Eva Lohse, geboren 1956. CDU-Mitglied. Studium der Rechtswissenschaften, 1985 zweites juristisches Staatsexamen, 1995 Promotion. Von 1987 bis 1996 Verwaltungsjuristin in Rheinland-Pfalz, von 1996 bis 2001 Dozentin an der Fachhochschule des Bundes für öffentliche Verwaltung in Mannheim. Seit 2002 Oberbürgermeisterin von Ludwigshafen. Seit 2005 im Präsidium des Deutschen Städtetags, von 2013 bis 2015 dessen Vizepräsidentin, seit Juni 2015 Präsidentin des Deutschen Städtetags
"Wir brauchen eine Atempause"
Die Präsidentin des Deutschen Städtetags, Eva Lohse (CDU), hat betont, dass die Kommunen auch weiterhin alles tun wollen, um Flüchtlinge angemessen unterzubringen. Doch die Wohnraumversorgung werde immer schwieriger, so Lohse. Es gebe "Städte, die am Limit sind".
Deutschlandradio Kultur: Mein Gast in dieser Ausgabe von Tacheles ist Eva Lohse. Die Christdemokratin ist Präsidentin des Deutschen Städtetags und Oberbürgermeisterin von Ludwigshafen am Rhein. Guten Tag, Frau Lohse.
Eva Lohse: Guten Tag.
Deutschlandradio Kultur: Sprechen wollen wir über die Probleme der Kommunen mit der großen Zahl von anerkannten Flüchtlingen und Asylbewerbern, die in die deutschen Städte und Gemeinden gekommen sind.
Frau Lohse, vor knapp einem halben Jahr haben Sie in Ihrer Funktion als Präsidentin des Deutschen Städtetags in einem Zeitungsinterview zu den größten Problemen der deutschen Städte gesagt: "Es fehlen Wohnungen. Die Länder weisen uns zu viel Asylbewerber zu, die kaum eine Chance auf Anerkennung haben. Die Asylverfahren dauern zu lange. Und viertens: Unsere Kosten werden nicht ausreichend erstattet."
Wo stehen wir da sechs Monate später? Gehen wir es mal der Reihe nach durch und beginnen mit dem Thema Wohnungsnot. Wie stellt sich die Situation in den deutschen Städten und Kommunen dar? Hat sich beim Thema Wohnraum seit September etwas getan? Oder hat sich die Problematik eher noch verschärft?
Eva Lohse: Leider hat sich die Problematik eigentlich eher verschärft. Seit September hat sich in vielen Dingen etwas getan, in manchen Dingen wenig, aber manches ist auch gleich geblieben. Und es ist mir wichtig, am Anfang zu sagen, dass gleich geblieben ist unsere grundsätzliche Haltung als Städte und Kommunen, nämlich dass wir positiv gegenüberstehen dieser Aufgabe, dass wir die Aufgabe annehmen, Asylbewerber und Flüchtlingen angemessenen Wohnraum zu geben, und dass wir uns in einer Verantwortungsgemeinschaft sehen mit Bund und den Ländern, und dass wir wirklich alles tun wollen, die Menschen angemessen unterzubringen. Aber wichtig ist auch, dass gerade die Wohnraumversorgung immer schwieriger wird. Es gibt Städte, die sind wirklich am Limit. Deshalb ist eine unserer großen Forderungen, dass der Zuzug von Asylbewerbern und Flüchtlingen gesteuert und begrenzt werden muss.
Das drängendste Problem ist die Versorgung mit Wohnraum
Deutschlandradio Kultur: Bleiben wir noch beim Thema Wohnraum. Wie lange noch müssen in deutschen Städten Flüchtlinge in Turnhallen, in Baumärkten oder anderen ähnlich ungeeigneten Notunterkünften leben?
Eva Lohse: Also, es ist in der Tat so, dass wir versuchen natürlich, die Menschen dezentral unterzubringen, dass dies aber immer schwerer wird und dass wir ausweichen müssen auf Notaufnahmeunterkünfte oder sogar auf Turnhallen und Bürgerhäuser, wenngleich ich das beispielsweise in meiner Stadt noch vermeiden konnte. Aber es gibt Ballungsräume, da geht das schon nicht mehr, weshalb das drängendste Problem wirklich die Versorgung der Zuwanderer mit Wohnraum ist. Und so müssen wir viele Anstrengungen unternehmen, damit das gelingt. Denn Wohnhäuser, das baut sich ja nicht von heute auf morgen. Da müssen wir im Grunde viel Geld in das System geben, aber nicht nur Geld, sondern dann muss eben auch sehr schnell gebaut werden.
