"Breslau war wie ein verwundetes Riesentier"
Über niemanden wird in Polens Literaturwelt derzeit so viel gesprochen wie über Olga Tokarczuk. Die vielfach ausgezeichnete Autorin aus der Babyboomer-Generation hat 2015 zum zweiten Mal den wichtigsten Schriftstellerpreis Polens, den Nike-Preis, bekommen für das tausend Seiten starke Werk: "Jakobs Bücher". Olga Tokarczuk ist Breslauerin aus Überzeugung.
Tokarczuk: Die Geschichte Wroclaws ist faszinierend, sie ist noch nicht bis zu Ende erzählt. Wir schenken der deutschen Vergangenheit der Stadt zu wenig Aufmerksamkeit. Ich würde es begrüßen, wenn zum Beispiel die Straßen nach deutschen Berühmtheiten, wie deutschen Nobelpreisträgern, benannt werden würden."
Deutschlandradio Kultur: Sie haben ja die Wohnung in Breslau am Marktplatz. Ist das wichtig, direkt mitten im Herzen der Stadt zu leben?
Tokarczuk: Ich wohne nicht mehr hier, hier ist mir zu viel los. Deswegen sind wir jetzt in den ruhigeren Stadtbezirk Krzyki, auf Deutsch Krietern gezogen.
Deutschlandradio Kultur: Sie haben ja die Wohnung in Breslau am Marktplatz. Ist das wichtig, direkt mitten im Herzen der Stadt zu leben?
Tokarczuk: Ich wohne nicht mehr hier, hier ist mir zu viel los. Deswegen sind wir jetzt in den ruhigeren Stadtbezirk Krzyki, auf Deutsch Krietern gezogen.
Eine tiefgespaltene Nation
Deutschlandradio Kultur: Sie habe viele Auszeichnungen bekommen, für "Jakobs Bücher" erhielten Sie vor einem Jahr den Nike-Preis, seitdem bekommen Sie viele Morddrohungen, was ja ganz extrem weit auseinanderdriftende Reaktionen sind ...
Tokarczuk: Ich glaube, dass die Reaktion auf mein Buch zeigt, wie tief die polnische Gesellschaft inzwischen gespalten ist und wie widersprüchlich unsere Vorstellungen sind, wie sich Polen entwickeln soll. Es ist für mich schockierend. Und trotzdem will ich das nicht dämonisieren. Die schlimmsten Reaktionen die ich bekam, betrafen gar nicht mein Buch, sondern meine Äußerung nach dem Nike-Preise, als ich sagte, dass wir ehrlich mit den dunklen Seiten unserer Geschichte umgehen müssen. Polen hat eine koloniale Vergangenheit. Zwar ohne afrikanischen Kolonien, aber Gebiete in der heutigen Ukraine oder Weißrussland wurden gewaltsam polonisiert, es gab Leibeigenschaft wie Sklaverei, durch die Polen reich wurde. Und dann die Pogrome an den Juden. Wir haben dazu keine ruhige Debatte, sondern immer nur erregte Auseinandersetzungen. Die meisten, die mich so angegriffen haben, haben das Buch nicht gelesen. Meine Unterstützer, von denen ich eine Menge habe, bestärken mich, dass es richtig war, diese Diskussion zu eröffnen.
Deutschlandradio Kultur: Offenbar ist es in Polen für einen bestimmten Teil der Bevölkerung das Schlimmste, was man machen kann, über die Kollaboration zu sprechen oder zu schreiben, über die eigenen Verbrechen an Juden zu schreiben, und dann noch einzufordern, dass man beim Umgang mit der eigenen Geschichte auch gucken kann, wie das Deutschland gemacht hat.
Deutschlandradio Kultur: Offenbar ist es in Polen für einen bestimmten Teil der Bevölkerung das Schlimmste, was man machen kann, über die Kollaboration zu sprechen oder zu schreiben, über die eigenen Verbrechen an Juden zu schreiben, und dann noch einzufordern, dass man beim Umgang mit der eigenen Geschichte auch gucken kann, wie das Deutschland gemacht hat.
Die verdrängte Vergangenheit
Tokarczuk: Genau. Die Deutschen haben sich damit auseinandergesetzt. In Polen gab während des Kommunismus überhaupt keine Diskussion. Deswegen hat sich alles nach hinten verschoben, es wurde verdrängt. Polen waren im Krieg nur Opfer, ohne Einfluss darauf, was die Nazis mit den Juden machten. Aber das ist nicht wahr. Aber die Diskussion ist im Gange, auch wenn die neue Regierung sie nicht will, sondern lieber das Bild pflegt von der Nation, die sich von den Knien erhebt. Doch wir haben nun einmal neben den wunderbaren Seiten in unserer Geschichte auch welche, die nicht so schön sind.
Deutschlandradio Kultur: Wroclaw beziehungsweise Breslau steht fast wie ein Sinnbild dafür, wohl auch deshalb hat sie die Stadt von der allerersten Begegnung an nicht losgelassen.
Tokarczuk: Ich habe Wroclaw/Breslau zum ersten Mal mit sechs Jahren gesehen. Das war ungefähr 1968. Damals gab es in Breslau viele Lücken. Diese enorme zerstörte Stadt hat auf mich einen sehr großen Eindruck gemacht. Auf mich wirkte sie wie großes riesiges Tier, das verletzt worden war und nun schwer verwundet daniederliegt. Dieses Riesentier hatte mein ganzes Mitleid. Ich klebte am Fenster im Bus und war schockiert. Damals gab es sehr viele Ruinen, ganz anders als jetzt, wo alles renoviert ist.
Deutschlandradio Kultur: Wroclaw beziehungsweise Breslau steht fast wie ein Sinnbild dafür, wohl auch deshalb hat sie die Stadt von der allerersten Begegnung an nicht losgelassen.
Tokarczuk: Ich habe Wroclaw/Breslau zum ersten Mal mit sechs Jahren gesehen. Das war ungefähr 1968. Damals gab es in Breslau viele Lücken. Diese enorme zerstörte Stadt hat auf mich einen sehr großen Eindruck gemacht. Auf mich wirkte sie wie großes riesiges Tier, das verletzt worden war und nun schwer verwundet daniederliegt. Dieses Riesentier hatte mein ganzes Mitleid. Ich klebte am Fenster im Bus und war schockiert. Damals gab es sehr viele Ruinen, ganz anders als jetzt, wo alles renoviert ist.