Nett zu Brecht
In seiner Geburtsstadt Augsburg war Brecht lange als Kommunist und Weiberheld verschrien, er galt als Feind der Stadt. Man nahm ihm übel, dass er in die DDR ging, nach Ost-Berlin. Doch mittlerweile ist Brecht präsent und beliebt in Augsburg. Vielleicht ein bisschen zu sehr?
"Also das ist die Moritat von Mackie Messer, gell? Wer Lust hat, kann mitsnippen oder -klatschen, oder auch mitsingen. Trompeten wären zum Beispiel klasse. Oder Bass. Pom pom pom, pom, pom, podompompom, pom, pom, könnte jemand machen. Oder pöö pöö pöppöpödöpö pöö pöö pöö, pödöpö pöpp. Also, wie ihr wollt. Hühüü. Und der Haifisch, der hat Zähne ..."
Es ist 20 Uhr, und es ist kalt in Augsburg. Oben, ganz oben im Perlachturm neben dem Rathaus steht Bertolt Brecht im Wind. Er trägt eine Lederjacke und eine Schiebermütze, raucht eine Zigarre, neben sich eine zerschlissene Ledertasche – und singt zur Gitarre eine geswingte Version der Moritat von Mackie Messer, dem berühmten Stück aus seiner Dreigroschenoper. Um ihn herum und auf der Treppe zu dieser Plattform, über der direkt die Glocken hängen, stehen an die 60 Leute, hören zu, machen mit. Es ist der Beginn einer Stadtführung, die in Brechts Zeit in seiner Geburtsstadt einführt.
Dass in Augsburg Stadtführungen auf den Spuren des weltberühmten Bertolt Brecht veranstaltet werden, könnte völlig normal sein. Schließlich hat der hier nicht nur seine Kindheit und Jugend verbracht, sondern auch seine ersten literarischen Werke verfasst und den Sprung nach München geschafft. Zudem finden sich etliche Stellen der Stadt in Texten von ihm wieder. Doch Brecht, dieser abtrünnige Sohn des Augsburger Bürgertums, war hier lange Zeit nicht wohlgelitten. Ein prominenter Kommunist, ein DDR-Dichter als Sohn der Stadt? Darauf konnte die stolze Hauptstadt von Bayerisch-Schwaben getrost verzichten. Doch mittlerweile genießt Brecht in Augsburg breite Unterstützung.
"Was uns so im Alltag kulturell auffällt, ist, dass der Brecht etwas mehr jetzt wieder angekommen ist in Augsburg, also nicht nur bei den Festivals und dann wieder verschwindet, sondern dass viele Veranstaltungen auch stattfinden, und so ist Brecht in der Stadt deutlich mehr präsent wie früher."
Kurt Idrizovic, langjähriger Brechtianer und Brecht-Popularisierer, Inhaber einer Buchhandlung mit "Brecht-Shop" und Veranstalter der erwähnten Stadtführungen.
"Meine Erfahrung ist, dass die örtliche Zeitung richtig sich um Brecht bemüht. Der Verein, der sich für die Stadtvermarktung einsetzt, hat nen vollkommen unverkrampften Zugang zu Bertolt Brecht. Es kommen mehr Gäste nach Augsburg auf den Spuren von Brecht. Und das Theater hat eine Brechtbühne und spielt auch Brecht öfter und mehr und intensiver als früher."
Ein Buchladen als Brecht-Forum
Selbst aus dem Ausland gibt es eine verstärkte Nachfrage nach den von verschiedenen Anbietern durchgeführten Stadtführungen auf Brechts Spuren. Gleichzeitig steigt in Kurt Idrizovics Buchladen der Umsatz. Vor allem nach dem jährlichen Brechtfestival, so berichtet der 61-Jährige, verzeichnet er ein zunehmendes Interesse, auch von Einsteigern. Idrizovics Buchladen wird mitunter sogar zu einer Art Forum pro und contra Brecht.