Deutschlandradio Kultur: Sammel- oder gar Notunterkünfte sind Notlösungen auf Zeit. Das ist klar. Im Idealfall mieten Kommunen preisgünstigen leerstehenden Wohnraum und bringen dort Flüchtlinge unter. Ich habe bei der Vorbereitung gelesen, dass Sie in Ludwigshafen so verfahren. – Funktioniert das eigentlich nur in kleineren Orten mit viel Wohnungsleerstand? Oder ist das eigentlich vielerorts möglich?
Eva Lohse: Also, wir versuchen natürlich allen leerstehenden Wohnraum zu mieten, um vor allem Familien dezentral unterbringen zu können. Aber das ist vielerorts nicht möglich. Auch in meiner Stadt wird das immer schwieriger, weil wir natürlich auch darauf achten müssen, dass wir den Wohnraum für die normale Bevölkerung nicht verknappen. Es gibt ja auch Menschen, die preisgünstigen Wohnraum brauchen – Alleinerziehende, Senioren, Rentner. Und wir wollen natürlich nicht den Wohnungsmarkt kaputt machen. Deshalb müssen wir da auch sehr sorgsam sein. Deshalb ist es erforderlich, dass wirklich eine Wohnbauinitiative gestartet wird, dass kostengünstiges Wohnen gefördert wird. Deshalb begrüßen wir natürlich die Initiativen auf Bundesebene, das Bündnis für bezahlbaren Wohnraum oder eben auch Bündnisse auf Länderebene, damit die Wohnraumförderung angekurbelt wird.
Deutschlandradio Kultur: Jetzt spreche ich mal die Oberbürgermeisterin von Ludwigshafen an und nicht die Präsidentin des Deutschen Städtetags. – Frau Lohse, wie viele Flüchtlinge haben Sie seit September in Ludwigshafen aufgenommen? Und wie sind die untergebracht?
Unterbringung in Halle auf Dauer nicht gut für Flüchtlinge
Eva Lohse: Wir haben ungefähr 1.700 Asylbewerber und Flüchtlinge aufgenommen. Und wir konnten über 700 dezentral in Wohnungen unterbringen. Das sind wir auch recht stolz, dass wir keine Asylbewerber und Flüchtlinge in Turnhallen und Gemeinschaftshäusern unterbringen mussten. Aber die verbleibenden tausend Menschen, die sind leider in Notunterkünften, in Hallen untergebracht. Und das ist letztendlich keine Wohnform, die auf Dauer gut ist für die Flüchtlinge, wenngleich wir wissen, dass wir so schnell nicht bauen können, um die Menschen dann auch dezentral in Wohnungen unterbringen zu können.
Deutschlandradio Kultur: Wenn wir jetzt mal wieder auf ganz Deutschland schauen, Frau Lohse. Schätzungen zufolge müssten in Deutschland 350.000 Wohnungen pro Jahr gebaut werden, im Übrigen, Sie deuteten es an, eben nicht nur für Flüchtlinge, sondern auch für andere hier aus der Wohnbevölkerung. – Halten Sie das eigentlich für leistbar, dass man solch vielen Wohnungen bauen kann? Oder ist das ein Wunschtraum?
Eva Lohse: Also, es ist im Grunde ein Paradox, dass wir auf der anderen Seite 1,5 Millionen leer stehen haben in Deutschland, auf der anderen Seite in den Ballungsräumen tatsächlich 350.000 Wohnungen fehlen. Es muss uns gelingen, möglichst viele Wohnungen zu bauen in der nächsten Zeit. Da brauchen wir Wohnraumförderung. Da brauchen wir aber auch beispielsweise Sonderabschreibungen, damit wir private Investoren gewinnen, dass sie investieren in Wohnungsbau, dass es uns nur annähernd gelingt. Es ist ganz wichtig, dass wir wirklich alle Möglichkeiten ausschöpfen, um schnell regulären Wohnraum zu errichten.
Deutschlandradio Kultur: Sie haben es angesprochen. Ich hatte mir diese Zahl auch notiert. Die ist ja nun wirklich interessant. Geschätzt 800.000 Wohnungen fehlen in den deutschen Städten. Und außerhalb der Ballungszentren stehen eineinhalb Millionen Wohnungen leer. - Daher die nächste Frage: Was meinen Sie: Sollten Flüchtlinge auch außerhalb der größeren Städte in nennenswerter Zahl untergebracht werden?
