Blauer Himmel, weiße Wände
Die Grundsteinlegung der Plattenbausiedlung Halle-Neustadt am 13. Juli 1964 war der Beginn einer ambitionierten Bauoffensive in der DDR. Mit Satellitenstädten sollte die Wohnungsfrage gelöst werden. Doch es kam ganz anders.
"Wir wohnten ja erst in Halle drinne. Und hier nun mit Fernheizung, schönes Bad. Wir hatten ja damals eine Gastherme − heute zwar nicht mehr − war schon ein riesiger Unterschied mit Kachelöfen in der Stadt. So habe ich das damals miterlebt."
50 Jahre nun schon wohnt Charlotte Breitmeyer zusammen mit ihrem Mann in ein und demselben Haus. In einem der ersten Plattenbauten in Halle-Neustadt, Otto-Nagel-Straße 2. Früher hieß die Adresse nur Block 4, Haus 1; später Halle-Neustadt 412. Denn statt Straßennamen waren die Plattenbauten nach einem futuristischen Prinzip durchnummeriert. Die Arbeiter sollten sich nicht mit unnützem Wissen belasten.
Bekommen haben die Breitmeyers ihre Wohnung per Losglück, bei der ersten Hallenser Wohnungstombola, einem damals üblichen Verfahren.
"Das ging deshalb mit den Losen, weil verschiedene Wohnungen hier drin waren. Rechts waren welche mit Balkon, dann war die Mittelwohnung. Und die Außenwohnung war auch ohne Balkon. Die Mittelwohnung war kleiner. Deshalb haben sie diese Lose ausgegeben."
Das Glück bescherte den Breitmeyers 1964 eine 54 Quadratmeter große Zwei-Raum-Wohnung, wie man das früher nannte. Küche, Wohnzimmer, Schlafzimmer und Bad.
Vom gesichtslosen Plattenbau zum topsanierten Vierstöcker
Den rosa vergilbten Loszettel bewahren die Breitmeyers wie einen Schatz in einer Plastikhülle auf, so ob sie die alte Zeit konservieren wollten. Früher war ihr Heim ein gesichtsloser Plattenbau, heute ein crèmefarbener topsanierter Vierstöcker. In den Wohnungen gibt es nicht mehr die damals üblichen Linoleumböden, und die Wasserhähne sind auch nicht mehr aus dünnem, weißen Plastik sondern aus verchromtem Messing. Auch die Wände wurden isoliert, der Nachbar ist jetzt nicht mehr zu hören. Nur der beißende Geruch im Treppenhaus, der immer noch ein bisschen an Reichsbahn und DDR erinnert, den scheint kein Reinigungsmittel vertreiben zu können.
In den ersten Jahren gab es keine befestigten Wege, sondern nur sumpfige Trampelpfade, die durch Schlamm und Bauschutt führten. Für Charlotte Breitmeyer, damals Mitte 20 und Fan von Elvis, Beatles und Petticoats, waren deshalb Gummistiefel das wichtigste Accessoires:
"Ja, hier waren ja keine Straßen. Und wenn es regnete, was sollten wir machen, wir sackten dann ein. Das war nun mal so und dann haben wir unsere Schuhe gewechselt. Anders ging's nicht. Da an der Mauer, am Elisabeth-Krankenhaus habe ich gesessen. Und dann bin ich zur Arbeit gefahren. So war das nun mal."
Aufrecht sitzt die ausgebildete Buchbinderin Charlotte Breitmeyer auf dem geblümten Sofa. Die Augen strahlen. Vor allen Dingen, wenn sie von der guten alten Zeit zu schwärmen beginnt, als sie nur aus dem Haus stolpern musste, um mit ihrem Mann im gegenüberliegenden Bauarbeiterzentrum tanzen zu gehen.
"Ja, es war schon vergnüglich."
Mehr noch, es war ein Traum, sagt ihr Mann Heinz Breitmeyer. Und lächelt seine Frau ganz verliebt an.
"Wir sind nach Hause gekommen, sind unter die Dusche gegangen. War heißes Wasser da. Fertig. Wir waren sauber, wir konnten abends tanzen gehen."
Heinz Breitmeyer war ein begnadeter Linksaußen und spielte damals beim SC Chemie Halle, dem Vorläufer des heutigen Drittligisten HFC. Zusammen mit Größen wie Klaus Urbanczyk oder Bernd Bransch, dem späteren Kapitän der DDR-Auswahl, die bei der WM 1974 die Bundesrepublik besiegte.