"Wir sind net nur die Hotline, sondern auch dieser Punkt, wo Brecht-Interessenten, aber auch, ja, Brecht-Gegner, würd ich sagen, sich ermuntern lassen – wir sind die einzige Adresse, wo man persönlich sich beschweren kann. Die Leute kommen mit ihrer Verunsicherung, aber auch mit ihren massiven Vorbehalten zu uns und wollen das loswerden."
Die Vorbehalte haben tiefe Wurzeln. Kurt Idrizovc wohnt lange genug in Augsburg, um davon ein Lied singen zu können.
"Als ich begann, mich vor zirka 30 Jahren mit Brecht zu beschäftigen, in meiner damaligen kleinen und jungen Buchhandlung, da waren die Vorbehalte noch deutlich größer als die Annahme Brechts in der Stadt. Für mich war es nahezu normal, dass der Brecht eigentlich nur als Feindbild in der Stadt auftauchte und nur einige wenige Institutionen privat sich um Brecht gekümmert haben. So nach und nach hat sich da ein bissl was verändert und das Ganze steigerte sich bis zum 100. Geburtstag von Brecht 1998."
Anfang der 1990er-Jahre war Brecht kaum ein Thema
Zwar war bereits Anfang der 1960er auf einen Stadtratsbeschluss hin eine an die Stadtbibliothek angegliederte Brecht-Sammlung in Angriff genommen worden; und Anfang der 1990er wurde ihr eine wissenschaftlichen Stelle spendiert, wo seitdem erfolgreich der junge Brecht beforscht wird. Doch in der städtischen Öffentlichkeit war noch in den frühen 90ern nicht viel geboten.
Dies änderte sich mit dem ersten Brechtfestival 1995 und der Eröffnung des Brechthauses 1998.
Das Brechthaus ist ein unscheinbares Gebäude im Zentrum Augsburgs, an einem Kanal. Es handelt sich um Brechts Geburtshaus, das in den späten 80er-Jahren von der Stadt erworben wurde. Rechts im Flur ist eine Kasse. Dort sitzt Rita Imbihl, die normalerweise keine Besuchermassen abfertigen muss.
"Es sind nicht sehr viele, aber die, die kommen, sind wirklich interessiert an der Sache. Es ist auch kein Haus, wo man bloß so schnell durchgeht. Da muss man schon Zeit mitbringen zum Lesen, weil ja viele Texte geschrieben sind."
Von dem kleinen Foyer geht eine schmale Treppe nach oben in die ehemalige Brecht'sche Wohnung. Hier ist in einer handvoll Räume nach einem Schwerpunkt zu Brechts Jugend sein ganzes Leben behandelt. Neben Bildern sind auch Brecht'sche Publikationen in verschiedenen Sprachen und Entwürfe für Bühnenbilder zu sehen. Ein paar Installationen lockern das Ganze auf. Doch was die Kassiererin sagt, stimmt: Die vielen Informationen zu Brecht und seiner Zeit müssen von Tafeln abgelesen werden.
Das ist nur einer der Kritikpunkte, die das Brechthaus betreffen, und die von allen maßgeblichen Leuten in zum Teil schärfster Form öffentlich geäußert werden. Anfang dieses Jahres hat sich die Stadtvermarktung des Brechthauses angenommen. In einigen der erwähnten Punkte sind Veränderungen in Arbeit. Langfristig soll ein neues Ausstellungskonzept her. Wie Augsburg mehr Raum für die Präsentation von Brechts Leben und Werk schaffen kann, steht aber noch in den Sternen.