Situation in Ballungsräumen könnte sich verschärfen
Eva Lohse: Ja, das werden sie ja im Moment auch, weil ja die ankommenden Asylbewerber und Flüchtlinge nach dem sogenannten Königsteiner Schlüssel verteilt werden. Das heißt, sie werden quer über die Republik verteilt. Aber nach der Anerkennung als Asylbewerber oder nach Anerkennung als Flüchtling in Deutschland entfällt die Residenzpflicht. Und es ist zu befürchten, dass die Menschen eben dann wegziehen in die Ballungsräume und dass eben dann nochmal die Situation sich genau dort, wo der Wohnraum jetzt schon knapp ist, verschärft.
Deutschlandradio Kultur: Also sind Sie für eine Verlängerung der Residenzpflicht? Das steht ja in Rede zurzeit.
Eva Lohse: Ja. Wir haben schon im Herbst als Städte, als kommunaler Spitzenverband, gefordert, dass man eine sogenannte Wohnsitzauflage prüft. Und die Zahlen unterstützen auch diese Forderung. Denn im Herbst waren ungefähr 200.000 Asylbewerber und Flüchtlinge anerkannt. Und sie kamen aus 400 Gebietskörperschaften in Deutschland. Und nach einem halben Jahr sind sie jetzt nur noch in 33 Gebietskörperschaften, die Hälfte dieser Menschen, die den Anerkennungsbescheid haben.
Das heißt, es gibt genau diesen Sog in die Ballungsräume. Und wenn wir keine Wohnsitzauflage haben, werden wir die Ballungsräume überfordern. Es wird dort den Wohnraum nicht geben, aber auch die Integration wird nicht unterstützt, weil dann in den Ballungsräumen einfach zu viele Asylbewerber und Flüchtlinge ankommen, die wir dann auch wirklich nicht mehr integrieren können, oder zumindest wird es unglaublich viel schwerer.
Möglichst früh mit Integration beginnen
Deutschlandradio Kultur: Nun muss man sagen, Frau Lohse, auch die deutsche Wohnbevölkerung zieht es ja in die Ballungszentren. Warum? Weil da die Arbeit ist. Das ist natürlich dann ein anderes Problem, wenn jetzt viele anerkannte Flüchtlinge in kleinen Städten oder auf Dörfern untergebracht sind und dort leben, dann haben sie da möglicherweise eben nicht die Arbeit, die sie bräuchten, und die Möglichkeiten zur Integration, die nötig sind.
Eva Lohse: Ganz wichtig ist natürlich, dass wir sehr frühzeitig mit der Integration beginnen. Das heißt für mich natürlich mit der Sprache, aber natürlich auch mit der Integration in den Arbeitsmarkt. Aber wir müssen uns auch ehrlich machen und verstehen, dass die Menschen nicht unmittelbar in Arbeit kommen können, wenn sie kein Deutsch können, wenn sie die Sprache nicht beherrschen, so dass auf jeden Fall eine Wohnsitzauflage auf Zeit nicht integrationsfeindlich ist.
Wenn in einem Einzelfall jemand einen Arbeitsplatz hat und auf Sozialleistungen nicht mehr angewiesen ist, dann spricht ja nichts dagegen, eine Ausnahme von der grundsätzlichen Wohnsitzauflage vorzusehen. Das ist dann letztendlich die Aufgabe des Gesetzgebers, Ausnahmefälle, Härtefälle zu beschreiben. Aber die Regel wäre wirklich wichtig. Die Regel müsste eine Wohnsitzauflage sein, die eben dazu führt, dass es eine Residenzpflicht gibt, was ja keine Einschränkung in der Freizügigkeit bedeutet. Denn die Menschen könnten ja sich frei bewegen, nur hätten sie einen festen Wohnsitz.
Deutschlandradio Kultur: Ich bleibe nochmal bei der Wohnraumproblematik, Frau Lohse. Wir wissen alle, dass es enorm wichtig ist bei der dauerhaften Unterbringung von Flüchtlingen, die Ghettoisierung zu vermeiden, also etwa die Konzentration in Trabantenstädten. – Kann man aber diesem hehren Anspruch in der Praxis überhaupt gerecht werden?
Eva Lohse: Das ist ein weiteres Argument für die Wohnsitzauflage, weil es eben darum geht, dass anerkannte Asylbewerber wirklich gut verteilt werden im Lande und eben nicht in die Großstädte ziehen, über die Maßen die Ballungsräume belasten, weil das einfach einer Ghettobildung Vorschub leistet. Deshalb befürworten wir so sehr die Wohnsitzauflage.
Menschen brauchen geregelten Tagesablauf
Deutschlandradio Kultur: Wohnungsbau braucht einen langen Atem. Das ist klar. Vielerorts aber nehmen die Aggressionen, nehmen die Unruhen in den Flüchtlingsunterkünften zu. Die Leute sind des Wartens müde, wie auch der Enge, dem Fehlen jeglicher Privatsphäre usw. usf. – Was kann man denn kurzfristig tun, damit die Dinge nicht aus dem Ruder laufen?