"Ich habe bei Vorwärts Neubrandenburg sechs Jahre Leistungssport gemacht und bin dann nach Halle-Neustadt. Weil 1963 ist ja Chemie Halle abgestiegen aus der DDR-Oberliga. Und sollte hier als Stürmer den Verein unterstützen. Und habe Glück gehabt, dass Halle-Neustadt aufgebaut werden sollte und ich gleich eine Arbeitsstelle gekriegt habe."
... als Brigadier − heute würden wir Vorarbeiter sagen − im WBK, dem sogenannten Wohnungsbaukombinat ...
"Und in dieser Arbeitsstelle hatte ich von mittags ein Uhr Feierabend machen dürfen. Und habe trainiert, Fußball gemacht."
Die Chemiearbeiterstadt
"Liebe Bauschaffende von Halle-West, liebe Gäste, Freunde und Genossen. Unweit der Giganten, unserer chemischen Großbetriebe Leuna und Buna, vollziehen wir heute gemeinsam einen bedeutsamen Akt. Die Grundsteinlegung für den vom Ministerrat der Deutschen Demokratischen Republik beschlossenen ersten Bauabschnitt der Chemiearbeiterstadt Halle-West ..."
Der Name sollte dann doch schnell in Halle-Neustadt geändert werden, denn Halle-West kam bei den Genossen nicht sonderlich gut an. Zumal die Grundsteinlegung dieser ersten deutschen Plattenbaustadt am 13. Juli 1964 den historischen Beginn einer ambitionierten Wohnungsbauoffensive darstellte. Satellitenstädte nach dem Vorbild Halle-Neustadt sollten in der DDR die Wohnungsfrage lösen − spätestens bis 1990. Und so wurde ohne Rücksicht auf Verluste aus dem verträumten Passendorf bei Halle eine Plattenbaustadt.
Platte statt Passendorf
"... manche sagen uns, ihr habt es recht eilig mit dem Abriss der alten Häuser. Wir haben ihnen geantwortet, ja das stimmt. Wir haben es wirklich eilig. Weil wir großzügige Baufreiheit für die Erbauer von Halle-West brauchen, die nach der Grundsteinlegung auf diesem Gelände, westlich der Saale, ein großes Bautempo vorlegen wollen."
Grün gab es anfangs so gut wie keins in HaNeu, wie die Bewohner ihre Stadt nannten. Kein Baum, kein Strauch ist auf den alten Schwarz-Weiß-Fotos zu finden. Stattdessen, so erzählen es alte Bewohner, wurde man im Sommer geradezu geblendet von dem weißen Beton der monolithischen Blöcke. Während im Winter der kalte Wind um die Ecken pfiff, vor dem es kein Ausweichen gab. Und der Mensch, der wirkte klein vor den gigantischen 20-Stöckern.
Damalige Berechnungen der SED-Genossen hatten ergeben, dass die Chemieindustrie im Dreieck Halle-Merseburg-Bitterfeld 25.000 Wohnungen für zirka 70.000 Menschen brauchte, erzählt Karlheinz Schlesier, Assistent des verstorbenen Chefplaners Richard Paulick. Der wiederum war der Schüler des einstigen Bauhaus-Direktors Walter Gropius, einem der Begründer des seriellen Wohnungsbaus, wie die Plattenbauweise auch bezeichnet wird. Und so wurde auch Karlheinz Schlesier, heute 80 Jahre alt, ein Verfechter dieses Baustils, der Halle-Neustadt entscheidend mitprägte.
Keine Frage der Schönheit
"Wir waren der Meinung, dass der industrielle Prozess natürlich dazu führt − das geht gar nicht anders −, dass er eine gewisse Wiederholung oder serielle Komponente hat. Manche sagen, da käme zwangsläufig Monotonie raus."
Karlheinz Schlesier schüttelt den Kopf mit dem schütteren Haar. In weißem Hemd zu weißen Leinen-Hosen sitzt der in Weimar studierte Stadtplaner in einem Café in der von Plattenbauten gesäumten Leipziger Straße in Berlin-Mitte. Mit ästhetisierenden Architektur-Debatten kann Karlheinz Schlesier nur wenig anfangen:
"Das klingt jetzt ein bisschen alltagsbezogen und wenig ambitioniert, aber Bauen ist nicht in erster Linie eine philosophische Frage."
Schönheit und Ästhetik waren mir egal, schließlich sei man kein Maler, sagt er noch.