Lob fürs Brechtfestival
Größerer Erfolg, und eine weitaus weniger ungewisse Zukunft, ist hingegen dem Brechtfestival beschieden. Es hat sich zu einem sehr beachtlichen Reigen verschiedenster Veranstaltungen gemausert. Seit 2010 wird es von Joachim Lang geleitet, einem renommierten Fernsehregisseur, Autor und Redakteur beim Südwestdeutschen Rundfunk. Sein Auftrag: Brecht einem größeren Publikum nahebringen. Zehn Tage dauert das Festival mittlerweile, das im Februar um Brechts Geburtstag herum stattfindet. Für die diesjährige Ausgabe war nur großes Lob zu hören. Die Verbindung von Niveau, Einbindung lokaler Akteure und Publikumswirksamkeit sei sehr geglückt, so der Tenor.
Ausländische Theater- und Musikgruppen, Beiträge der lokalen freien Szene, des Theaters und der Philharmoniker, wissenschaftliche Vorträge, politische Diskussionen, Lesungen, Ausstellungen, Kinder- und Jugendprojekte, und das alles an anderthalb Dutzend Spielstätten – dieses Festival bindet auf die eine oder andere Weise einen großen Teil der Stadt ein.
Der Konzertveranstalter, Produzent und Musiker Girisha Fernando ist für den musikalischen Teil verantwortlich. Die Bedeutung des Brechtfestivals für die Augsburger Kulturschaffenden ist groß, bezeugt der 43-Jährige. Zum einen werde die lokale Szene von den vielfältigen Musik- und Theateraufführungen inspiriert.
"Und das andere ist natürlich klar: Das Brechtfestival sind ja wahnsinnig viele Akteure auch, lokale Akteure sind ja eingebunden, verschiedenste Art von Musikern: klassische Musiker, Jazz-Musiker, Theatermacher. Das ist natürlich jedes Mal eine interessante Aufgabe für alle Akteure, die machen ja alle gern mit."
Und diese lokalen Kulturschaffenden setzen sich auf einmal mit Brecht auseinander. Fernando hat das am eigenen Leib erlebt. Für das Festival 2009 stellte er eine Augsburger Band zusammen, die Brecht-Texte zum besten geben sollte. So entstand Misuk. "Misuk" sagte Brecht manchmal statt "Musik". Die Augsburger Band Misuk, in der Fernando mitspielt, gibt es immer noch, und sie wurde auch schon weit über die Grenzen der Stadt hinaus bekannt. Im vergangenen Februar spielte sie wieder beim Brechtfestival.
Die freie Theaterszene Augsburgs wurde dieses Jahr wieder von Bluespots Productions vertreten, einem multimedialen Ensemble in wechselnder Zusammensetzung. Geschäftsführerin Lisa Bühler ist sowohl mit den eigenen Projekten beim diesjährigen Brechtfestival sehr zufrieden, als auch mit dem Einfluss des Festivals auf Augsburg.
"Ich glaub, dass das Festival für die freie Szene sehr, sehr wichtig ist. Ich glaub, dass das Festival das genau so sieht, dass sie es sehr, sehr gerne integrieren, auch darauf angewiesen sind; dass die Stadt sehr belebt wird dadurch, mit den vielen verschiedenen Spielstätten, dass im Prinzip jeder sich einbringen kann. Das entwickelt sich jedes Jahr größer als ein Festival, was uns alle zusammenschweißt, wo man sich einfach trifft, wo man sich austauscht."
"Brecht noch nicht in seiner ganzen Bedeutung erfasst"
Augsburg ist nicht nur seit dem Mittelalter aufgrund der gleichnamigen berühmten Kaufmannsfamilie Fuggerstadt, sondern auch die einzige deutsche Mozartstadt, da Leopold, der Vater des berühmten Komponisten, hier aufgewachsen ist. Beide Aspekte sorgen für viel Tourismus hier. Dennoch wird Brecht im Internetauftritt der Stadt als "Augsburgs berühmtester Sohn" bezeichnet. Der vielfältige Literat hat sich zu einer Zeit die Anerkennung des Establishments verschafft, da manche private Initiativen ausbluten.