Eva Lohse: Also, für mich ist es ganz wichtig, dass wir sehr früh und unmittelbar nach Ankunft mit den ersten Integrationsleistungen beginnen. Das beginnt natürlich mit der Sprache. Das beginnt mit der Ansprache. Das beginnt, wenn es geht, auch mit einer ersten Arbeitsmöglichkeit, sei es in einem Praktikum oder sei es in einer sogenannten Arbeitsgelegenheit. Wir bitten als Städtetag, dass man dringend überprüft, ob man die Möglichkeit für diese Arbeitsgelegenheiten wieder ausweitet. Wir hoffen darauf, dass es möglich wird, dass wir die Menschen in Praktika beschäftigen können, weil ich glaube, es ist ganz wichtig, dass die Menschen einen geregelten Tagesablauf haben – und dieses möglichst von Anfang an, wenn denn schon die Unterbringungsmöglichkeiten eingeschränkt sind.
Deutschlandradio Kultur: Frau Lohse, vor einem halben Jahr – ich komme jetzt wieder auf das Interview zurück, das Sie im September gegeben haben – vor einem halben Jahr sagten Sie, die Länder wiesen den Kommunen zu viele Asylbewerber zu, die kaum eine Chance auf Anerkennung haben. Und die Asylverfahren, die dauerten zu lange. – Hat sich da aus Ihrer Sicht etwas gebessert?
Eva Lohse: Das war ein großes Problem am Anfang, dass sehr viele Asylbewerber und Flüchtlinge zu uns kamen, die keine Chance auf Bleiben hatten. Und wir haben uns sehr dafür eingesetzt, und das ist ja dann auch im Asylpaket I vollzogen worden, dass man uns als Kommunen nur noch diejenigen übersendet, die eine Bleibeperspektive haben, damit wir uns um diese Menschen auch wirklich substantiell und nachhaltig kümmern können. Und beispielsweise durch die Anerkennung der Westbalkanstaaten als sichere Herkunftsländer ist jetzt erreicht worden zum einen, dass diejenigen, die eben aus dem Westbalkan kommen, in den Erstaufnahmeeinrichtungen der Länder verbleiben, aber auch zum Zweiten, dass diese Botschaft in den Ländern insoweit angekommen ist, als dass sich viele nicht mehr auf den Weg machen. Und das hat uns natürlich nachhaltig entlastet. Das heißt, wir konnten unsere Plätze jetzt für diejenigen verwenden, die eine Bleibeperspektive haben.
Kommunen hoffen, dass der Zuzug deutlich reduziert wird
Deutschlandradio Kultur: Wie sieht es denn aus bei den Menschen mit Bleibeperspektive? Sind denn da die Zahlen seit Jahresbeginn ebenfalls deutlich rückläufig oder sind die auf konstantem Niveau?
Eva Lohse: Also, sie waren bis Weihnachten ungefähr auf konstantem Niveau. Derzeit sind sie etwas rückläufig. Vielleicht sind das auch schon erste Folgen aus den internationalen Bemühungen auch der Bundesregierung. Wir hoffen als Kommunen, als Städte, dass der Zuzug der Asylbewerber und Flüchtlinge deutlich reduziert wird, weil, die Aufnahme der Menschen ist wirklich eine Kraftanstrengung. Und wir brauchen eine Atempause, um wirklich die Menschen jetzt direkt und schnell integrieren zu können.
Deutschlandradio Kultur: Sie hoffen auf eine Atempause. Jetzt mal eine hypothetische Frage, Frau Lohse: Was passiert denn, wenn die Zahl der Bürgerkriegsflüchtlinge und der politisch Verfolgten 2016 und in den Jahren danach nicht signifikant sinkt? Was dann?
Eva Lohse: Also, ich hoffe sehr, dass es der Bundesregierung, der Bundeskanzlerin gelingt, die Zahlen deutlich zu reduzieren. Und vieles spricht ja auch dafür, dass dies gelingen kann. Wir müssen uns darum kümmern, dass die Herkunftsländer zunächst befriedet werden, dass aber dann die Menschen in den Nachbarländern verbleiben können. Aber wir müssen deutlich mehr dafür sorgen, dass eben auch die Möglichkeiten in den Nachbarländern verbessert werden, dass die Menschen sich nicht auf den Weg machen.
Deutschlandradio Kultur: Viele kleine und mittelgroße Städte in Deutschland schrumpfen mit der zwangsläufigen Folge, dass sie teilweise veröden. Wir haben das Thema ja schon ein wenig angesprochen. Ist für diese Orte die Aufnahme von Migranten nicht auch eine Chance, eine Chance sozusagen zur Revitalisierung?