Ein Ort für die sozialistische Kleinfamilie
Karlheinz Schlesier ging es damals um die Erfüllung der DDR-Staatsdoktrin, die mit dem Plattenbauprogramm eine sozialistische Lebenswelt, die homogene sozialistische Kleinfamilie entstehen lassen wollte. Denn anders als in der Bundesrepublik, wo in dieser Zeit auch Plattenbauviertel entstanden, war der Wohnungsbau in der DDR immer zuerst ein politisches Projekt.
"Weil es unseren Vorstellungen vom Sozialismus entspricht ..."
So Horst Sindermann, der damalige SED-Chef in Halle:
"... wenn solche Wohnverhältnisse geschaffen werden, in denen sich der Mensch wohl fühlen kann. Eine Stadt, in der zu leben für jeden glücklich zu sein heißt."
1,3 Milliarden DDR-Mark kostete die DDR die erste Bauphase in Halle-Neustadt. Das machte pro Wohnung − mit einer Durchschnittsgröße von etwa 55 Quadratmetern − einen Baupreis von gerade mal 52.000 DDR-Mark. Die Sanierung der Altstadt hätte ein Vielfaches mehr gekostet.
"Als der 6. Parteitag der Sozialistischen Einheitspartei den Beschluss fasste über den Bau der Stadt, ging es nicht nur um Platz zum Wohnen. Da sollte Raum sein für ein Leben in der Neuen Zeit."
Plump, klotzartig, geschmacklos
In den Bädern gab es gusseiserne Badewannen, die Kacheln waren mitunter aus sowjetischem Marmor, die Wohnzimmer genauestens auf die Größe von handelsüblichen Einbauwänden zugeschnitten. Eine formalistische Ästhetik, die nicht bei jedem ankam. Bereits Mitte der 1970er-Jahre hat eine von der Ostberliner Bauakademie in Auftrag gegebene Untersuchung zur Situation in Halle-Neustadt ergeben, dass viele der Bewohner die Stadt als plump, klotzartig, geschmacklos beschrieben haben. Sie sei zwar praktisch, aber nicht erholsam und schon gar nicht abwechslungsreich.
Arbeiterschließfächer bzw. Fließbandarchitektur nannte es nicht nur die westdeutsche FAZ, der frühere Klassenfeind. Auch die Menschen vor Ort. So wurde der sogenannte Block 10 in Halle-Neustadt, mit etwa 400 Metern der längste Plattenbau der DDR, als "Langes Elend" geschimpft. Es gab den Krummen Hund oder Dreckigen Löffel. Letzteres eine Kantine. Hohle Wortgefechte nennt das Halle-Neustadt-Planer Karlheinz Schlesier noch heute:
"In meinen Augen ist das ein reiner Unfug. Und ich sag mal, im Prinzip gewollte politische Böswilligkeit. Wenn jemand siegt, ist der Sieg höher, wenn der überwundene Gegner besonders schlecht war. Gucken Sie sich, wo auch immer Sie wollen, diese Dinge an. Es ist ja nicht so, dass man dort über die Dinge herfällt. Für die Architekten ist Wohnungsbau und Städtebau eine Bauaufgabe."
Die Alten bleiben, die Jungen ziehen weg
Zeitsprung. 2014. 50 Jahre nach der Grundsteinlegung. Grün statt Grau.
Wer das letzte Mal in den 1960er-Jahren in Halle-Neustadt war und jetzt wiederkehrt, wird es nicht wiedererkennen. Halle-Neustadt ist längst keine Betonwüste mehr. Keine Plattenbautristesse. Stattdessen existieren weite Freiflächen zwischen den Häusern. Wiesen, Bäume, Hügel, Weiher. Der Holunder und die Rosen blühen. Die Fassaden der Platten sind konfettibunt gestrichen, die einst so erdrückenden Hochhäuser sind individualisierte Gebäude mit isolierten Fenstern, abgedichteten Dächern. Ausgestattet mit neuen Heizungen und Bädern.
"Ist für Familien interessant, ist aber auch für Senioren interessant dort zu wohnen."
Lars Loebner, Halles Stadtbaumeister. Im Bürokratendeutsch: Leiter des Fachbereichs Planen.
"Und es hat auch eine der höchsten Zahlen der Alterung in der Bevölkerung. Liegt aber auch daran, dass die Jungen nicht nur wegziehen, sondern dass es auch attraktiv ist für diese Schicht von Menschen. Weil sie in der Nahversorgung dort alles haben, was man braucht. Ist ein Erbe der sozialistischen Aufbauphase, wo ja schon mit Stoppuhr gemessen wurde, wie lange der Weg zur Kita braucht, wie lange ist der Weg zur Kaufhalle. Das sind auch Qualitäten, die auch bleiben."
