Außerdem in dieser Ausgabe von Sein und Streit:
Philosophischer Kommentar zur Ampelkoalition: Kontingenz, Ökologie und Solidarität!
Für den Pragmatisten Richard Rorty war 1989 die Ironie neben Kontingenz und Solidarität der entscheidende Leitgedanke. Für die jetzt anstehende Ampelkoalition müsste man Ironie durch Ökologie ersetzen, meint Wolfram Eilenberger.
Stadt gegen Land
Frankfurt am Main aus der Ferne: Stadt und Land gelten als Pole gegensätzlicher Lebensweisen - und triggern Ausstiegs-Fantasien in der jeweils anderen Sphäre. © imago / Hannes P. Albert
Ein erfundener Konflikt?
44:44 Minuten
Der Gegensatz von Stadt und Land nährt Sehnsüchte und Konflikte. Dabei seien die Grenzen der beiden Sphären unscharf, so die Autorin Hilal Sezgin und der Historiker Clemens Zimmermann. Das Leben auf dem Land könne diverser sein als in der Stadt.
Diese Erfahrung habe sie vielleicht am meisten überrascht, sagt die Schriftstellerin und Journalistin Hilal Sezgin: Das Leben in der Stadt gelte ja als besonders divers, geprägt von Unterschiedlichkeit und Toleranz. Mit dem Landleben werde dagegen eher Homogenität verbunden und eine gewisse Skepsis gegenüber Menschen, die auf die eine oder andere Weise aus dem Rahmen fallen. Doch seitdem sie vor einigen Jahren aus Frankfurt am Main auf einen Bauernhof in der Lüneburger Heide zog, erlebe sie es geradezu umgekehrt.
Diversität auf dem Dorf
"Auf einem belebten, florierenden Dorf gibt es ja Leute mit allen möglichen Ausbildungen, Interessen, Berufen, Familienformen und Altersklassen", erzählt Sezgin. "Das war für mich wirklich sehr verblüffend, dass ich so eine Diversität hier viel mehr erlebt habe als in der Stadt." Während Menschen in der Großstadt innerhalb relativ homogener Gemeinschaften mit Angehörigen derselben Ausbildung, Altersgruppe, Lebensform und politischen Gesinnung verbunden seien, spiele die Frage, zu welcher gesellschaftlichen Gruppe man gehöre, in ihrem Umfeld kaum eine Rolle.
"Zum Beispiel werde ich hier auf meine Funktion als Muslimin oder als Frau mit türkischem Namen überhaupt nicht angesprochen", so Sezgin. Von daher empfinde ich das Zusammenleben auf dem Land auch als einen Zugewinn an persönlicher Freiheit.
"Stadtluft macht frei"
Andererseits zeige der Blick in die Sozialgeschichte, dass Städte bereits im Mittelalter gerade deshalb eine gewisse Anziehungskraft auf die Landbevölkerung besaßen, weil sie eine Chance boten, festgefügten Regeln des Zusammenlebens zu entkommen, sagt der Historiker Clemens Zimmermann. "Stadtluft macht frei", so lautete schon damals die Devise. Eingelöst habe sich dieses Versprechen für viele Menschen im Zuge von Industrialisierung und Urbanisierung im 19. Jahrhundert, so Zimmermann:
"Aus den preußischen Landgebieten ziehen dann zum Beispiel viele ins Ruhrgebiet, weil sie sich da bessere Chancen und Verdienste erhoffen. Im 19. Jahrhundert kam die Industrie, das ist ein Motor der Urbanisierung. Es ist aber auch die Hoffnung auf ein besseres Leben. Eine junge Frau geht dann beispielsweise nach Mannheim, um dort ein freieres Leben, vielleicht auch einen adäquaten Heiratspartner zu finden und der elterlichen Kontrolle zu entgehen. Also das Wandern in die Stadt ist ökonomisch bedingt aber auch Ausdruck einer Lebenshoffnung."
In jüngster Zeit wird der Gegensatz von Stadt und Land vermehrt unter politischen und kulturellen Vorzeichen diskutiert. Oft geht es dabei um den vermeintlichen Konflikt zwischen "urbanen Eliten" und sogenannten "Abgehängten": Während die einen von den Sorgen und Nöten der einfachen Landbewohner nichts verstünden, klammerten sich die anderen angeblich an erzkonservative Ideale und sträubten sich gegen jede Veränderung.
Ideologische Motive
Dass dieser Kontrast in öffentlichen Debatten so stark gemacht werde, hänge wohl auch mit gesellschaftlichen Idealen von einem guten Leben zusammen, vermutet Hilal Sezgin: "Die Charakterisierung des Dorfes als tolle Gemeinschaft oder der Stadt als diverse, brausende, pulsierende Metropole, das sind ja jeweils politisch sehr dienliche Beschreibungen, die aber gar nicht stimmen müssen." Dass es Ausgrenzung in vieler Hinsicht auch in der Stadt gebe und andererseits Zuwanderung und eine Vielfalt unterschiedlicher Lebensweisen auch auf dem Land, werde im Sinne idealisierter Lebenskonzepte ausgeblendet.
Das sei kein neues Phänomen, sagt Clemens Zimmermann. Schon im 19. Jahrhundert sei der Stadt-Land-Gegensatz aufgrund politischer Interessen "von bestimmten Gruppen betont und in die eigene Propaganda übernommen" worden. Reale Probleme seien dabei von ideologischen Motiven verdeckt worden:
"Dass man vielleicht vor den überhöhten Mieten fliehen will, erschwinglich ein Haus mit Garten haben möchte, ist in diesem Diskurs über das Landleben wenig vorgekommen." Heute mache "ein Bedürfnis zu entschleunigen" das Land für viele Städter wieder attraktiv, sagt Zimmermann. "Insofern ist es eben auch eine Flucht vor vermehrten Anforderungen an die Mobilität der Arbeitsgesellschaft."
Eine Frage der Lebensweise
Hilal Sezgin geht allerdings davon aus, dass sich damit verbundene Fragen nach der Art und Weise, wie wir künftig leben wollen, letztlich nicht an der Entscheidung zwischen Stadt und Land festmachen werden:
"Die große Frage ist: Werden wir uns in den nächsten Jahren in Frage stellen lassen von dem, was wir wissen über den Klimawandel, darüber wie schädlich eine bestimmte Konsumhaltung ist, wie schädlich auch dieses ständige Effizienzdenken für uns selber ist? Ob im Stadtleben oder auf dem Land, wenn da dieselben Hierarchien und dieselbe Lebensweise Einzug halten, wie in dem Milieu, dem man entstammt, dann hilft das ja auch niemandem. Es geht darum, sich in Frage stellen zu lassen und auch was zu ändern."
(fka)