Flüchtlinge sind eine Chance für schrumpfende Städte
Eva Lohse: Ich denke, da sprechen Sie ein wichtiges Thema an. Sicherlich, genau das könnte eine Chance sein zur Revitalisierung. Aber es ist auch für die Menschen, die kommen, eine Chance zur schnellen Integration, weil natürlich in diesen Städten gute Wohnmöglichkeiten sind. Es gibt auch jenseits der Ballungsräume gute Arbeitsplätze. Es gibt sogar Fachkräftemangel und Arbeitsplätze, die nicht besetzt werden können. Das heißt, es ist in der Tat eine Chance für schrumpfende Städte einerseits, aber auch für die zu uns kommenden Asylbewerber und Flüchtlinge, in gerade diesen Städten Fuß zu fassen.
Deutschlandradio Kultur: Frau Lohse, noch einmal zurück zu meinem Ausgangspunkt, nämlich Ihrem Zeitungsinterview im Spätsommer. Da vergleichen wir ja ein bisschen, wie sich die Dinge entwickelt haben. Damals klagten Sie, die Kosten der Kommunen würden nicht ausreichend erstattet. – Hat sich da nicht inzwischen was getan?
Eva Lohse: Da hat sich leider wenig getan, weshalb wir nach wie vor fordern: Wir brauchen dringend mehr Geld, um eben diese große Aufgabe der Integration meistern zu können – sprich, bezahlen zu können. Denn Integration kostet Geld. Und wir werden nicht ausreichend finanziert. Der Bund hat 670 Euro pro Asylbewerber jetzt gegeben, aber diese Gelder wurden zum Teil nicht mal weitergereicht an die Kommunen.
Deutschlandradio Kultur: Zum Beispiel in Rheinland-Pfalz.
Eva Lohse: Zum Beispiel in Rheinland-Pfalz. Manche Bundesländer haben nämlich die eigenen Zuwendungen entsprechend gekürzt. Das heißt, wir fordern natürlich eine 1:1-Kostenerstattung für die Ausgaben nach dem Asylbewerberleistungsgesetz. Aber wir haben natürlich absehbar weiterhin viele Kosten. Das sind einmal die baulichen Anlagen, die Notaufnahmeunterkünfte, die wir bauen müssen. Das kostet Geld. Hier gibt es keinen Kostenersatz bislang.
Bund soll Kosten der Unterkunft in Gänze übernehmen
Und dann gibt es natürlich die Kosten, die anfallen werden, wenn Asylbewerber und Flüchtlinge anerkannt sind, nämlich dann fallen sie in die normalen Sozialsysteme. Das heißt, sie werden versorgt werden nach dem SGB II, das heißt Hartz IV. Da fallen bei den Kommunen große Summen zusätzlicher "Kosten der Unterkunft" an. Und wir fordern, dass diese Kosten vom Bund in Gänze übernommen werden, diese flüchtlingsbedingten Anstiege bei den Kosten der Unterkunft.
Aber das ist noch nicht genug. Wir haben natürlich weitere Kosten auf der kommunalen Seite. Es wird mehr Bedarf im Bereich der Jugendhilfe geben. Wir müssen Kindertagesstätten und Schulen ausbauen – und dann natürlich das große Thema, das wir schon besprochen haben, der Wohnungsbau.
Deutschlandradio Kultur: Versuchen wir das Thema mal herunterzubrechen auf Ludwigshafen. Können Sie als Oberbürgermeisterin beziffern, wie stark Ihre Stadt mit Kosten im Zuge der Flüchtlingskrise belastet wird, also mit Ausgaben, auf denen Ludwigshafen derzeit sitzen bleibt und die es anderswo einsparen muss - oder eben mehr Schulden machen muss?
Eva Lohse: Ja, wir führen Buch wie alle Kommunen Buch führen, weil es für uns wichtig ist, dass wir auch unserer Aufsicht gegenüber nachweisen können, welche Mehrausgaben wir haben aufgrund der Zuwanderung von Asylbewerbern und Flüchtlingen. In meiner Stadt sind das Kosten in Höhe von circa 40 Millionen Euro. Und wir bezahlen das ja nicht mit Geld, das wir haben, sondern mit Schulden.
Für mich stand trotzdem am Anfang nur die Frage, wie können wir helfen. Und wir haben diese Schulden gemacht, weil wir die Menschen angemessen unterbringen wollen. Aber für mich ist wichtig, dass wir jetzt in der Folge über die Finanzen reden und dass wir dringend von Bund und den Ländern fordern, dass wir finanziell entsprechend ausgestattet werden.
