Städtebau

Das goldene Pflaster

Die Treppenstraße in Kassel (Hessen), aufgenommen am 04.10.2013. Sie gilt als erste Fußgängerzone Deutschlands und wurde im November vor 60 Jahren eröffnet.
Kassel: Erste Fußgängerzone Deutschlands © picture alliance / dpa / Uwe Zucchi
Von Wolfgang Brosche |
In Kassel entstand Anfang der 50er Jahre die erste Fußgängerzone Deutschlands. Nach dem Krieg wollte man in den Zentren der Städte Platz schaffen für den Handel. Dem Kasseler Modell sind viele gefolgt.
So klingt der Atem der Stadt. Die Installationskünstlerin Claudia Brieseke hat am Beginn der Paderborner Fußgängerzone direkt beim mächtigen Dom mit zwei Kunststoffsäcken, so groß wie Lieferwagen, eine Art Lunge aufgebaut. Damit will sie die Menschen, die zum Konsum in die Stadt eilen, irritieren:
"Die Leute haben ein Ziel, etwas zu kaufen, vielleicht noch mal einen Kaffee zu trinken, aber im Prinzip wollen sie sich nicht großartig mit Überraschungen beschäftigen. Es sind ja auch immerwährend die gleichen Läden und Ladenketten."
Fußgängerzonen vieler Städte ähneln sich seit Jahrzehnten: Fast-Food-Ketten, Billigläden und Handyfilialen - fast überall das gleiche triste Bild. Das war 1953 als die erste Fußgängerzone in Kassel eröffnet wurde, ganz anders. Sie war das Sinnbild für den deutschen Wiederaufbau, meint Florian Matzner. Der Kunstwissenschaftler hat die Ausstellung in Paderborn zwei Jahre lang vorbereitet und sich in die Geschichte dieses städtebaulichen Phänomens vertieft:
"Wenn man sich die Eröffnungsreden für Kassel anhört, heute nachliest, da war man megastolz darauf, dass man diese Flaniermeilen hatte, in denen Reichtum und Wohlstand mehr als offensiv gezeigt wurden. Das ist wirklich Metapher für das Wirtschaftswunder in den 50er, 60er Jahren."
Die Fußgängerzone als Konsummeile ist eine sehr deutsche Erfindung. Viele Städte waren im 2. Weltkrieg in Schutt und Asche gelegt worden. Für den Wiederaufbau planten die Verwaltungen autogerechte Innenstädte; im Nachkriegsdeutschland konnte man sich noch keinen Verkehrskollaps vorstellen - und wer besaß damals schon ein Auto?
Als man in Kassel 1947 mit den Planungen für die erste Fußgängerzone begann, dachte man aber schon weiter als anderswo: Viele zerstörte historische Häuser wurden nicht wieder aufgebaut, man gab moderner Architektur den Vorzug und richtete mit der Terrassenstraße die erste Fußgängerzone ein: großzügig gestaltete Treppen und Terrassen führen vom Fridericianum, dem ältesten Museum Deutschlands, einer Anhöhe, zum einstigen Hauptbahnhof hinauf. Hier schlug bald das Herz der Kasseler Innenstadt: schicke Geschäfte, chromblitzende Eisdielen und Cafés lockten die Menschen ins Zentrum ...
Die Treppenstraße in Kassel machte Furore. Filmfirmen, die ins benachbarte Göttingen gezogen waren wegen der vom Krieg zerstörten Studios in Berlin und München, nutzen die Fußgängerzone in den 50ern als ultramodernen Drehort. Elke Vollmer, damals noch Lehrling in einem Optikergeschäft, das sie später übernahm, erinnert sich an die Dreharbeiten für den Film "Rosen für den Staatsanwalt":
"Der Walter Giller hat diesen Krawattenverkäufer hier oben vor dem Haus gespielt. Heinz Erhardt hat hier unten im Café Kaffee getrunken."
... und auch Curd Jürgens hatte in dem Café auf der Treppenstraße eine filmische Auseinandersetzung mit seiner Ehefrau.
Die Fußgängerzone in Kassel galt schnell als Sinnbild der modernen Stadt. Kaum ein Ort in Deutschland, der keine haben wollte!
Auch in Paderborn, damals noch eine Kleinstadt, wollte man sich ein fortschrittliches Image verschaffen und die zentrale Einkaufsstraße modernisieren, an der bis heute barocke Kirchen und sogar ein Kloster liegen.
