern verschwundener Frauen:
"Was jetzt passiert, haben wir in Ciudad Juárez noch nicht erlebt. Es ist eine unglaublich starke Krise. Eine Krise, in der jeder und jede um sein Leben fürchten muss. Das heißt, die Zahl der ermordeten Männer und Frauen ist sehr, sehr hoch. Allein zwischen Januar und März dieses Jahres sind schon mehr als 50 Frauen umgebracht worden – und bei den Fällen der häuslichen Gewalt hat sich die Intensität der Gewalt verändert. Sie sind jetzt viel brutaler."
Irma Casa blättert in einem Aktenorder. Vermisste Frauen aus dem Jahr 2009. Ein Bild nach dem anderen. Was Irma Casa vor allem entsetzt, ist, wie sich die Kinder verändern, die mit dieser täglichen Gewalt aufwachsen müssen:
"Dadurch wird ihnen gezeigt, dass Konflikte durch Gewalt gelöst werden können. Das können wir kaum wieder gutmachen, diesen Eindruck, dass alles nur noch durch Waffen entschieden wird. Unsere Organisation arbeitet an Schulen. Aber dort sagen uns die Kinder, sie wollen Auftragskiller werden, sie wollen Drogen verkaufen, sie wollen Schutzgeld erpressen. Sie wollen nicht mehr Arzt oder Krankenschwester werden oder so etwas. Wenn wir hier Trauerarbeit machen, geht es den Kindern vor allem um Rache. Sie sagen 'Wenn ich groß bin, bring ich die um, die meinen Papa oder meine Mama umgebracht haben.' Was mir bei den meisten Exekutionsmorden aufgefallen ist: die Kinder sind sehr nah dran. Sie stehen dabei, sind im Auto, sehen es durch ein Fenster."
Irma Casa zeigte in dem Ordner auf ihrem Schreibtisch auf das Bild einer jungen Frau, die vor zwei Jahren spurlos verschwand. Ihre Familie sucht sie bis heute.
Ein kleines Eckhaus in einer ruhigen Wohngegend. Der Vater der verschwundenen jungen Frau tritt in den sandigen Vorgarten und öffnet das Gittertor. Im Wohnzimmer wartet seine Frau. Beide sind um die 50. An den Wänden hängen Bilder von ihren Kindern, dem Sohn und der verschwundene Tochter Monica, die vor über zwei Jahren von einer Vorlesung an der Universität nie zurückkam:
"Wir gingen gleich zur Staatsanwaltschaft. Mein Mann und ich. Nach 48 Stunden erstellten sie dann ein Suchprotokoll. Sie sollten dann suchen, aber sie tun es bis heute nicht. Sie legen uns nur Steine in den Weg. Wir haben in der Stadt Poster aufgehängt, damit die Leute es wissen und, sobald jemand sie sieht, uns Bescheid geben. Wir sind immer wieder zur Behörde gegangen und haben nachgefragt, ob jemand sie gesehen hat. Ohne Erfolg.
Die meisten hier haben Angst und wollen nicht zur Polizei gehen. Sie fürchten, dass sie festgehalten werden, wenn sie Anzeige erstatten. Wir haben auch nie gesehen, dass die Polizei etwas von sich aus gemacht hätte. Sie hat nie in Bars oder an anderen Orten nachgefragt. Sie haben es einfach nicht gemacht. Nein. Wir haben am Anfang selbst in den Krankenhäusern, sogar im Gefängnis gesucht. Nicht mal das hat die Polizei von sich aus gemacht. Tatsächlich suchen sie nach keinem einzigen Mädchen."
Die Mordrate ist in Ciudad Juárez extrem gestiegen. Nach Angaben der Politik-Professorin Kathleen Staudt hat sie sich in den letzten Jahren verzehnfacht, von knapp 300 Morden 2008 auf 3.100 Morde im vergangenen Jahr.