Deutschlandradio Kultur: Frau Lohse, kürzlich wurde in der ARD eine Dokumentation ausgestrahlt mit dem Titel "Kommunen am Limit". Sie haben diesen Begriff auch schon verwendet. – Trifft der Titel die Lage der Städte, oder sind die Städte bereits jenseits des Limits?
"Ehrenamtliches Engagement nach wie vor ungebrochen"
Eva Lohse: Also, die Städte tun alles, um Asylbewerber und Flüchtlinge zu integrieren und im Übrigen nicht nur die Städte und die Stadtverwaltungen, sondern es gibt auch ein riesengroßes ehrenamtliches Engagement. Und das ist nach wie vor ungebrochen. Aber viele Städte sind wirklich am Limit, weil Unterbringungen in Sammelunterkünften, das ist keine gute Unterbringungsform. Und wenn der Flüchtlingsstrom nicht gestoppt werden kann, werden wir weiterhin in diesen großen Aufnahmeeinrichtungen unterbringen müssen. Für mich ist das dann schon eine Herausforderung, ein Limit erreicht, wenn das dauerhaft so der Fall sein würde.
Deutschlandradio Kultur: Frau Lohse, mehrfach klang natürlich schon in unserem Gespräch das große Stichwort an. Und das große Stichwort, das lautet seit vielen Monaten "Integration". Da sind ja nun die Städte natürlich massiv bemüht. Sie haben es angedeutet. Es geht um Sprachkenntnisse. Es geht um die berufliche Qualifikation. Es geht um Beschäftigungsmöglichkeiten. Es geht um angemessenen Wohnraum. Es geht um Kitaplätze, um Schulen und, und, und. – Kann man überhaupt sagen, was da jetzt vorrangig im Augenblick ist? Man kann ja nicht alle Baustellen gleichzeitig angehen.
Eva Lohse: Also, das ist natürlich eine gewaltige Herausforderung. Sie haben die einzelnen Bausteine ja schon angesprochen. Ich denke, was am Anfang ganz wichtig ist, das ist Sprachunterricht und Integrationskurse, weil, das ist sozusagen die Basis für alles weitere.
Wir brauchen unbedingt noch viele Plätze in Kindertagesstätten, weil die Kinder untergebracht werden müssen, weil das auch sehr integrationsförderlich ist. Wir brauchen Schulen, die auch in der Lage sind, neu ankommende Kinder in Willkommensklassen zu unterrichten. Wir brauchen sehr viel neue Lehrerinnen und Lehrer. Das ist eine weitere gewaltige Herausforderung.
Und für die Integration ist es natürlich auch erforderlich, dass die Menschen Zugang zu den Arbeitsplätzen erhalten. Auch da müssen wir sehr behutsam und vorsichtig uns Instrumente ausdenken, de die Menschen langsam da hinführen.
Am dritten Tag Aufforderung zur Teilnahme am Deutschkurs
Deutschlandradio Kultur: Wie sieht es da denn zum Beispiel in der 160.000-Einwohner-Stadt Ludwigshafen aus? Wo hakt es? Und wo, sagen Sie, sind wir richtig gut aufgestellt?
Eva Lohse: In meiner Stadt ist es so, dass wir sehr früh beginnen mit dem Sprachunterricht. Wir haben sofort ein Programm mit 200 Ersteinheiten. Und ein Asylbewerber, der zu uns kommt, wird am dritten Tage angesprochen und wird aufgefordert, teilzunehmen an einem Deutschkurs, weil wir glauben, dass es ganz wichtig ist, dass wir gerade die jungen Männer, die in den Sammelunterkünften sind, unmittelbar ansprechen, ihnen eine Aufgabe geben, den Tag strukturieren. Wir sind recht stolz, dass uns das gelingt und dass wir mit dieser Erstansprache sozusagen für einen geregelten Tagesablauf sorgen können. Das funktioniert gut.
Ich denke, auch im Kindergartenbereich können wir Kindergartenplätze anbieten, aber das wird zunehmend schwieriger, weil halt sehr viele Kinder und junge Familien und Kinder kommen und da inzwischen auch ein Engpass entsteht.
Deutschlandradio Kultur: Und wo haben Sie die Leute her, die zum Beispiel bei der Sprachvermittlung helfen? Sind das Freiwillige? Oder sind das Lehrer, die das in ihrer Freizeit machen?
Eva Lohse: Diese Erstansprache, sozusagen Deutsch als Fremdsprache, da helfen uns sehr viele freiwillige Helferinnen und Helfer mit. Und da ist wirklich die ehrenamtliche Arbeit ungebrochen. Ich gehe persönlich vor Ort. Ich war jetzt jede Woche in einem sogenannten Café Asyl in Ludwigshafen, wo eben genau diese Sprachkurse stattfinden. Und ich bin immer wieder überwältigt von der Hilfsbereitschaft der Menschen, sich einzubringen und sich mit den Menschen zu beschäftigen und eben auch ihnen zu helfen, diese ersten Sprachkenntnisse zu erwerben.
