Stalinistische Menschenfresser
Im Rahmen der stalinistischen Säuberungen wurden hunderttausende "Systemfeinde" 1933 in Lager nach Westsibirien und Kasachstan deportiert. Mehr als 6000 Deportierte werden auf einer unwirtlichen Insel im sibirischen Strom Ob ausgesetzt. Es kommt zu bestialischen Handlungen, es wird gefoltert und gemordet, die Wächter essen ihre Opfer auf. Der französische Historiker Nicolas Werth schildert die unglaublichen Vorgänge in seinem Buch "Die Insel der Kannibalen".
Moskau, Anfang 1933. Genrich Jagoda, Chef der gefürchteten Geheimpolizei GPU, unterbreitet Stalin einen "großartigen Plan": In einer Blitzaktion könnten "antisowjetische Elemente" in den großen Städten zusammengetrieben und anschließend deportiert werden - je eine Million nach Westsibirien und Kasachstan. Als "antisowjetisch" oder "sozial schädlich" gelten angebliche Großbauern (die "Kulaken"), "Ehemalige" aller Art (zaristische Offiziere, "Ausbeuter" etc.) sowie Bettler, Landstreicher, Kriminelle. In Tausenden "Arbeitsdörfern", unter Aufsicht der Geheimpolizei, sollen die "Sonderumsiedler" genannten Kolonisten die Wildnis erschließen. Binnen zwei Jahren, das glaubt der GPU-Chef, würden die Zwangsarbeiter "den Staat von jeder Unterhaltsleistung entlasten" und sogar Gewinn bringen.
Stalin billigt den Plan; Jagodas Häscher gehen auf die Jagd. Wer in Moskau oder Leningrad seine Papiere daheim vergaß, wer an einem Stadtbahnhof wie ein Landmann aussieht, wer als Passant vor dem "Tag der Arbeit", dem 1. Mai, zufällig einer Patrouille in die Arme läuft, ist verloren. Auch Frauen und Kinder, auch Ärzte, Ingenieure, selbst verdienstvolle Kommunisten - die Häscher greifen wahllos zu.
Im sibirischen Tomsk, 2500 Kilometer östlich von Moskau, enden kurz darauf Güterzüge voller hungernder Menschen, Tag für Tag. Die Behörden sind entsetzt über die Massen an "Halbleichen". Sofort schicken sie die Unglücklichen weiter, auf Lastkähnen, ohne Ausrüstung. Hin und wieder empört sich ein Parteimitglied über das von der Führung verursachte Chaos; ein Vorgesetzter erwidert: "Glauben Sie wirklich, diese Elemente seien zur Umerziehung hierher geschickt worden? Nein, Genosse, wir müssen es so einrichten, dass alle bis zum Frühjahr umgekommen sind. Sie sehen ja selbst, in welchem Zustand sie hier ankommen, völlig zerlumpt, geradezu nackt..."
Mai 1933: Mehr als 6.000 Deportierte landen auf einer Insel im Fluss Ob, genauer: Sie werden am Strom ausgesetzt, abgekippt, 900 Kilometer von Tomsk entfernt. Nasino heißt das Eiland; es ist drei Kilometer lang, 500 Meter breit und für eine Besiedlung ungeeignet. Die "Kolonisten" haben keine Unterkünfte, zu essen gibt es etwas Mehl, vermischt mit Flusswasser, die eilig rekrutierten Wachen waren eben noch Tagediebe in der Stadt.
Im Handumdrehen gerät die Situation auf Nasino außer Kontrolle. Die Hungernden begehren auf. Und die Wächter errichten, zusammen mit Kriminellen, ein Schreckensregime. Für die neuen Inselherrscher sind diese "Umsiedler" Freiwild; sie jagen die Schwachen, wie man Wild hetzt. Sie quälen, sie foltern und sie morden, um den Toten die Kleider zu rauben, die Goldkronen - oder um ihre "Beute" zu essen. Es herrscht Kannibalismus. Einwohner naher Dörfer sehen Menschenfleisch zum Trocknen in die Bäume gehängt. Die Illusion von der perfekten Gesellschaft, radikal vorangetrieben, vernichtet am Ende die Zivilisation...
Juni 1933: Nach nur vier Wochen ist Nasino wieder leer. Tausende Menschen fliehen auf Flößen, die meisten ertrinken im Strom. Überlebende streifen in Banden durch die Wälder, ein Rest wird fortgeschafft, noch tiefer in die Ödnis hinein.
