"Stalin symbolisiert vergangene Größe"
Der Diktator Josef Stalin werde insbesondere dort verehrt, wo die Bevölkerung dem Verlust des alten Imperiums nachtrauert, sagt der Historiker Jörg Baberowski angesichts der absehbaren Verherrlichung Stalins beim 65. Jahrestag des Kriegsendes in Russland am kommenden Sonntag.
Matthias Hanselmann: Übermorgen, am 9. Mai, feiert Russland zum 65. Mal einen Sieg, der dort der "Große Vaterländische" genannt wird: der Sieg über Hitler-Deutschland. 90.000 Soldaten werden über den Roten Platz marschieren, es wird eine Parade geben, wie sie Russland seit Langem nicht gesehen hat. Die neuesten russischen Raketen werden vorgeführt, dazu 150 Flugzeuge, auch Soldaten von den einstigen Verbündeten, also amerikanische, britische und französische Soldaten werden an der Parade teilnehmen. Im Vorfeld dieser Parade aber, da ist ein heftiger Streit entbrannt, denn teilnehmen soll auch Josef Stalin. Der Moskauer Oberbürgermeister Juri Luschkow hatte angekündigt, er werde Stalin-Plakate anbringen lassen, weithin sichtbar vor dem Bolschoi-Theater am Gorki- und im Siegespark zum Beispiel. Und nicht nur in Moskau wird Stalin präsent sein. In der Ukraine ist gerade ein Stalin-Denkmal eingeweiht worden, aus Spenden finanziert, bei dessen Einweihung zitierten Veteranen das Lob Adolf Hitlers: Stalin sei ein weitsichtiger Führer gewesen. Es regt sich Protest gegen diese Präsenz und Verklärung des Mannes, der ein Diktator und Massenmörder war. Wir sprechen mit Jörg Baberowski. Er ist für Professor für Geschichte Osteuropas an der Humboldt-Universität Berlin. Guten Tag, Herr Baberowski!
Jörg Baberowski: Guten Tag!
Hanselmann: Sind diese Proteste gegen diese Verherrlichung Stalins in Russland nennenswert?
Baberowski: Nein, diese Proteste sind leider nicht nennenswert. Es sind Proteste, die vor allem hier im Westen auffallen, weil wir uns daran gewöhnt haben, dass es kritische Stimmen gibt, aber in Russland selbst, glaube ich, sind diese Proteste eher der Ausdruck einer Minderheitenmeinung.
Hanselmann: Also die Stalin-Verehrung nach wie vor mehrheitlich. Ist sie auch in anderen Ländern der ehemaligen Sowjetunion vorhanden oder vorwiegend in Russland?
Baberowski: Na ja, es gibt sie insbesondere dort, wo eine große russische Bevölkerung lebt, also in der Ukraine, in Kasachstan, wo also die Bevölkerung dem Verlust des alten Imperiums nachtrauert, und natürlich in Georgien, dem Heimatland des Diktators, der bekanntlich kein Russe, sondern ein Georgier war.
Hanselmann: Wie äußert sich denn dieser Stalin-Kult, ist er durchweg völlig unkritisch dem Diktator gegenüber?
Baberowski: Ich glaube, ja, er ist unkritisch dem Diktator gegenüber, aber ich glaube, damit man das richtigstellt, es hat gar nicht mit den Verbrechen des Diktators zu tun, dass er gefeiert wird, sondern der Diktator ist eigentlich eher ein Symbol für das untergegangene Imperium. Er symbolisiert vergangene Größe, an die sich Menschen erinnern, und er ist ein Symbol für den Sieg im Zweiten Weltkrieg. Und der Sieg im Zweiten Weltkrieg war eine der wenigen Ereignissen, auf die viele Menschen mit Stolz zurückblicken konnten, und es gab wenig, auf das die Bevölkerung in der Sowjetunion stolz sein konnte. Und insofern fällt es dann leicht, über alle Verbrechen des Diktators hinwegzusehen.