"Zu Brecht gibt es in Deutschland noch viele Schätze zu heben, gerade in Augsburg." Diesen Satz sprach zu Beginn des diesjährigen Brechtfestivals Jan Knopf, emeritierter Literaturwissenschaftler und seit 1989 Leiter der Arbeitsstelle Bertolt Brecht in Karlsruhe. Knopf ist langjähriger wissenschaftlicher Berater des Festivals, hält dort Vorträge und ist täglich auf oder neben einer Bühne mit seinem umfassenden Wissensschatz präsent.
Er sagt immer wieder ganz klar: Brecht ist noch nicht in seiner ganzen Bedeutung erfasst, noch nicht einmal ganz in seinem Denken, das von diversen Mythen um die Person verdeckt wird. 2012 veröffentlichte Knopf eine dicke Brecht-Biografie, weil er findet: Brecht wurde sowohl in der DDR, als auch in der BRD stets durch die von der Systemkonkurrenz bedingten Perspektiven verzerrt. Lang und Knopf versprechen nun eine Neuentdeckung. Bei einem Podiumsgespräch beim diesjährigen Festival erinnerte sich Joachim Lang an die Ausgangssituation 2009.
"Als ich angefangen hab war ich ein bisschen erschrocken, wie sehr Brecht zum Spielball politischer Kontroversen geworden war, und wie wenig es eigentlich um Brecht gegangen ist. So hab ich versucht, in unserem Festival zuerst mal das Werk zu thematisieren, über Brecht zu sprechen."
Wie seine Vorgänger, suchte Lang für jedes Jahr einen thematischen Schwerpunkt aus: Brecht und der Film, Brecht und die Musik, Brecht und die Politik. 2013 der junge Brecht, dieses Jahr Brecht in den 1920ern in Berlin. Im kommenden Jahr lautet das Überthema "Exil". So wird der berühmte Autor, dessen multimedialer Werkumfang aber viel weniger berühmt ist, in verschiedenen Facetten gezeigt. Das wirkt der Vorverurteilung entgegen. So wurde Lang auf dem erwähnten Podium umgehend von Bernd Kränzle bestätigt und gelobt, CSU-Fraktionsvorsitzender im Stadtrat und langjähriger Landtagsabgeordneter.
"Es ist durch die Öffnung durch Lang Brecht uns allen von ner Seite beleuchtet, die schon Vergnügen bereitet. Parteipolitisch sind die Brücken durch Lang geschlagen worden."
Die Entdeckung des vergnüglichen Brechts
Auch Helmut Koopmann, emeritierter Literaturwissenschaftler der Universität Augsburg, hielt fest, dass hier in den letzten zehn Jahren der vergnügliche Brecht entdeckt worden sei; der unabhängig von parteipolitischen Grenzlinien konsumierbare Brecht. Koopmanns Mahnung deshalb:
"Ich meine, dass Brechts Widerspruchsgeist erhalten bleiben muss. Und wenn ich sage: Wir sind alle froh, dass es so gut läuft mit dem Festival, dann meine ich auch: Irgendwo muss der Haken sein, der mit Brecht immer verbunden ist. Brecht ist immer dagegen gewesen. Wenn jetzt alle mit ihm so einverstanden sind, dann, meine ich, ist irgendwas nicht in Ordnung."
Tatsächlich hat es bei öffentlichen Veranstaltungen den Anschein, dass Brecht in Augsburg nun Everybody's Darling ist. Stimmt dieser Eindruck? Kurt Gribl, seit 2008 Oberbürgermeister für die CSU:
"Es ist zwar schick und modern, sich diesem Brecht anzuschließen und ihn gut zu finden. Aber es gibt nach wie vor Leute, die in der Auseinandersetzung mit ihm nicht zurecht kommen. Teilweise geht’s mir auch selber so. Es ist vielleicht gerade dieses Spannungsverhältnis, das Brecht interessant macht. Er lässt sich in keine Schublade packen."