Die Femicides, die gezielten Morde an Frauen, werden bei diesem Leichenberg kaum noch beachtet. Lokalpolitiker, Ermittlungsbehörden und ein Teil der Medien geben den Opfern immer selbst Schuld an ihrem Schicksal, beschreiben sie als Prostituierte oder als Drogenkuriere. Professorin Moira Murphy widerspricht dem energisch:
"Die Frauen, die umgebracht wurden sind Opfer. Sie haben nichts Falsches gemacht. Es ist kein Ursache-Folge Ding. Man kann vielleicht sagen, dass man gefährlich lebt, wenn man in einer Gang ist oder Drogen verkauft. Aber seit wann ist der Weg zur Arbeit ein gefährlicher Job? Seit wann ist das Nachhausegehen nach der Arbeit zu einem gefährlichen Job geworden? Seit wann ist der Schulbesuch zu einem gefährlichen Job geworden? Ich finde, diese Fragen müssen gestellt werden, sie müssen beantwortet werden und es müssen Konsequenzen gezogen werden."
Ein Schulhof in Ciudad Juárez. Leon Portillo und Atenas Campbell mischen Farben in großen Eimern. Beide sind Mitglieder des Künstlerkollektivs "Jellyfish”. Gemeinsam mit Kindern bemalen sie Wände, geben ihnen eine Möglichkeit, wenigstens das Gelände hier farbenfroh zu gestalten. Denn auf den Straßen der Stadt können die Kinder von Ciudad Juárez nicht mehr spielen.
"Jellyfish" schafft Freiräume, verwickelt Kinder und Jugendlichen in Gespräche, in denen sie von Schießereien und Morden in der Nachbarschaft berichten. Davon, wie Gangs die Straßen beherrschen. Die Mitglieder von "Jellyfish” wollen Kindern Mut machen, ihnen vermitteln, dass das Leben nicht nur aus Mord, Totschlag, Vergewaltigung und Kidnapping besteht.
Atenas Campbell ist eine junge zierliche Frau. In ihren High Heels bewegt sie sich so selbstverständlich, als wenn sie Turnschuhe tragen würde. Damit passt sie genau in das Bild der Frauenopfer in der Stadt:
"Wir gehen kaum noch aus, Lionel und ich. Jetzt auch, weil wir viel Arbeit haben, das ist das Gute. Aber es macht uns Angst, in Bars oder auf Feste zu gehen, wenn dort nicht gute Bekannte sind, weil du nie weißt, wer die Menschen sind, die dort unterwegs sind. Es gab viele, viele Fälle, wo Fremde kamen und 20 Gäste auf einem Fest umgebracht haben. Selbst, wenn Kinder darunter waren. So wie in Villas de Salvarcar, wo sie um die 25 Jugendliche umbrachten, alle minderjährig.
Wir haben bestimmt schon drei Mal Schüsse in der Nähe unseres Hauses gehört. Ich hab auch schon gesehen, wie Menschen exekutiert wurden, so einfach am Straßenrand. Also du gehst vorbei und du siehst es. Es ist traurig, das zu sagen: Aber in gewisser Hinsicht wird es fast schon ein bisschen normal. Auch die Patrouillen, die mit ihren gezogenen Waffen. Wenn du die sieht, weißt du: Da ist was passiert."
Seit vergangenem Herbst ist Hector Murguia Bürgermeister der Stadt. Kein Unbekannter in Ciudad Juárez. Bereits von 2004 bis 2007 war er Chef im Rathaus, ein umstrittener Mann. Nach seinem Ausscheiden wurden mehrere hohe Beamte wegen Drogenschmuggels und Korruption verhaftet. Im Gespräch gibt sich Hector Murguia heute weltoffen und herzlich:
"Es gibt viele Missverständnisse an vielen Orten der Welt. Den Drogenkrieg gibt es nicht nur in Juárez. Er ist überall auf der Welt. Er ist in Mexico City, in Denver, Colorado, in Ohio, in New York, in jeder Ecke der Welt."
Auch Morde gebe es überall, sagt der Bürgermeister. Und wie sieht es mit der Lage von Frauen in der Stadt aus?