Hanselmann: Das ist die eine Seite, die andere ist, dass Josef Stalin für Millionen von Toten verantwortlich gemacht wird, Opfer von Exekutionen, Opfer des Gulag und so weiter. Er hat fast die gesamte russische Elite ausgelöscht, das ist bekannt. Für uns ist kaum vorstellbar, dass man einen solchen Mann überhaupt immer noch verehrt und das, wie gehört, mehrheitlich. Welche Teile der russischen Bevölkerung betreiben denn diesen Stalin-Kult?
Baberowski: Ja, der Stalin-Kult wird ja vor allem betrieben – das ist das Empörende. Und empörend ist vor allem, dass sich im Westen überhaupt niemand darüber aufregt. Das hat ja allenfalls Platz in einer Randnotiz in einer Zeitung, das ist das eigentlich Empörende. Dass das in Russland geschieht, das verwundert einen nicht, weil es keinen Elitenwechsel gegeben hat. Das kommunistische Regime hat sich von oben aufgelöst, aber es hat keinen Elitenwechsel gegeben. Und es sind die gleichen Herren, die schon vor 1991 die Politik bestimmt haben, die auch jetzt darüber entscheiden, wie das alte Imperium repräsentiert werden soll. Man könnte also sagen, dass Stalin eine Figur ist, über die dieses Regime versucht, Anhängerschaft zu mobilisieren und Größe, imperiale Größe zu repräsentieren, die verloren gegangen ist. Genau dafür setzt das Regime den Diktator ein. Und vor allen Dingen ist es auch eine Repräsentation des neuen Regimes, das sich offenkundig nicht als eine Demokratie im westlichen Zuschnitt verstehen möchte. Und dafür steht diese Figur auch.
Hanselmann: Andererseits sagt dieses neue Regime, zumindest in Form des russischen Präsidenten Medwedew, ohne diese riesigen Opfer der Roten Armee wäre Europa heute kein moderner, blühender Kontinent, es wäre wahrscheinlich ein großes Konzentrationslager. Und er hängt gleich ran: Die damalige Führung in Moskau habe das Land zwar voranbringen wollen, allerdings habe Stalin massenhaft nicht zu verzeihende Verbrechen am eigenen Volk begangen. Stellt sich also die Frage: Wie geht denn die russische Führung wirklich damit um, sind das nur hohle Worte Medwedews?
Baberowski: Ja, das sind hohle Phrasen. Das Regime hat sich ja darauf verständigt, dass einer den bösen Buben und einer den freundlichen Herrn für den Westen spielt. Die Interpretation, die Medwedew vorstellt, die kann man sehr schnell entkräften mit dem Hinweis darauf, man möchte ja gern mal wissen, was die polnischen oder tschechischen Eliten darüber zu sagen hätten, dass der Sieg der Roten Armee im Zweiten Weltkrieg für den östlichen Teil unseres Kontinents eine Fortsetzung der Diktatur bedeutet hat. Und vor allem hatte es für die sowjetische Bevölkerung bedeutet, dass diese schreckliche stalinistische Diktatur fortgesetzt wurde. Das Regime ist in den 30er-Jahren geradezu am Abgrund gewesen, und der Zweite Weltkrieg war auch ein Ereignis, das es dem Regime ermöglicht hat zu überleben, das muss man auch sehen. Also in diesem Zusammenhang muss man das auch sehen.
Hanselmann: Hat es denn überhaupt eine Aufarbeitung der Rolle Russlands im Zweiten Weltkrieg, eine Auseinandersetzung mit Stalins Regime in der Sowjetunion gegeben?