Gribl, der seit seiner Geburt 1964 in Augsburg lebt, hat einen sehr wechselhaften Umgang mit Brecht erlebt, wie er sagt. Gibt es noch Leute, die sich öffentlich von Brecht distanzieren?
"Es gibt welche, aber nicht die politischen Meinungsführer. Ich glaub, dass es viele Menschen gibt, die immer noch hadern, aber auf 'nem anderen Niveau als es früher war. Früher war es so platt. Da hat's geheißen: Das ist ein Kommunist. Außerdem war er verpönt wegen seiner Weibergeschichten, und das war das Bild, das von ihm gezeichnet war."
Nun gebe es eine inhaltliche Auseinandersetzung, würden einzelne Facetten des, so Gribl, "multitalentierten" Brecht problematisiert. Gribl selbst ist schon zu der Erkenntnis gekommen:
"Wenn man sich näher mit Brecht befasst, dann ist das Abstempeln als Kommunist zu oberflächlich."
Stoiber machte Brecht zum "bayrischen Dichter"
Ein beachtliches Fazit für einen relativ hochrangigen CSU'ler. Tatsächlich ist die CSU in Augsburg offener als woanders. Schon in den 1970ern gab es eine Strömung in der Jungen Union, die sich für eine Beschäftigung mit Brecht einsetzte. Doch muss die Frage erlaubt sein, inwieweit hier eine Vereinnahmung eines Autors geschieht, der sich zeitlebens von unserem Wirtschaftsmodell distanzierte. Eine solche politische Vereinnahmung findet immer statt, wenn ein Thema attraktiv ist, glaubt Buchhändler Kurt Idrizovic.
"Die größte Vereinnahmung und die überraschendste war 1998 durch Ministerpräsident Stoiber der CSU, der hier die Eröffnung des Brechtfestivals und der Geburtstagsfeier vorgenommen hat, im Goldenen Saal, und der in seiner Rede den Bertolt Brecht zu einem bayerischen Dichter umgewidmet hat, was völlig absurd ist."
Die Vereinnahmung ging beim diesjährigen Brechtfestival weiter. So sagte der CSU-Fraktionsvorsitzende Kränzle bei der erwähnten Podiumsdiskussion allen Ernstes: "Der demokratische und soziale Rechtsstaat, den Brecht sich gewünscht hat, den haben wir nun." Hat Brecht sich das tatsächlich gewünscht? Brechtforscher und Festivalberater Jan Knopf:
"Er hat sich einen demokratischen Sozialismus – ein demokratischer Sozialismus ist nicht das, was wir jetzt haben, als Demokratie und Sozialstaat."
Dennoch: Wer sich im politischen Augsburg ein bisschen umhört, kann den Eindruck gewinnen, dass es in der CSU nicht nur um Vereinnahmung geht, dass es zumindest in Teilen der Partei eine ernsthafte Auseinandersetzung gibt.
Ohne Vereinnahmung durch die Politik geht es nicht
Es bleibt also das Spannungsverhältnis zwischen dem Gesellschaftskritiker Brecht und dem berühmten Sohn der Stadt als Werbeträger. Und dann gibt es in Augsburg ja noch die tiefergehende Brecht-Rezeption, also jene Menschen, die analog zur Forderung von Helmut Koopmann nicht wollen, dass Brecht und sein Festival allen nur gefallen. Juliane Votteler, Intendantin des Augsburger Theaters.
"Von den Leuten, die sich wirklich mit dem Brecht-Festival und mit Brecht als Person beschäftigen, verspüre ich nicht den Wunsch nach Everybody's Darling, sondern mehr die Frage, wie sie auch in der Zeitung formuliert wurde, in der Reaktion auf das letzte Festival: Muss da nicht mehr Reibung passieren?"