Paul Dreier ist als junger Mann noch mit dem Rad durch die in den 60ern enge und verwinkelte Stadt gefahren und kann sich an jeden Bordstein erinnern, der dem Flanierpflaster weichen musste. Er hat seltene Dokumente zur Stadtentwicklung gesammelt:
"Da hab ich doch hier ein Stadtbuch, da sind hier schon Modelle abgebildet, wie das aussehen sollte ... .1960/62. Da hat man damals schon geschrieben: Regenerierung des innenstädtischen Einkaufszentrums unter dem Motto: vom Wohnungsbau zum Städtebau. Ein Fußgänger-Einkaufsbereich soll geschaffen werden, es sollte verhindert werden, dass die Innenstadt in einigen Jahren am Verkehr erstickt."
In Paderborn musste für die Fußgängerzone sogar das in der Innenstadt gelegene Gefängnis weichen. Dagegen hatten die Bürger nichts einzuwenden; aber nicht nur in Paderborn, in allen Städten, in denen Fußgängerzonen entstanden, kam Widerstand von Geschäftsleuten, die fürchteten, dass Kunden wegbleiben würden, wenn sie nicht mehr direkt vor dem Laden parken konnten. Es musste viel Überzeugungsarbeit geleistet werden.
Heinrich Kipping war Ende der 60er Jahre am Paderborner Planungsamt verantwortlich für die Neugestaltung der Innenstadt:
"Es war natürlich äußerst schwierig, es waren etwa 40 Eigentümer, die dahin zu bringen waren, dass sie mitmachten, ihre Häuser umbauten oder sogar abrissen und neue bauten usw. aber es war nach einigen Jahren so eine Euphorie, wir machen das."
In NRW war die Euphorie besonders groß, weil sich das Land mit bis zu 70 Prozent an den Kosten beteiligte.
Auch in Köln sollte in den 60ern die gerade mal acht Meter breite Hohe Straße - bis heute die am meisten frequentierte Einkaufsstraße in Deutschland - zur Fußgängerzone umgewandelt werden.
Franz Sauer leitet einen Familienbetrieb, ein Geschäft für hochwertige Damen- und Herrenbekleidung, das bereits seit 1848 im Kölner Zentrum existiert. Er erinnert sich, wie rheinisch-pragmatisch man die Einrichtung eine Fußgängerzone um 1965 anging:
"Wir hatten damals noch einen Streifenpolizisten, den Herrn Schuhmacher, der hat den Verkehr auf der Hohen Straße geregelt und zwar sehr robust und sehr nachhaltig. Der holte um 5 Minuten vor Elf aus unserem Flur (im Stollwerkhaus) ein Sperrschild raus, schulterte das, ging an den Beginn der Hohen Straße am Wallraffplatz, steckte das in den Boden und dann war die Hohe Straße gesperrt. Und abends um 18 oder 19 Uhr nahm er das wieder raus, brachte das wieder in unseren Hausflur (lacht) das war der Beginn der FZ Hohe Straße."
Der notwendige Umbau der Hohen Straße war ein Prestigeprojekt. Die Einkaufsmeile sollte nicht bloß Kölner anlocken, sondern vor allem auch Touristen. Wer heute aus dem Kölner Hauptbahnhof tritt, wird am Dom, wo die Fußgängerzone beginnt, vorbeigeleitet über den berühmten Wallraffplatz in die Geschäftsstraße. Die Einweihung der Fußgängerzone wurde ordentlich auf kölsche Art gefeiert: Franz Sauer erinnert sich gern daran.
"Da war die Eröffnung am 2. Oktober ´67 und das weiß ich deshalb noch so gut weil wir an diesem Tag unser 125jähriges Firmenjubiläum feierten und unser damaliger Oberbürgermeister Theo Braun, der kam nach der Eröffnung und war ganz erschöpft und wir haben ihn dann aufgepäppelt und er hat uns gratuliert zu unserem Jubiläum."
So familiär ging es damals in vielen Fußgängerzonen zu, denn die meisten Geschäfte wurden damals noch von den Inhabern geführt und existierten bereits über Generation.
Auch in Kassel war das so; die Optikerin Elke Vollmer hat die guten Beziehungen auf der Treppenstraße gepflegt und genossen:
"Wir hatten alle ein gutes Verhältnis. Wir haben untereinander jeder bei dem anderen gekauft, da ging man nicht irgendwo anders hin, was einkaufen, das wurde eben in der Treppenstraße gemacht. Wir haben gemeinsam Aktionen gemacht, Kinderfeste und Weihnachtsaktionen ...