"Darum wird viel Lärm gemacht. Die Lage der Frauen ist überall auf der Welt die gleiche. In Juárez gibt es im Verhältnis zur Einwohnerzahl keine höhere Todesrate von Frauen als in Mexico City. Wir müssen uns keine Sorgen machen. Wenn es einen Ort auf der Welt gibt, der viele Jobs für Frauen geschaffen hat, dann Ciudad Juárez. Wir können uns getrost als Hauptstadt neuer Jobs in den letzten 40 Jahren sehen."
Auch wenn heute der frühere Charme von Ciudad Juárez nicht mehr zu erkennen ist – immer noch leben dort Leute, die trotz allem die Stadt lieben, selbst wenn sie besonders gefährdet sind.
"Sogar meine Eltern haben mir geraten zu gehen, wenn ich das Examen habe. Ostern vor einem Jahr waren wir in Los Muchinella. Dort haben sie noch kein Militär auf den Straßen und das Verbrechen ist weniger organisiert und all das.
Ja, ich hab dran gedacht, zu gehen. Aber man muss auch etwas tun für den Ort, in dem man lebt und das ist Juárez. Hier bin ich geboren und aufgewachsen, hier sind die Leute, die ich liebe. Da ist es schwierig zu sagen: 'Ach ich geh jetzt und lass die Leute zurück.' All die Menschen, die zurückbleiben mit all den Problemen. Das heißt, du musst etwas für die Leute tun, die du liebst – und für die Stadt."
"Juárez und die meisten Grenzstädte waren immer Städte der Erholung und Ablenkung für die Menschen aus den USA. Man ging einfach rüber und trank und genoss Frauen und machte all das, was man in den Vereinigten Staaten nicht tun durfte. Die Grenzstädte hatten schon immer den Ruf, dass man dort das Illegale, das Unerlaubte machen kann, all das, was Zuhause unmöglich ist. Aber dort war es ja jenseits der Grenze und man kam mit allem davon. Das führte zu dem Gefühl, Frauen sind leicht ersetzbar. Niemand untersuchte die Fälle, nie wurde ein Täter gefunden. Ich habe bislang noch keine Familie getroffen, der Gerechtigkeit wiederfuhr. Das ist meiner Ansicht nach unerhört, schrecklich, es ist eine Anklage gegen das mexikanische System."
Die Avenida Benito Juárez, die einstige Prachtstraße von Ciudad Juárez gleich hinter der Santa Fe Bridge, über die der Besucher vom amerikanischen El Paso aus kommt.
Die Stadt wirkt heruntergekommen, die Avenida Benito Juárez ist nicht einmal mehr ein Schatten aus vergangenen Tagen. Wenig erinnert daran, dass hier einmal gefeiert und gelebt wurde, gelacht und getanzt. Viele Läden sind geschlossen, Scheiben eingeschlagen, Türen mit Brettern vernagelt. Fenster und Türen sind vernagelt. Die Bars, Restaurants, Geschäfte, Straßenhändler und Musikanten, die in der Vergangenheit Gäste anlockten, wirken heute ausgestorben, auch wenn immer noch laute Musik aus Häusern dringt. Ausländer, die des bunten Nachlebens aus den USA nach Ciudad Juarez kamen, sind auf den Straßen nicht mehr zu sehen. Und doch: Wie ein Schlachtfeld, auf dem es offene Schießereien gibt, wie eine Stadt, in der gleich einem Wildwestfilm hinter jeder Ecke ein Bandit wartet, wirkt die Stadt nicht.
"Auch wenn das Verbrechen nicht mehr so generell gegen Frauen geht wie vor etlichen Jahren, sterben doch noch immer Frauen. Wir hatten gerade erst den Fall einer Frau, die gemeinsam mit ihrem Kind umgebracht wurde, mit einem ihrer Kinder von vier, fünf Jahren, Das heißt, das weibliche Geschlecht ist weiterhin im Blick der Kriminellen. Wir wissen nicht genau, ob einige dieser Personen mit dem organisierten Verbrechen in Verbindung stehen. Aber im Allgemeinen ist es so in Ciudad Juárez, dass von den Bandenkriegen immer ganze Familien betroffen sind, auch Frauen. Das können Ehefrauen sein, Töchter, das können sogar die Mütter sein, die auf die eine oder andere Art in den Drogenhandel oder eine andere Aktivität verwickelt sind."