Dennoch: Halle-Neustadt ist im 21. Jahrhundert eine schrumpfende Stadt. 45.000 Einwohner gibt es noch, von einst mal 90.000. Tendenz weiter fallend. Nur die Alten bleiben, die Jungen ziehen weg.
Halle-Neustadt braucht eine neue Vision. Besonders deutlich wird das an den Hochhäusern, die von den Einheimischen Scheiben genannt werden. Fünf 17-Geschosser, Wahrzeichen von Halle-Neustadt. Sie stehen rechtwinklig zu Neustadt-Passage. Mittlerweile sind die meisten Läden hier verwaist. Und von den Scheiben, die alle einen Buchstaben als Namen tragen, ist nur eine saniert: Die Scheibe E. Sie gehört dem Land Sachsen-Anhalt.
"So da hatten wir einige Großmieter drinne ..."
... sagt Detlef Riedel, Hausmeister hier.
"... die haben sich eigene Bürogebäude gebaut. Kleine Firmen sind jetzt noch drinne und teileweise Private und Studenten. Die aus der einen Scheibe rausgezogen sind, weil die angeblich baufällig war. Und dadurch haben wir ein bisschen hier drinne. Könnte voller sein, wenn man investieren würde ..."
Der Rest der Scheiben-Hochhäuser steht allerdings leer. Die Eigentumsverhältnisse sind verworren. Die Eingänge verrammelt. Große grüne Schutznetze hängen an den Fassaden, um Passanten vor herunterfallenden Betonteilen zu schützen. Die bröckelnden grauen Fassaden erinnern an hohle Zähne. Die aber auch ihren Reiz haben, findet der Fotograf Daniel Schweitzer. Der 1972 in Halle-Neustadt Geborene hat sich in den Kopf gesetzt, eine Scheibe zu erwerben:
"Das könnte ich mir vorstellen. Wenn man durch Halle-Neustadt läuft, viele Sachen sind toll saniert worden. Es ist gar nicht mehr zu vergleichen mit früher. Es gibt noch Leute, die denken: Halle-Neustadt niemals dahin, es ist ganz schrecklich. Es gab auch mal ein Problem mit Nazis früher. Das ist für mich lange gegessen. Aber das hängt halt bei den Leuten im Kopf fest. Und ich würde gerne einen Gegenpunkt setzen."
Kleingewerbe, Künstler, Pensionäre, Migranten sollen zusammen wirtschaften. Im Kopf hat Fotograf Schweitzer eine urbane Farm, ein Testgebiet, in dem alte Routinen gebrochen, in dem Neues begonnen wird. Raumpionier Daniel Schweitzer, Autor des Fotobandes "Heimat Neustadt", schwärmt von einem generationsübergreifenden, interkulturellen Lernort, einer großen Neustädter Neo-Hippie- Kommune, wo zusammen mit Einwanderern aus Russland, Vietnam, Irak und Syrien die eingefahrenen, betonierten und zementierten Wirtschaftskreisläufe neu gedacht und zusammengesetzt werden sollen.
Eine Vision für Halle-Neustadt
"Mein Wunsch ist, oder was ich hier so sehe ist, dass das Leben hier pulsieren könnte. Solche Bauten kann man in Brasilien genauso wie in Indien sehen. Aber oft nicht so schön gemacht. Ich habe ja lange in London gelebt, wenn man da die Platte anguckt, ist das eher sozialer Wohnungsbau gewesen, was hier gar nicht der Fall war. Hier hat der Betriebsdirektor neben dem Schlosser gewohnt, hier gab es eine soziale Durchmischung, die es nicht wieder so schnell geben wird. Aber das wäre eine Vision, wenn man hier Leute reinbringt, die was bewegen wollen. Der ganze Arbeitsrhythmus wird sich ändern, dass die Leute noch viel mehr von Zuhause arbeiten. Da muss man nicht irgendwo hinfahren, um zu arbeiten. Da wird es Veränderungen geben, die wir uns vielleicht gar nicht vorstellen können. Das kann man hier umsetzen, das wünsch ich mir."
Die Menschen sollen sich ihre Heimat wieder selbst lebenswert machen, findet Schweitzer. So lebenswert, dass sie auch bleiben.