Die Behörden wollen die Affäre vertuschen, doch der Fall wird bekannt - weil ein junger Parteifunktionär die oberste Führung informiert. Im September 1933 schickt Stalin eine Kommission in die Wildnis. Die Ermittler produzieren stapelweise Akten, sie registrieren Dutzende Fälle von Kannibalismus auf Nasino, und für den "großen Plan" der Besiedlung ziehen sie eine vernichtende Bilanz.
Von insgesamt 10.000 Deportierten des Frühsommers in der Region sind fast zwei Drittel "verschwunden": geflohen, gestorben, ermordet.
"Die Insel der Kannibalen" - eine erschütternde Studie. Ihr Verfasser, Nicolas Werth, ist ein renommierter französischer Historiker; bekannt wurde er als Co-Autor des gefeierten und umstrittenen "Schwarzbuchs des Kommunismus" (1997).
Mit der jüngsten Monographie hat Werth nach Angaben seines deutschen Verlags als Forscher abermals Neuland betreten. "Erstmals" erzähle er "ein bisher unbekanntes Kapitel aus der Geschichte des stalinistischen Lagersystems". Erstmalig und unbekannt? Das stimmt nicht. Die Vorkommnisse, lange tabu und vergessen, kamen nach 1990 wieder ans Licht. Russische Wissenschaftler und Opfer des früheren Terrorregimes führten Interviews mit zahlreichen Zeugen und publizierten ihre Erkenntnisse (samt dem Bericht der Kommission von 1933). Auf diese Publikationen stützte sich der französische Autor, er beschreibt die Quellen im Buch. Werth selbst ist wohl nie in Nasino gewesen.
Eine "glänzend geschriebene Darstellung" verspricht der Klappentext, doch auch in dieser Beziehung irrt der Verlag. Mängel in Systematik und Stil erschweren den Zugang zum zweifellos dramatischen Stoff: Die unklare Gliederung, Abschweifungen und Wiederholungen, Daten und Zahlen im Übermaß, eine Schwemme an Füllwörtern, aufgeblähte Sätze...
Was ist nun gut und neu an diesem Buch? Der Autor machte den Modellfall Nasino in Westeuropa bekannt. Er bettete ihn ein in die grauenvollen Geschehnisse der sowjetischen Dreißiger - von den Hungersnöten zu Beginn des Jahrzehnts bis zum "Großen Terror". Und er nutzte bislang unzugängliche Dokumente aus dem Archiv des russischen Geheimdienstes.
"Werths Werk ist der hellsichtige Bericht über eine bürokratische Utopie, die im Gemetzel endet", schrieb "Le Monde". Ein Teil dieser auf Haft- und Arbeitslagern gegründeten Utopie, das sei hinzugefügt, ist in Russland noch immer grausige Realität.
Rezensiert von Uwe Stolzmann
Nicolas Werth: Die Insel der Kannibalen. Stalins vergessener Gulag
Aus dem Französischen von Enrico Heinemann und Norbert Juraschitz
Siedler Verlag, München 2006
224 S., EUR 19,95
Stalin billigt den Plan; Jagodas Häscher gehen auf die Jagd. Wer in Moskau oder Leningrad seine Papiere daheim vergaß, wer an einem Stadtbahnhof wie ein Landmann aussieht, wer als Passant vor dem "Tag der Arbeit", dem 1. Mai, zufällig einer Patrouille in die Arme läuft, ist verloren. Auch Frauen und Kinder, auch Ärzte, Ingenieure, selbst verdienstvolle Kommunisten - die Häscher greifen wahllos zu.
Im sibirischen Tomsk, 2500 Kilometer östlich von Moskau, enden kurz darauf Güterzüge voller hungernder Menschen, Tag für Tag. Die Behörden sind entsetzt über die Massen an "Halbleichen". Sofort schicken sie die Unglücklichen weiter, auf Lastkähnen, ohne Ausrüstung. Hin und wieder empört sich ein Parteimitglied über das von der Führung verursachte Chaos; ein Vorgesetzter erwidert: "Glauben Sie wirklich, diese Elemente seien zur Umerziehung hierher geschickt worden? Nein, Genosse, wir müssen es so einrichten, dass alle bis zum Frühjahr umgekommen sind. Sie sehen ja selbst, in welchem Zustand sie hier ankommen, völlig zerlumpt, geradezu nackt..."
