Stadt im nationalistischen Mienenfeld

Der berühmteste Lyriker Litauens legt sein zweites Buch über Vilnius vor, Tomas Venclova begreift die Stadt als ein Palimpsest, als mehrmals überschriebene alte Handschrift. Der Autor entziffert diese Schichten Kapitel für Kapitel an Hand der Biographien ihrer Herrscher, Architekten, Professoren und Henker. Er erzählt anregend, dennoch wirkt das Buch über weite Strecken lediglich wie ein gut lesbares historisches Werk.
Tomas Venclova, Litauens berühmtester Lyriker, wird seit Jahren als Kandidat für den Literaturnobelpreis gehandelt - und er ist vielleicht der einzige Poet, der je einen Reiseführer über eine Stadt geschrieben hat. Venclova, 1937 in Klaipeda, dem früheren Memel, geboren, musste Vilnius 1977 auf Druck der sowjetischen Behörden verlassen. Er war unliebsam aufgefallen als Mitglied einer Helsinki-Gruppe, die es im Anschluss an die Konferenz über Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (KSZE) wagte, Menschenrechtsverletzungen im eigenen Land öffentlich zu machen.

In den folgenden Jahren unterrichtete Venclova in den USA auf Einladung des polnischen Lyrikerkollegen Czeslaw Milosz an der Universität. Vilnius ist sein vor vier Jahren erschienener Reiseführer gewidmet, und um die Stadt geht es auch in seinem neuen Buch "Vilnius".

Bereits der erste Satz enthält das Grundmotiv des Buches: "Der Raum, in dem meine Stadt sich angesiedelt hat, hat keine klaren Grenzen." Vilnius liegt am Rande Europas, hier überlagern sich Völker, Sprachen, Kulturen, Religionen und später Nationen. Venclova begreift die Stadt als ein Palimpsest, als mehrmals überschriebene alte Handschrift, und entziffert diese Schichten Kapitel für Kapitel an Hand der Biographien ihrer Herrscher, Architekten, Professoren und Henker.

Da sind die mythischen Herrscher des Landes, Mindaugas, Gediminas und Vytautas, gefolgt von der Dynastie der Jagellonen, die eine Union mit Polen eingehen und die heidnischen Litauer als letztes Volk in Europa christianisierten. Die Renaissance ist das Goldene Zeitalter von Vilnius. Litauer, Polen, Ruthenen (aus denen sich später Weißrussen und Ukrainer entwickeln sollten), Juden und einige andere Nationalitäten leben in der Stadt. Dann verliert Vilnius in einer erneuten Union mit Polen, jene von Lublin 1569, an Bedeutung, und die polnische Sprache verdrängt die litauische.

Die polnischen Teilungen ab 1772 versetzen der polnisch-litauischen Republik Todesstöße. Immer wieder okkupieren die Zaren Vilnius. Unter ihnen ist die lateinische Schrift verboten, die litauische Sprache beinahe verschwunden. Deren Wiedergeburt und die der Nation gelingt mit Hilfe von Schriften, die aus dem preußischen Tilsit eingeschmuggelt werden. Im 20. Jahrhundert wird Vilnius abwechselnd von Deutschen, Polen und Russen besetzt. Stalin ermordet die Vertreter der Intelligenz, Hitler in den Jahren von 1941 bis 1944 95 Prozent der Juden Litauens. Nach dem Krieg folgen der Exodus der Polen und die Einwanderung der Russen, bis 1991 die Unabhängigkeit erkämpft wird.

"Baby Prague", "Klein-Rom", "Straßburg des Ostens", "Jerusalem des Nordens" - Vilnius erfreut sich vieler Vergleiche. Nicht nur seine Geschichte, auch die Architektur ist "kontrastreich und ziemlich dramatisch". Dass die Stadt mit ihrer "schier phantastischen Verschmelzung von Sprachen, nationalen Traditionen und Religionen, die politische Grenzen ignoriert", ein Palimpsest verschiedener Urheber ist, ist für viele Litauer, Polen, Weißrussen und Russen nicht akzeptabel. Sie halten Vilnius für ihre Stadt. Nur manchmal ist Venclova anzumerken, in welchem nationalistischen Minenfeld er sich bewegt. Dann erwähnt er in gemessenem Ton "konkurrierende Narrative" und vergleicht das Völkergemisch in Vilnius mit dem in Bratislava, Czernowitz, Triest oder Sarajewo.

Vilnius ist also, so heißt es im Untertitel, "Eine Stadt in Europa". Venclova erzählt anregend und verliert im Dickicht der Jahrhunderte die Personen nicht aus dem Blick, deren Handeln er mit Gespür für Spannung und Pointe schildert. Dennoch wirkt das Buch über weite Strecken lediglich wie ein gut lesbares historisches Werk. Venclova spiegelt im Schicksal von Vilnius die Historie vieler Nationen, verzichtet aber auf seine persönliche Geschichte in der geliebten Stadt fast vollständig. So bleibt ihm das Verdienst, einen hier zu Lande viel zu wenig bekannten Teil der europäischen Geschichte zu präsentieren.

Rezensiert von Jörg Plath


Tomas Venclova: Vilnius. Eine Stadt in Europa"
Aus dem Litauischen von Claudia Sinnig. Mit Fotografien von Arunas Baltėnas.
Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2006. 246 Seiten, 10 Euro