Als die Treppenstraße 50 Jahre alt wurde, da haben wir was ganz Besonderes gemacht, da haben sich alle Geschäftsinhaber in 50er Jahre-Klamotten gekleidet. Und haben an diesem Tage ein besonderes event auf der Treppenstraße gemacht."
Doch diese innerstädtische Idylle ist längst vorbei. Die Familien- und Traditionsgeschäfte sterben aus. Als Franz Sauer sein Oberbekleidungsgeschäft in Köln vor 50 Jahren von seinem Vater übernahm, waren fast alle der rund 150 Läden im Einzelhandel auf der Hohen Straße inhabergeführt. Heute sind es nicht mal mehr ein Dutzend. Kleine Fachgeschäfte mit gut ausgebildetem Personal müssen schließen, entweder weil es keine Nachfolger gibt oder weil die Mieten exorbitant steigen. In den Fußgängerzonen der deutschen Großstädte kann der Quadratmeter schon mal 400 Euro und mehr kosten. Diese Preise können sich nur noch Konzerne mit Filialbetrieben leisten. Den Kunstwissenschaftler Florian Matzner ärgert diese Entwicklung:
"Seit 10, 15 Jahren gibt es Billigketten, Onlineshopping, gibt´s Internetbanking, das ganze Social Media-Scheiß, dazu kommt, dass es Shopping Malls außerhalb der Stadt gibt, die natürlich günstiger sind."
Einkaufszentren auf der Grünen Wiese, horrende Mieten, Leerstände, Beton-Bausünden der 60er und 70er Jahre, Vandalismus und Kriminalität - die einstigen Flaniermeilen sind zu Sorgenkindern der Städte geworden.
Paul Dreier, inzwischen 73, hat die Abwärtsentwicklung beobachten können. Ihn und seine Frau zieht kaum noch etwas in die Paderborner Fußgängerzone - nix mehr "Down Town":
"Ich hab wirklich keinen Weg abends in die Innenstadt zu gehen. Wenn wir hingehen, dann manchen wir das vormittags oder ich fahr mit meinem Fahrrad, schiebe dann dadurch, guck mir das alles noch mal an, aber abends sag ich, laß, hier, brauchen wir nicht hin."
In Paderborn ist es noch nicht ganz so schlimm, aber die einstige Vielfalt der Geschäftsmeilen wich einer allgemeinen Uniformität. Den Liedermacher Rainald Grebe macht das richtig zornig:
"Regen fällt auf Kaiserslautern und es schneit in Pirmasens
Willy Billig schlendert durch die Straßen und grüßt die Konkurrenz
T-Shirts bei H&M, bei McGeiz und Remmalemammlemm
Deichmann, Subway, Yves Rocher.
Das ist die Fresse der BRD.
Fußgängerzonen, Fußgängerzonen,
ich laufe durch die Fußgängerzonen.
Hertie, Karstadt, Tengelmann
Ach, du altes Westdeutschland
Ist das Darmstadt, ist das Remscheid oder Wuppertal?
Ich hab keine Ahnung, keine Ahnung, keine Ahnung ... "
Die Verödung der Fußgängerzonen hinterläßt bei den Stadtverwaltungen oft Hilflosigkeit. So haben die Geschäftsleute in der kleinen Stadt Brakel im Weserbergland eine Initiative angeregt, die wenigstens die schwarzen Fensterhöhlen der Leerstände mit Farben, Blumen oder Kunst beleben soll. In Altena in Westfalen durften die Einwohner sogar das alte Pflaster herausreißen, bevor die Innenstadt neu gestaltet wurde. Das brachte immerhin eine handfeste Annäherung der Bürger an ihre Fußgängerzone.
In Paderborn, der Stadt, die zum ersten Mal ihre Fußgängerzone zum Thema einer Mini-Documenta macht, konnte man einige der negativen Entwicklungen durch die enge Beteiligung von Bürgern und Geschäftsleuten aufhalten. Darauf ist Bürgermeister Heinz Paus besonders stolz:
"Wir haben uns das Thema Bühne-Innenstatdt vorgenommen, so dass mit der Kaufmannschaft über kulturelle Ereignisse immer wieder Leben in die Fußgängerzone gebracht wird. Hier geht es um Formen von Urbanität, hier geht es darum, dass Bürger miteinander kommunizieren und hier geht es auch darum, dass Identifikation mit der Stadt entsteht.