Denn, ob Studierende, Künstler oder Individualisten, viele machen einen Bogen um Halle-Neustadt. Immer noch. Als exotischer Exkursionsort ist es zwar interessant, gerade auch hinsichtlich eines intellektuellen Diskurses über das Leben in Halle-Neustadt. Aber zwischen der verkopften Auseinandersetzung und der Wohnortentscheidung herrscht dann doch die Schere. Letztendlich ziehen die Eliten lieber in die großbürgerlichen Stadtquartiere in Halles Altstadt. Mit Stuck, Parkett und großzügigen Raumhöhen. Ähnlich sieht die Situation für junge Familien aus. Am Anfang ist Halle-Neustadt für sie ganz praktisch, doch sobald sie etabliert sind, sind sie weg.
"Naja, es müsste die kulturelle Infrastruktur geben. Also dass man dort nicht nur das Kino hat, sondern auch Cafés, in denen man gerne sitzt. Und die halt nicht alle in dem Muster dieser großen Einkaufspassage sind, sondern die auch einen etwas individuelleren Charme haben."
Sagt Annekathrin Pohle, Hallenser Künstlerin, Absolventin der Kunsthochschule Burg Giebichenstein. Ebenfalls geborene Halle-Neustädterin. An ihrer Hand trägt sie als Fingerring einen Plattenbau. Ihr etwas eigenwilliger Kommentar zu Halle-Neustadt als wegweisender Lebens-Ort.
"Also ich denke, das Wichtigste ist, in diese riesigen Blocks, eine Individualität zu bringen."
Die grüne Zukunft
Es fehlt Halle-Neustadt an schwebender Leichtigkeit. Theater, Galerien, Plattenläden, kleinen Kinos, Clubs, Bars und Cafés, die keine Bäckereiketten sind. Gibt es nicht. Aber genau da muss Halle hin, sagt Schmuckdesignerin Annekathrin Pohle etwas zugespitzt. Die Stadtentwicklung müsse sich am Flaneur orientieren.
Auch das Modell Gartenstadt, das Stichwort Urban Farming ist in aller Munde. Die renaturierte Hochhaussiedlung Halle-Neustadt. Denn die Zukunft, so prognostizieren Städteplaner, sei doch grün. Und Menschen könnten nur dann überleben, wenn sie ihre Nahrung dort herstellen, wo sie auch gegessen wird. Indem man aus den Platten, von Grünzeug umrankte Mega-Gartenhäuser macht. Blühende Stadtlandschaften eben. Architekt Lars Loebner lächelt. Für den aktuellen Chefplaner von Halle eine durchaus praktikable Herangehensweise, um Halle-Neustadt vor dem Untergang zu retten.
"Wo man sagt, ja, das ist spannend. Solche Strukturen anzubieten für Forschungszwecke. Wir haben ja im Land einige Institutionen. Auch in Halle. Das Leibniz-Institut. So dass man schaut, wie man bestehende Strukturen preiswert nutzen kann, um solche Themen voranzubringen."
"Sowas sollte schon erhalten bleiben"
Alles nur kleine Schritte. Der große Wurf, er fehlt. Noch. Aber er wird dringend gesucht: Denn wenn sich die Menschen nicht bald Halle-Neustadt zuwenden, wird Halle-Neustadt weiter schrumpfen. Und auch die Wahrzeichen Halle-Neustadts, die sogenannten Scheibenhochhäuser würden dann, so Stadtplaner Lars Loebner, zur Disposition, also zum Abriss stehen.
"Das sagen nicht wir, sondern das Land. Aufgrund der Unterhaltungskosten, die da jedes Jahr anfallen, ist das ein denkbares Szenario. Wir haben jetzt auch Sicherungsmaßnahmen in der Scheibe A und B vornehmen müssen, die der Stadt Geld kosten. Vor diesem Hintergrund muss es einer Lösung zugeführt werden. Da ist Abriss Ultima ratio und eine Sache, die wir nicht ausschließen dürfen in unseren Überlegungen."
Die Alarmleuchte blinkt. Halle-Neustadt vor dem Untergang? Ureinwohner Heinz Breitmeyer mag sich das gar nicht vorstellen. Ihm blutet das Herz:
"Ich kann mich nicht richtig ausdrücken. Aber innerlich tut einem das im Herzen weh. Das muss ich ganz ehrlich sagen. Das ist ganz schlimm."
Ähnlich geht es seiner Frau, Charlotte Breitmeyer:
"Diese ganze Bauweise hier. Mit den Hochhäusern, nicht nur die Scheiben, sondern auch die anderen Hochhäuser, das sind so Wahrzeichen von Halle-Neustadt, die doch erhalten bleiben möchten. So etwas einfach abreißen, das möchte ich nicht. Sowas sollte schon erhalten bleiben."