Früher wurde immerhin in Ciudad Juárez der ermordeten Frauen gedacht. Noch vor einem Jahr stand dort direkt an der Brücke auf einer Verkehrsinsel ein mannshohes Kreuz, das an sie erinnerte. Dutzende faustgroßer Nägel symbolisierten die Toten.
Heute ist das Kreuz verschwunden. Auch die Laternenmasten und Telefonzellen, die vernagelten Restaurants und Bars wurden von den Erinnerungen an die verschwundenen Frauen befreit: den Postern mit Bilder der Vermissten, den Kurzinformationen und Kontaktmöglichkeiten zu Angehörigen und der Polizei. Selbst die rosa Kreuze an den Orten der Massengräber in der Stadt sind nicht mehr da. Als hätte es die Frauenmorde in Juárez nie gegeben.
In einem etwas heruntergekommenen Stadtviertel liegt das Gebäude der Casa Amiga, einer Hilfsorganisation, deren Gebäude durch seine frisch weinrote und gelbe Farbe auffällt. Alles ganz neu, gepflegt. Ordentlich angelegt. Doch auch hier Gitter vor den Fenstern und eine Kamera am Eingang.
"Casa Amiga gibt es seit 1999 und wurde von unserer ersten Direktorin gegründet, als sie begann, die Fälle der ermordeten und verschwundenen Frauen zu dokumentieren. Und während der Arbeit an dieser Dokumentation kamen die Leute zu ihr und sagten: 'Schön, aber was passiert mit den Frauen, die überleben, die aus einer gewalttätigen Situation herauskommen? Niemand unterstützt sie.' Daraufhin gründete sie Casa Amiga. Als erste und wichtigste Aufgabe sehen wir noch immer unsere Arbeit rund um das Thema Gewalt."
Casa Amiga arbeitet wie ein deutsches Frauenhaus, sagt die Direktorin, doch das in einem Umfeld ständiger Gewalt. Irma Cassa ist eine junge Frau Ende 30, Mutter und lebensfroh. An jedem Tag kämpft sie hier in der Casa Amiga einen Kampf, den sie nicht gewinnen kann. Vor ihr auf dem Schreibtisch liegt ein dicker Ordner mit Bildern verschwundener Frauen:
"Was jetzt passiert, haben wir in Ciudad Juárez noch nicht erlebt. Es ist eine unglaublich starke Krise. Eine Krise, in der jeder und jede um sein Leben fürchten muss. Das heißt, die Zahl der ermordeten Männer und Frauen ist sehr, sehr hoch. Allein zwischen Januar und März dieses Jahres sind schon mehr als 50 Frauen umgebracht worden – und bei den Fällen der häuslichen Gewalt hat sich die Intensität der Gewalt verändert. Sie sind jetzt viel brutaler."
Irma Casa blättert in einem Aktenorder. Vermisste Frauen aus dem Jahr 2009. Ein Bild nach dem anderen. Was Irma Casa vor allem entsetzt, ist, wie sich die Kinder verändern, die mit dieser täglichen Gewalt aufwachsen müssen:
"Dadurch wird ihnen gezeigt, dass Konflikte durch Gewalt gelöst werden können. Das können wir kaum wieder gutmachen, diesen Eindruck, dass alles nur noch durch Waffen entschieden wird. Unsere Organisation arbeitet an Schulen. Aber dort sagen uns die Kinder, sie wollen Auftragskiller werden, sie wollen Drogen verkaufen, sie wollen Schutzgeld erpressen. Sie wollen nicht mehr Arzt oder Krankenschwester werden oder so etwas. Wenn wir hier Trauerarbeit machen, geht es den Kindern vor allem um Rache. Sie sagen 'Wenn ich groß bin, bring ich die um, die meinen Papa oder meine Mama umgebracht haben.' Was mir bei den meisten Exekutionsmorden aufgefallen ist: die Kinder sind sehr nah dran. Sie stehen dabei, sind im Auto, sehen es durch ein Fenster."