Baberowski: Es hat in der Perestroikazeit, das wird oft vergessen, und in der früheren Jelzin-Ära in den 90er-Jahren hat es solche Debatten auch in Russland gegeben, unter den Historikern, unter den Intellektuellen. Der Zweite Weltkrieg allerdings ist ein Tabuthema gewesen und wird es auch bleiben, weil der Zweite Weltkrieg eben eine der ganz wenigen Identifikationssymbole für das alte Imperium gewesen ist. Man wird das nur verstehen, wenn man weiß, dass das Regime in den 60er-Jahren unter Leonid Breschnew erklärt hat, dass der Zweite Weltkrieg und der Große Vaterländische Krieg ein Ereignis war, das alle Völker der Sowjetunion und alle Menschen der Sowjetunion zusammengeschweißt hat und die Verbrechen Stalins vergessen ließ. Ich glaube, das ist von so großer Bedeutung, dass an diesem Mythos niemand rütteln möchte. Man könnte auch sagen, einmal in ihrem Leben durften Bauern Sieger sein, die ansonsten nur Schreckliches in ihrem Leben gesehen und erfahren hatten, und deshalb möchte auch niemand darauf verzichten. Das Problem ist nur, dass dieser schreckliche Diktator, dass er das Symbol genau für diese gemeinsam erreichte Leistung ist, das ist das eigentlich Schreckliche. Und das Regime setzt das bedenkenlos ein, dass die Menschen das so sehen.
Hanselmann: Herr Baberowski, wir wollen dennoch nicht verschweigen, dass es auch Proteste gibt. Wer protestiert denn gegen diesen Stalin-Kult und in welcher Form?
Baberowski: Es sind ja vor allem die Mitglieder der Gesellschaft MEMORIAL, die also die Opfer des Stalinismus vertreten, die dort protestieren. Aber wenn ich ganz offen sein soll, ist mein Eindruck, dass diese Gesellschaft und ihre Tätigkeit im Westen von größerem Bekanntheitsgrad ist als in Russland. Und ich glaube, dass der Einfluss dieser Gruppen, so ehrenhaft, wie es ist, und so sehr, wie ich diese Menschen bewundere, dass die eine größere Wirkung haben in den Ländern des Westens als in Russland. Man darf auch nicht vergessen, dass inzwischen die Medien gleichgeschaltet sind und vieles von dem, was wir hier wahrnehmen, in Russland überhaupt gar nicht präsent ist, weil es niemand mehr mitbekommt. Insofern sind diese Proteste notwendig, sie sind ehrenwert, aber sie werden nicht dazu führen, dass es zu einer Aufarbeitung kommt, weil dieses Regime insbesondere den Zweiten Weltkrieg für seine Zwecke instrumentalisiert. Und gegen den Zweiten Weltkrieg kann man nicht anreden, das ist einfach unmöglich in der russischen Öffentlichkeit. Und deshalb ist diese Verbindung zwischen Stalin und Zweiter Weltkrieg gerade die perfide Methode der Eliten, diesen Stalin als einen großen Helden zu symbolisieren.
Hanselmann: Heißt das denn, dass auch Opfer des Stalin-Systems, also Opfer des Gulag zum Beispiel, zu den Stalin-Verehrern gehören beziehungsweise deren Angehörige?
Baberowski: Ja. Und das ist auch kein Widerspruch. Das werden wir nicht verstehen, dass das so ist, aber man konnte ein Stalin-Opfer sein und ein Stalin-Bewunderer sein. Und das hängt genau mit den Erfahrungen zusammen, die die Menschen in den Jahren des Zweiten Weltkrieges gemacht hatten, und mit der Erfahrung, dass nach dem Zweiten Weltkrieg, als der Massenterror – der hörte ja im Grunde in den 40er-Jahren langsam auf, in den 50er-Jahren wurde er dann durch Nikita Chruschtschow ganz eingestellt –, dass nach den Jahren des Massenterrors man sich darauf verabreden konnte zu schweigen und Täter und Opfer in eine große Siegergemeinschaft eingeordnet werden konnten. Und weil das so war, konnte man den Diktator, der das Imperium verklammert und ein Symbol war, den konnte man als eine Symbolfigur nehmen für das gemeinsam Durchgestandene. Und so hat man das Paradoxe, dass auf der einen Seite die Opfer den Terror beklagen und auf der anderen Seite Bewunderer des Diktators sein können.
Hanselmann: Herr Baberowski, wie ernst sollte die Stalin-Verehrung genommen werden aus westlicher Sicht? Es heißt, Barack Obama habe seine Teilnahme an der Parade übermorgen abgesagt, weil Stalin überall zu präsent sei. Ist das ein gutes Signal?