Mai 1933: Mehr als 6.000 Deportierte landen auf einer Insel im Fluss Ob, genauer: Sie werden am Strom ausgesetzt, abgekippt, 900 Kilometer von Tomsk entfernt. Nasino heißt das Eiland; es ist drei Kilometer lang, 500 Meter breit und für eine Besiedlung ungeeignet. Die "Kolonisten" haben keine Unterkünfte, zu essen gibt es etwas Mehl, vermischt mit Flusswasser, die eilig rekrutierten Wachen waren eben noch Tagediebe in der Stadt.
Im Handumdrehen gerät die Situation auf Nasino außer Kontrolle. Die Hungernden begehren auf. Und die Wächter errichten, zusammen mit Kriminellen, ein Schreckensregime. Für die neuen Inselherrscher sind diese "Umsiedler" Freiwild; sie jagen die Schwachen, wie man Wild hetzt. Sie quälen, sie foltern und sie morden, um den Toten die Kleider zu rauben, die Goldkronen - oder um ihre "Beute" zu essen. Es herrscht Kannibalismus. Einwohner naher Dörfer sehen Menschenfleisch zum Trocknen in die Bäume gehängt. Die Illusion von der perfekten Gesellschaft, radikal vorangetrieben, vernichtet am Ende die Zivilisation...
Juni 1933: Nach nur vier Wochen ist Nasino wieder leer. Tausende Menschen fliehen auf Flößen, die meisten ertrinken im Strom. Überlebende streifen in Banden durch die Wälder, ein Rest wird fortgeschafft, noch tiefer in die Ödnis hinein.
Die Behörden wollen die Affäre vertuschen, doch der Fall wird bekannt - weil ein junger Parteifunktionär die oberste Führung informiert. Im September 1933 schickt Stalin eine Kommission in die Wildnis. Die Ermittler produzieren stapelweise Akten, sie registrieren Dutzende Fälle von Kannibalismus auf Nasino, und für den "großen Plan" der Besiedlung ziehen sie eine vernichtende Bilanz.
Von insgesamt 10.000 Deportierten des Frühsommers in der Region sind fast zwei Drittel "verschwunden": geflohen, gestorben, ermordet.
"Die Insel der Kannibalen" - eine erschütternde Studie. Ihr Verfasser, Nicolas Werth, ist ein renommierter französischer Historiker; bekannt wurde er als Co-Autor des gefeierten und umstrittenen "Schwarzbuchs des Kommunismus" (1997).
Mit der jüngsten Monographie hat Werth nach Angaben seines deutschen Verlags als Forscher abermals Neuland betreten. "Erstmals" erzähle er "ein bisher unbekanntes Kapitel aus der Geschichte des stalinistischen Lagersystems". Erstmalig und unbekannt? Das stimmt nicht. Die Vorkommnisse, lange tabu und vergessen, kamen nach 1990 wieder ans Licht. Russische Wissenschaftler und Opfer des früheren Terrorregimes führten Interviews mit zahlreichen Zeugen und publizierten ihre Erkenntnisse (samt dem Bericht der Kommission von 1933). Auf diese Publikationen stützte sich der französische Autor, er beschreibt die Quellen im Buch. Werth selbst ist wohl nie in Nasino gewesen.
Eine "glänzend geschriebene Darstellung" verspricht der Klappentext, doch auch in dieser Beziehung irrt der Verlag. Mängel in Systematik und Stil erschweren den Zugang zum zweifellos dramatischen Stoff: Die unklare Gliederung, Abschweifungen und Wiederholungen, Daten und Zahlen im Übermaß, eine Schwemme an Füllwörtern, aufgeblähte Sätze...
Was ist nun gut und neu an diesem Buch? Der Autor machte den Modellfall Nasino in Westeuropa bekannt. Er bettete ihn ein in die grauenvollen Geschehnisse der sowjetischen Dreißiger - von den Hungersnöten zu Beginn des Jahrzehnts bis zum "Großen Terror". Und er nutzte bislang unzugängliche Dokumente aus dem Archiv des russischen Geheimdienstes.
"Werths Werk ist der hellsichtige Bericht über eine bürokratische Utopie, die im Gemetzel endet", schrieb "Le Monde". Ein Teil dieser auf Haft- und Arbeitslagern gegründeten Utopie, das sei hinzugefügt, ist in Russland noch immer grausige Realität.
Rezensiert von Uwe Stolzmann
Nicolas Werth: Die Insel der Kannibalen. Stalins vergessener Gulag
Aus dem Französischen von Enrico Heinemann und Norbert Juraschitz
Siedler Verlag, München 2006
224 S., EUR 19,95