Irma Casa zeigte in dem Ordner auf ihrem Schreibtisch auf das Bild einer jungen Frau, die vor zwei Jahren spurlos verschwand. Ihre Familie sucht sie bis heute.
Ein kleines Eckhaus in einer ruhigen Wohngegend. Der Vater der verschwundenen jungen Frau tritt in den sandigen Vorgarten und öffnet das Gittertor. Im Wohnzimmer wartet seine Frau. Beide sind um die 50. An den Wänden hängen Bilder von ihren Kindern, dem Sohn und der verschwundene Tochter Monica, die vor über zwei Jahren von einer Vorlesung an der Universität nie zurückkam:
"Wir gingen gleich zur Staatsanwaltschaft. Mein Mann und ich. Nach 48 Stunden erstellten sie dann ein Suchprotokoll. Sie sollten dann suchen, aber sie tun es bis heute nicht. Sie legen uns nur Steine in den Weg. Wir haben in der Stadt Poster aufgehängt, damit die Leute es wissen und, sobald jemand sie sieht, uns Bescheid geben. Wir sind immer wieder zur Behörde gegangen und haben nachgefragt, ob jemand sie gesehen hat. Ohne Erfolg.
Die meisten hier haben Angst und wollen nicht zur Polizei gehen. Sie fürchten, dass sie festgehalten werden, wenn sie Anzeige erstatten. Wir haben auch nie gesehen, dass die Polizei etwas von sich aus gemacht hätte. Sie hat nie in Bars oder an anderen Orten nachgefragt. Sie haben es einfach nicht gemacht. Nein. Wir haben am Anfang selbst in den Krankenhäusern, sogar im Gefängnis gesucht. Nicht mal das hat die Polizei von sich aus gemacht. Tatsächlich suchen sie nach keinem einzigen Mädchen."
Die Mordrate ist in Ciudad Juárez extrem gestiegen. Nach Angaben der Politik-Professorin Kathleen Staudt hat sie sich in den letzten Jahren verzehnfacht, von knapp 300 Morden 2008 auf 3.100 Morde im vergangenen Jahr.
Die Femicides, die gezielten Morde an Frauen, werden bei diesem Leichenberg kaum noch beachtet. Lokalpolitiker, Ermittlungsbehörden und ein Teil der Medien geben den Opfern immer selbst Schuld an ihrem Schicksal, beschreiben sie als Prostituierte oder als Drogenkuriere. Professorin Moira Murphy widerspricht dem energisch:
"Die Frauen, die umgebracht wurden sind Opfer. Sie haben nichts Falsches gemacht. Es ist kein Ursache-Folge Ding. Man kann vielleicht sagen, dass man gefährlich lebt, wenn man in einer Gang ist oder Drogen verkauft. Aber seit wann ist der Weg zur Arbeit ein gefährlicher Job? Seit wann ist das Nachhausegehen nach der Arbeit zu einem gefährlichen Job geworden? Seit wann ist der Schulbesuch zu einem gefährlichen Job geworden? Ich finde, diese Fragen müssen gestellt werden, sie müssen beantwortet werden und es müssen Konsequenzen gezogen werden."
Ein Schulhof in Ciudad Juárez. Leon Portillo und Atenas Campbell mischen Farben in großen Eimern. Beide sind Mitglieder des Künstlerkollektivs "Jellyfish”. Gemeinsam mit Kindern bemalen sie Wände, geben ihnen eine Möglichkeit, wenigstens das Gelände hier farbenfroh zu gestalten. Denn auf den Straßen der Stadt können die Kinder von Ciudad Juárez nicht mehr spielen.