Baberowski: Ja, finde ich sehr gut, ist großartig. Das fehlt mir in Europa, dass jemand die russischen Eliten darauf hinweist, dass wir solche Repräsentationen nicht dulden und dass es nicht angehen kann, dass in Gegenwart von Regierungschefs aus demokratischen Staaten ein Massenmörder repräsentiert wird, von dem auch jeder weiß, dass er ein Massenmörder war und schreckliche Dinge angerichtet hat. Gegenüber den Regierungen in Ostmitteleuropa ist geradezu eine zynische, eine zynische Repräsentation, die man nicht akzeptieren kann. Und ich bin sehr froh, dass der amerikanische Präsident sich in dieser Richtung geäußert hat.
Hanselmann: Vielen herzlichen Dank, Jörg Baberowski, Professor für die Geschichte Osteuropas an der Humboldt-Universität in Berlin! Guten Tag, danke schön!
Baberowski: Ja, vielen Dank!
Jörg Baberowski: Guten Tag!
Hanselmann: Sind diese Proteste gegen diese Verherrlichung Stalins in Russland nennenswert?
Baberowski: Nein, diese Proteste sind leider nicht nennenswert. Es sind Proteste, die vor allem hier im Westen auffallen, weil wir uns daran gewöhnt haben, dass es kritische Stimmen gibt, aber in Russland selbst, glaube ich, sind diese Proteste eher der Ausdruck einer Minderheitenmeinung.
Hanselmann: Also die Stalin-Verehrung nach wie vor mehrheitlich. Ist sie auch in anderen Ländern der ehemaligen Sowjetunion vorhanden oder vorwiegend in Russland?
Baberowski: Na ja, es gibt sie insbesondere dort, wo eine große russische Bevölkerung lebt, also in der Ukraine, in Kasachstan, wo also die Bevölkerung dem Verlust des alten Imperiums nachtrauert, und natürlich in Georgien, dem Heimatland des Diktators, der bekanntlich kein Russe, sondern ein Georgier war.
Hanselmann: Wie äußert sich denn dieser Stalin-Kult, ist er durchweg völlig unkritisch dem Diktator gegenüber?
Baberowski: Ich glaube, ja, er ist unkritisch dem Diktator gegenüber, aber ich glaube, damit man das richtigstellt, es hat gar nicht mit den Verbrechen des Diktators zu tun, dass er gefeiert wird, sondern der Diktator ist eigentlich eher ein Symbol für das untergegangene Imperium. Er symbolisiert vergangene Größe, an die sich Menschen erinnern, und er ist ein Symbol für den Sieg im Zweiten Weltkrieg. Und der Sieg im Zweiten Weltkrieg war eine der wenigen Ereignissen, auf die viele Menschen mit Stolz zurückblicken konnten, und es gab wenig, auf das die Bevölkerung in der Sowjetunion stolz sein konnte. Und insofern fällt es dann leicht, über alle Verbrechen des Diktators hinwegzusehen.
Hanselmann: Das ist die eine Seite, die andere ist, dass Josef Stalin für Millionen von Toten verantwortlich gemacht wird, Opfer von Exekutionen, Opfer des Gulag und so weiter. Er hat fast die gesamte russische Elite ausgelöscht, das ist bekannt. Für uns ist kaum vorstellbar, dass man einen solchen Mann überhaupt immer noch verehrt und das, wie gehört, mehrheitlich. Welche Teile der russischen Bevölkerung betreiben denn diesen Stalin-Kult?