Doch die Theaterintendantin weiß auch: Im politischen Raum ist es undenkbar, dass es ohne Vereinnahmungen abgeht. In Augsburg muss da auch die Partei Die Linke aktiv werden. Sie hat mit Bezug auf Brecht für die Kommunalwahlen im vergangenen März das vielleicht schönste Wahlplakat aller Zeiten entworfen. Es ist ein Stillleben, noch dazu in angenehmen Pastelltönen. Abgebildet ist in Nahaufnahme ein zerkratzter Holztisch, auf dem eine Brille mit runden Gläsern sowie eine brennende Zigarre auf einer Untertasse liegt. Dazwischen ein Notizzettel. Das Bild mit seiner unausgesprochenen Reminiszenz an Brecht ist aber auch die wohl unverschämteste Vereinnahmung, die je auf einem Wahlplakat betrieben wurde. Auf dem abgebildeten Zettel steht nämlich als Notiz an sich selbst: "Die Linke wählen", mit drei Ausrufezeichen.
Während des vergangenen Brechtfestivals steht Linke-Kreisvorsitzender Otto Hutter vor dem Brechthaus und verteilt das besagte Motiv als Postkarte.
"Das ist ein Reflex auf letztes Jahr. Letztes Jahr war das Thema dieser Veranstaltung: Brecht und Politik. Der Tenor war ne Entpolitisierung von Brecht. Brecht war ja überhaupt kein Kommunist, war der Tenor der Leute, und damit sind wir natürlich überhaupt nicht einverstanden. Deswegen dachten wir jetzt: Grade im Wahlkampf und als Linke lassen wir uns den Brecht nicht einfach wegnehmen oder nur so als Unterhaltungskünstler präsentieren."
Brecht sah keinen Gegensatz zwischen unterhalten und politisieren
War Brecht Kommunist? Das ist eine Frage der Definition. Sicherlich war er gegen den Kapitalismus. In der DDR jedoch wurde Brecht niemals heimisch, und das Regime nahm er auch nicht ernst, sagt Brechtforscher Jan Knopf. Der Sozialismus der DDR sei für Brecht eine Fehlgeburt gewesen, die schon von Beginn an historisch überholt gewesen sei. Und zum Vorwurf, Brecht als großen Unterhalter darzustellen, sagt Knopf: Brecht habe keinen Gegensatz zwischen unterhalten und politisieren gemacht.
"Brecht wollte das Vergnügen. Aber: kein vordergründiges. Reines Vergnügen, so hat er es auch wortwörtlich formuliert, hinterlässt Katzenjammer."
Brecht habe zudem immer gewollt, dass sein Material weiterverwendet wird, adaptiert wird, sagt Knopf.
Oberbürgermeister Gribl findet es, "absolut spannend", dass das Brechtfestival Jugendlichen die Gelegenheit bot, sich Brecht über den Hip-Hop anzunähern. Dutzende Augsburger Jugendliche führten dieses Jahr mehrmals eine Hip-Hop-Version der Dreigroschenoper auf, genannt MC Messer.
Am Ende, nachdem bekanntlich der Halunke Mackie Messer von einem himmlischen Boten vom Galgen befreit worden ist, stellen sich die vielen Jugendlichen auf der vollen Breite der großen Bühne auf und halten eine mahnende Rede. Sie verlangen eine größere Beschäftigung mit Armut. Sie prangern die europäische und konkret die deutsche Politik gegenüber Flüchtlingen an. Und sie schließen mit Brechts Abschlusszeilen:
"Das Schicksal als Retter kommt sehr selten. Und die Getretenen treten wieder. Darum sollte man das Unrecht nicht zu sehr verfolgen."
Ja, Brecht kann, zum Klassiker entschärft, vereinnahmt werden, für fremde Zwecke benutzt werden. Wenn aber im Jahr 2014 Jugendliche seine so unterhaltsame, aber auch so missverstandene Dreigroschenoper nutzen, um Ungerechtigkeiten anzuprangern – dann kann davon ausgegangen werden, dass es ihm gefallen hätte, so benutzt zu werden.