"Jellyfish" schafft Freiräume, verwickelt Kinder und Jugendlichen in Gespräche, in denen sie von Schießereien und Morden in der Nachbarschaft berichten. Davon, wie Gangs die Straßen beherrschen. Die Mitglieder von "Jellyfish” wollen Kindern Mut machen, ihnen vermitteln, dass das Leben nicht nur aus Mord, Totschlag, Vergewaltigung und Kidnapping besteht.
Atenas Campbell ist eine junge zierliche Frau. In ihren High Heels bewegt sie sich so selbstverständlich, als wenn sie Turnschuhe tragen würde. Damit passt sie genau in das Bild der Frauenopfer in der Stadt:
"Wir gehen kaum noch aus, Lionel und ich. Jetzt auch, weil wir viel Arbeit haben, das ist das Gute. Aber es macht uns Angst, in Bars oder auf Feste zu gehen, wenn dort nicht gute Bekannte sind, weil du nie weißt, wer die Menschen sind, die dort unterwegs sind. Es gab viele, viele Fälle, wo Fremde kamen und 20 Gäste auf einem Fest umgebracht haben. Selbst, wenn Kinder darunter waren. So wie in Villas de Salvarcar, wo sie um die 25 Jugendliche umbrachten, alle minderjährig.
Wir haben bestimmt schon drei Mal Schüsse in der Nähe unseres Hauses gehört. Ich hab auch schon gesehen, wie Menschen exekutiert wurden, so einfach am Straßenrand. Also du gehst vorbei und du siehst es. Es ist traurig, das zu sagen: Aber in gewisser Hinsicht wird es fast schon ein bisschen normal. Auch die Patrouillen, die mit ihren gezogenen Waffen. Wenn du die sieht, weißt du: Da ist was passiert."
Seit vergangenem Herbst ist Hector Murguia Bürgermeister der Stadt. Kein Unbekannter in Ciudad Juárez. Bereits von 2004 bis 2007 war er Chef im Rathaus, ein umstrittener Mann. Nach seinem Ausscheiden wurden mehrere hohe Beamte wegen Drogenschmuggels und Korruption verhaftet. Im Gespräch gibt sich Hector Murguia heute weltoffen und herzlich:
"Es gibt viele Missverständnisse an vielen Orten der Welt. Den Drogenkrieg gibt es nicht nur in Juárez. Er ist überall auf der Welt. Er ist in Mexico City, in Denver, Colorado, in Ohio, in New York, in jeder Ecke der Welt."
Auch Morde gebe es überall, sagt der Bürgermeister. Und wie sieht es mit der Lage von Frauen in der Stadt aus?
"Darum wird viel Lärm gemacht. Die Lage der Frauen ist überall auf der Welt die gleiche. In Juárez gibt es im Verhältnis zur Einwohnerzahl keine höhere Todesrate von Frauen als in Mexico City. Wir müssen uns keine Sorgen machen. Wenn es einen Ort auf der Welt gibt, der viele Jobs für Frauen geschaffen hat, dann Ciudad Juárez. Wir können uns getrost als Hauptstadt neuer Jobs in den letzten 40 Jahren sehen."
Auch wenn heute der frühere Charme von Ciudad Juárez nicht mehr zu erkennen ist – immer noch leben dort Leute, die trotz allem die Stadt lieben, selbst wenn sie besonders gefährdet sind.
"Sogar meine Eltern haben mir geraten zu gehen, wenn ich das Examen habe. Ostern vor einem Jahr waren wir in Los Muchinella. Dort haben sie noch kein Militär auf den Straßen und das Verbrechen ist weniger organisiert und all das.
Ja, ich hab dran gedacht, zu gehen. Aber man muss auch etwas tun für den Ort, in dem man lebt und das ist Juárez. Hier bin ich geboren und aufgewachsen, hier sind die Leute, die ich liebe. Da ist es schwierig zu sagen: 'Ach ich geh jetzt und lass die Leute zurück.' All die Menschen, die zurückbleiben mit all den Problemen. Das heißt, du musst etwas für die Leute tun, die du liebst – und für die Stadt."