Baberowski: Ja, der Stalin-Kult wird ja vor allem betrieben – das ist das Empörende. Und empörend ist vor allem, dass sich im Westen überhaupt niemand darüber aufregt. Das hat ja allenfalls Platz in einer Randnotiz in einer Zeitung, das ist das eigentlich Empörende. Dass das in Russland geschieht, das verwundert einen nicht, weil es keinen Elitenwechsel gegeben hat. Das kommunistische Regime hat sich von oben aufgelöst, aber es hat keinen Elitenwechsel gegeben. Und es sind die gleichen Herren, die schon vor 1991 die Politik bestimmt haben, die auch jetzt darüber entscheiden, wie das alte Imperium repräsentiert werden soll. Man könnte also sagen, dass Stalin eine Figur ist, über die dieses Regime versucht, Anhängerschaft zu mobilisieren und Größe, imperiale Größe zu repräsentieren, die verloren gegangen ist. Genau dafür setzt das Regime den Diktator ein. Und vor allen Dingen ist es auch eine Repräsentation des neuen Regimes, das sich offenkundig nicht als eine Demokratie im westlichen Zuschnitt verstehen möchte. Und dafür steht diese Figur auch.
Hanselmann: Andererseits sagt dieses neue Regime, zumindest in Form des russischen Präsidenten Medwedew, ohne diese riesigen Opfer der Roten Armee wäre Europa heute kein moderner, blühender Kontinent, es wäre wahrscheinlich ein großes Konzentrationslager. Und er hängt gleich ran: Die damalige Führung in Moskau habe das Land zwar voranbringen wollen, allerdings habe Stalin massenhaft nicht zu verzeihende Verbrechen am eigenen Volk begangen. Stellt sich also die Frage: Wie geht denn die russische Führung wirklich damit um, sind das nur hohle Worte Medwedews?
Baberowski: Ja, das sind hohle Phrasen. Das Regime hat sich ja darauf verständigt, dass einer den bösen Buben und einer den freundlichen Herrn für den Westen spielt. Die Interpretation, die Medwedew vorstellt, die kann man sehr schnell entkräften mit dem Hinweis darauf, man möchte ja gern mal wissen, was die polnischen oder tschechischen Eliten darüber zu sagen hätten, dass der Sieg der Roten Armee im Zweiten Weltkrieg für den östlichen Teil unseres Kontinents eine Fortsetzung der Diktatur bedeutet hat. Und vor allem hatte es für die sowjetische Bevölkerung bedeutet, dass diese schreckliche stalinistische Diktatur fortgesetzt wurde. Das Regime ist in den 30er-Jahren geradezu am Abgrund gewesen, und der Zweite Weltkrieg war auch ein Ereignis, das es dem Regime ermöglicht hat zu überleben, das muss man auch sehen. Also in diesem Zusammenhang muss man das auch sehen.
Hanselmann: Hat es denn überhaupt eine Aufarbeitung der Rolle Russlands im Zweiten Weltkrieg, eine Auseinandersetzung mit Stalins Regime in der Sowjetunion gegeben?
Baberowski: Es hat in der Perestroikazeit, das wird oft vergessen, und in der früheren Jelzin-Ära in den 90er-Jahren hat es solche Debatten auch in Russland gegeben, unter den Historikern, unter den Intellektuellen. Der Zweite Weltkrieg allerdings ist ein Tabuthema gewesen und wird es auch bleiben, weil der Zweite Weltkrieg eben eine der ganz wenigen Identifikationssymbole für das alte Imperium gewesen ist. Man wird das nur verstehen, wenn man weiß, dass das Regime in den 60er-Jahren unter Leonid Breschnew erklärt hat, dass der Zweite Weltkrieg und der Große Vaterländische Krieg ein Ereignis war, das alle Völker der Sowjetunion und alle Menschen der Sowjetunion zusammengeschweißt hat und die Verbrechen Stalins vergessen ließ. Ich glaube, das ist von so großer Bedeutung, dass an diesem Mythos niemand rütteln möchte. Man könnte auch sagen, einmal in ihrem Leben durften Bauern Sieger sein, die ansonsten nur Schreckliches in ihrem Leben gesehen und erfahren hatten, und deshalb möchte auch niemand darauf verzichten. Das Problem ist nur, dass dieser schreckliche Diktator, dass er das Symbol genau für diese gemeinsam erreichte Leistung ist, das ist das eigentlich Schreckliche. Und das Regime setzt das bedenkenlos ein, dass die Menschen das so sehen.
Hanselmann: Herr Baberowski, wir wollen dennoch nicht verschweigen, dass es auch Proteste gibt. Wer protestiert denn gegen diesen Stalin-Kult und in welcher Form?