Deutschlandradio Kultur: Denn Integration kann nur gelingen, wenn einerseits die Neuankömmlinge bereit sind, sich zu integrieren, und andererseits die Bevölkerung das ganze Unterfangen positiv begleitet. – Würden Sie also sagen, die Stimmung in Ludwigshafen ist ungebrochen positiv?
Möglichst keine Sporthallen belegen
Eva Lohse: Also, ich glaube, wir können schon stolz sein in Ludwigshafen, dass die Stimmung positiv ist. Wir haben auch Probleme in Asylbewerberunterkünften. Auch da gibt’s mal Schwierigkeiten, auch unter den Asylbewerbern, aber ich denke, wir sind froh, dass wir noch keinerlei Gewalt gegen Asylbewerberunterkünfte hatten. Und das ist für mich ein ganz, ganz gutes Zeichen.
Deutschlandradio Kultur: Was hören und lesen Sie denn als Städtetagspräsidentin aus anderen Kommunen? Wachsen bei der Wohnbevölkerung - man liest ja da so einiges - nicht manchmal auch Neid und Verärgerung, wenn zum Beispiel, wie hier in Berlin, Sportvereine ihre Hallen nicht mehr nutzen können, weil dort Flüchtlinge untergebracht sind, oder wenn Menschen - ob nun berechtigt oder nicht - das Gefühl haben, infolge der Flüchtlingskrise zu kurz zu kommen?
Eva Lohse: Es ist für mich ein großes Ziel, dass wir keine Sporthallen belegen, damit eben genau solche Gefühle nicht aufkommen. Ich weiß auch, dass die Kollegen Oberbürgermeisterinnen und Oberbürgermeister genau diese Ziele ebenso verfolgen, weil wir eben eines nicht wollen, nämlich die Konkurrenz zwischen Asylbewerbern und Flüchtlingen mit der aufnehmenden Gesellschaft. Das ist uns als Städte ganz wichtig, dass wir die hohe Akzeptanz der Gesellschaft, der Stadtgesellschaft bei der Aufnahme von Asylbewerbern und Flüchtlingen auch erhalten. Und es ist wichtig, dass wir alles tun, damit diese erhalten wird.
Keine Toleranz bei Straftaten
Und wir müssen Ängste und Sorgen, die Menschen haben, aufnehmen. Und wir müssen alles tun, sie zu zerstreuen. Deswegen ist es wichtig, dass wir deutlich machen, dass es in jeder Hinsicht keine Toleranz gibt bei Straftaten gegen Asylbewerber, aber auch keine Toleranz bei Straftaten von Asylbewerbern. Und wenn wir deutlich machen, dass wir in jede Richtung keine rechtsfreien Räume dulden, dass wir Ängste und Sorgen aufnehmen, dass wir alles tun, damit solche Konkurrenzen nicht aufkommen. Ich denke, sie kommen nicht auf diese Konkurrenzen, wenn wir uns bemühen und wenn wir deutlich machen, dass kein Bürger und keine Bürgerin, die in unseren Städten lebt, Einschränkungen dadurch erfährt, dass wir Asylbewerber und Flüchtlinge aufnehmen.
De facto ist das, glaube ich, in den meisten Fällen auch nicht passiert. Und das müssen wir den Menschen deutlich machen. Dann glaube ich, dass sich diese gute Stimmung, diese Akzeptanz für die Aufnahme von Asylbewerbern und Flüchtlingen auch erhalten lässt.
Deutschlandradio Kultur: Lassen Sie mich da nochmal nachhaken, Frau Lohse. Im Oktober hatten über 200 Bürgermeister aus Nordrhein-Westfalen einen Brandbrief an Kanzlerin Merkel geschrieben mit dem Tenor, die Kommunen seien mit der Flüchtlingsproblematik überfordert und – jetzt kommt’s – in dem Brief war auch die Rede davon, dass man viele, ich zitiere, "kommunale Pflichtaufgaben nicht oder nur noch sehr eingeschränkt erfüllen könne". – Ist das so? Können die Städte ihren üblichen Aufgaben im Interesse der Bürger nicht mehr richtig nachkommen?