Urbanität, Identifikation? Gute und schöne Vokabeln für städtische Planungsausschüsse! Fußgängerzonen sind aber auch Orte des kapitalistischen Mehrwertes: wenn Billiggeschäfte oder Handyläden nicht mehr ziehen, dann werden sie geschlossen, die Karawane zieht weiter und der Haus-Eigentümer erhöht die Miete. Dem Paderborner Bürgermeister Heinz Paus geht es da wie vielen seiner Kollegen, der Einfluß der Städte ist gering:
"Ja, da sind die Chancen, die wir haben, natürlich beschränkt. Der Eigentümer, der die Eurozeichen im Auge hat und auf Teufel komm raus die höchste Miete rausschlägt, der hat vielleicht kurzfristig eine tolle Rendite, aber er wird mittelfristig das Problem haben, dass er damit auch das gesamte Umfeld negativ beeinflußt."
Paderborn hat noch Glück gehabt. Klein- und Mittelstädte mit alten Stadtkernen haben eben doch noch mehr zu bieten als bloße Konsummeilen. Heinrich Kipping, der vor bald 50 Jahren an den Planungen zur Paderborner Fußgängerzone beteiligt war, blickt nicht ohne Stolz und bißchen lokalpatriotisch auf sein altes Projekt:
"Meine Verwandten und Bekannten kommen sehr gern nach Paderborn. Nicht nur um in den Dom zu gehen, sondern auch zu kaufen: ach da ist ein nettes Geschäft und da und sofort hat man irgendwelche Sachen. Ich bin ab und zu mal auch in Köln oder Düsseldorf. Aber man kauft da nicht unbedingt, hier kauft man."
Die Attraktivität der Fußgängerzonen in vielen Großstädten aber hat nachgelassen, denn sie sind monoton und austauschbar geworden, nicht nur in NRW. Zu den zahlreichen hausgemachten Strukturproblemen kommen natürlich auch noch die nachlassende Kaufkraft im Zeichen der Wirtschaftskrise und der Boom des Internethandels. Bequem zuhause am Schirm einzukaufen scheint für viele Menschen verlockender, als sich in die Stadt aufzumachen und von Geschäft zu Geschäft zu schlendern.
Die einstigen Flaniermeilen sind zu Sorgenkindern der Städte geworden.
Das Phänomen der deutschen Fußgängerzone hat vielleicht einen Geburtsfehler, der genau in jenen Wirtschaftswunderzeiten ihrer Anfänge zu suchen ist.
Es gibt auch in anderen europäischen Ländern vom Krieg nie zerstörte Innenstadtbereiche, die über viele Jahrzehnte so gewachsen sind. Oft waren die Straßen für Autos einfach zu eng, oder man ersetzte das historische Pflaster nicht durch modernen Asphalt und hielt so den Verkehr fern.
Diese Beobachtung hat Florian Matzner gemacht:
"Die deutsche Fußgängerzone unterscheidet sich in der Tat von Italien oder Frankreich, grundsätzlich weil: in Teilen wird Wohnen und Arbeiten nicht ausgeklammert, da versucht man noch diese Symbiose, die klassische Symbiose einer Stadtstruktur, nämlich Wohnen, Arbeiten und Freizeit beizubehalten, während man ja in Deutschland, die FZ aufgebaut hat nach ausschließlich wirtschaftlichen Aspekten -
Automatisch fällt Wohnen und Arbeiten weg - und bleibt nur Kauf und Verkauf: Turbokapitalismus. Und das ist ein Problem geworden."
Zur Lösung dieses Problems will Florian Matzner mit seinem Kunstprojekt in Paderborn zur Geschichte und Gegenwart der deutschen Fußgängerzone einen Beitrag liefern. Da gibt es ein monumentales zwanzig Meter langes Schlangengerippe als Symbol von Gier und Falschheit oder die vollgehängte Wäschespinne auf einem Brunnenungetüm aus Beton. Der Künstler erinnert so daran, dass sich die Paderborner Bürger in den Anfangsjahren gegen eben diesen Beton gewehrt haben, indem sie das Wassergesprudel mit Waschpulver zu Schaumgebirgen verwandelten.
Und es gibt diese riesige Lunge am Dom. Die Ausstellung "Phänomen Fußgängerzone" soll dazu beitragen, der Nachkriegsidee neues Leben und neuen Atem für die Zukunft einzuhauchen.