Baberowski: Es sind ja vor allem die Mitglieder der Gesellschaft MEMORIAL, die also die Opfer des Stalinismus vertreten, die dort protestieren. Aber wenn ich ganz offen sein soll, ist mein Eindruck, dass diese Gesellschaft und ihre Tätigkeit im Westen von größerem Bekanntheitsgrad ist als in Russland. Und ich glaube, dass der Einfluss dieser Gruppen, so ehrenhaft, wie es ist, und so sehr, wie ich diese Menschen bewundere, dass die eine größere Wirkung haben in den Ländern des Westens als in Russland. Man darf auch nicht vergessen, dass inzwischen die Medien gleichgeschaltet sind und vieles von dem, was wir hier wahrnehmen, in Russland überhaupt gar nicht präsent ist, weil es niemand mehr mitbekommt. Insofern sind diese Proteste notwendig, sie sind ehrenwert, aber sie werden nicht dazu führen, dass es zu einer Aufarbeitung kommt, weil dieses Regime insbesondere den Zweiten Weltkrieg für seine Zwecke instrumentalisiert. Und gegen den Zweiten Weltkrieg kann man nicht anreden, das ist einfach unmöglich in der russischen Öffentlichkeit. Und deshalb ist diese Verbindung zwischen Stalin und Zweiter Weltkrieg gerade die perfide Methode der Eliten, diesen Stalin als einen großen Helden zu symbolisieren.
Hanselmann: Heißt das denn, dass auch Opfer des Stalin-Systems, also Opfer des Gulag zum Beispiel, zu den Stalin-Verehrern gehören beziehungsweise deren Angehörige?
Baberowski: Ja. Und das ist auch kein Widerspruch. Das werden wir nicht verstehen, dass das so ist, aber man konnte ein Stalin-Opfer sein und ein Stalin-Bewunderer sein. Und das hängt genau mit den Erfahrungen zusammen, die die Menschen in den Jahren des Zweiten Weltkrieges gemacht hatten, und mit der Erfahrung, dass nach dem Zweiten Weltkrieg, als der Massenterror – der hörte ja im Grunde in den 40er-Jahren langsam auf, in den 50er-Jahren wurde er dann durch Nikita Chruschtschow ganz eingestellt –, dass nach den Jahren des Massenterrors man sich darauf verabreden konnte zu schweigen und Täter und Opfer in eine große Siegergemeinschaft eingeordnet werden konnten. Und weil das so war, konnte man den Diktator, der das Imperium verklammert und ein Symbol war, den konnte man als eine Symbolfigur nehmen für das gemeinsam Durchgestandene. Und so hat man das Paradoxe, dass auf der einen Seite die Opfer den Terror beklagen und auf der anderen Seite Bewunderer des Diktators sein können.
Hanselmann: Herr Baberowski, wie ernst sollte die Stalin-Verehrung genommen werden aus westlicher Sicht? Es heißt, Barack Obama habe seine Teilnahme an der Parade übermorgen abgesagt, weil Stalin überall zu präsent sei. Ist das ein gutes Signal?
Baberowski: Ja, finde ich sehr gut, ist großartig. Das fehlt mir in Europa, dass jemand die russischen Eliten darauf hinweist, dass wir solche Repräsentationen nicht dulden und dass es nicht angehen kann, dass in Gegenwart von Regierungschefs aus demokratischen Staaten ein Massenmörder repräsentiert wird, von dem auch jeder weiß, dass er ein Massenmörder war und schreckliche Dinge angerichtet hat. Gegenüber den Regierungen in Ostmitteleuropa ist geradezu eine zynische, eine zynische Repräsentation, die man nicht akzeptieren kann. Und ich bin sehr froh, dass der amerikanische Präsident sich in dieser Richtung geäußert hat.
Hanselmann: Vielen herzlichen Dank, Jörg Baberowski, Professor für die Geschichte Osteuropas an der Humboldt-Universität in Berlin! Guten Tag, danke schön!
Baberowski: Ja, vielen Dank!