Eva Lohse: Ich persönlich verstehe das nicht, weil ich kein Feld sehe, in dem Städte ihren kommunalen Aufgaben nicht mehr nachkommen. Ich weiß nicht, auf welche kommunalen Aufgaben das letztendlich bezogen ist. Wir haben eine große Aufgabe und eine große Herausforderung und wir müssen viel Kraft darauf aufwenden, diese Aufgabe zu erfüllen. Aber ich weiß, dass jeder Oberbürgermeister und Oberbürgermeisterin alles tut, damit eben die übrigen Aufgaben für die Menschen in der Stadt auch genauso erfüllt werden wie vor dieser Zeit.
Deutschlandradio Kultur: Ließen sich eigentlich die Hilfsangebote der Städte - Sie haben ja beschrieben, was da alles angeboten wird - ohne die freiwilligen Helfer aufrecht erhalten?
"Die Freiwilligen helfen uns enorm"
Eva Lohse: Vielerorts, glaube ich, nicht mehr. Wir brauchen diese freiwilligen Helfer gerade für diese Sprachunterrichte in der ersten Phase. Da helfen uns die freiwilligen Helfer enorm. Sie sind auch Ansprechpartner und Gesprächspartner für die Asylbewerber. Und das ist auch ganz wichtig. Und sie sind sozusagen auch diejenigen, die den Kontakt zur aufnehmenden Gesellschaft herstellen.
Es ist ganz wichtig, dass Ängste und Sorgen der Menschen zerstreut werden. Und sie werden am besten dadurch zerstreut, dass man Kontakt hält und auch Kontakt sucht mit Asylbewerbern und Flüchtlingen. Das hilft natürlich dann auch, Ängste und Sorgen zu zerstreuen. Es ist natürlich klar. Integration verlangt Anstrengungen von der aufnehmenden Gesellschaft, aber wir müssen eben auch Anstrengungen verlangen von den Menschen, die zu uns kommen.
Deutschlandradio Kultur: Passiert es denn gar nicht, dass Sie manchmal auch konfrontiert werden mit Aussagen wie "also, liebe Frau Lohse, es reicht jetzt, das schaffen wir alles nicht mehr" von Seiten der Bürgerschaft? Oder kommt so etwas gar nicht vor?
Eva Lohse: Das gibt es schon. Es gibt schon Menschen, die einfach Angst haben vor dem, was passiert, die Angst haben, dass man es nicht mehr bewältigen könnte diesen Zustrom, dass wir die Menschen nicht integrieren können. Und ich denke, wir dürfen diese Probleme, die es auch gibt, wir dürfen sie nicht verschweigen, sondern wir müssen mit den Menschen wirklich darüber reden. Aber wir müssen auch unmissverständlich klar machen, damit die Menschen Sicherheit haben, dass wir Vorgänge, wie sie beispielsweise in Köln passiert sind in der Silvesternacht, dass wir sie eben nicht tolerieren von unserem Staat und dass unsere Gesellschaft dieses nicht toleriert.
Und ich glaube, es ist ganz wichtig, dass wir sehr deutlich machen, was unsere Grundwerte sind und was für uns nicht verhandelbar ist. Und das versuche ich den Menschen, die mit Ängsten sich mir gegenüber äußern, klarzumachen, dass wir alles tun, um eben Integration voranzutreiben, aber ganz klar machen, was unsere Werte sind und was unsere Rechtsordnung bedeutet.
Präventiver Bau von Unterkünften
Deutschlandradio Kultur: Meine letzte Frage für heute, Frau Lohse: Zum Jahreswechsel hat Ulrich Maly, der Oberbürgermeister von Nürnberg und der Vizepräsident beim Deutschen Städtetag mit Blick auf die Lage der Kommunen gemahnt: "Es geht darum, aus dem Krisenmodus in einen geordneten Regelbetrieb zurückzufinden." - Was ist Ihr Fazit zehn Wochen später Anfang März? Sind die Städte noch immer im Krisenmodus? Oder ist trotz aller Probleme inzwischen Routine eingekehrt?
Eva Lohse: Es ist natürlich Routine insoweit eingekehrt, als dass wir uns eingestellt haben, dass wöchentlich Asylbewerber und Flüchtlinge zu uns kommen. Wir haben die Zahlen hoch gerechnet. Wir bauen präventiv Unterkünfte, damit eben Menschen nicht mehr in Zelten und Turnhallen untergebracht werden müssen. Aber die Herausforderung, die ist noch lange nicht bewältigt, weil mittel- und langfristig Herausforderungen zu stemmen sind, wie beispielsweise Wohnungsbau, wie Integration in den Arbeitsmarkt, wie die Sprachunterrichtung und die Sprachförderung. Das sind Aufgaben, die sind lange noch nicht beendet. Und da ist noch viel Arbeit vor uns.
Deutschlandradio Kultur: Ein schönes Schlusswort. Vielen Dank, Frau Lohse.