Stalins Pläne für Nachkriegsdeutschland
Stalin wollte kein neutrales, sondern EIN Sowjet-Deutschland. Das belegt der Rechenschaftsbericht des sowjetischen Oberst Sergej Tjul´panov, den dieser 1948 der politischen Führung in Moskau vorlegte. Gerhard Wettig, der den Text ediert hat, liefert im ersten Teil des Bandes eine sachliche und kenntnisreiche Analyse der sowjetischen Besatzungspolitik nach 1945.
Was wollte Stalin? Wollte er die DDR? Hätte er ein einheitliches Deutschland bevorzugt, wenn es zur Neutralität verpflichtet gewesen wäre? Hätten die Westmächte durch Verzicht auf den Kalten Krieg die Teilung Deutschlands verhindern können?
All diese Fragen haben Publizisten, Politik- und Geschichtswissenschaftler Jahrzehnte lang umgetrieben. Schon 1952 tobte eine heftige Debatte in der Bundesrepublik, als die Stalin-Note den Anschein erweckte, bei einer Neutralisierung Deutschlands, einem Verzicht der Bundesrepublik auf die Westbindung, wäre eine Wiedervereinigung möglich. Und noch 1994 veröffentlichte der Historiker und Politikwissenschaftler Wilfried Loth ein Buch unter dem Titel: "Stalins ungeliebtes Kind. Warum Moskau die DDR nicht wollte".
Vor diesem Hintergrund ist eine geschichtswissenschaftliche Veröffentlichung interessant, die sich eigentlich eher an das Fachpublikum wendet. Gerhard Wettig, der sich wie kaum ein zweiter Geschichtsforscher durch die Akten des Kalten Krieges gewühlt hat, hat eines der aufschlussreichsten Dokumente der sowjetischen Deutschlandpolitik nach dem Krieg in deutscher Übersetzung herausgegeben: den Rechenschaftsbericht des sowjetischen Oberst Sergej Tjul´panov an seine Vorgesetzten und die politische Führung in Moskau 1948.
Drei Jahre lang, von 1945 bis 1948, hatte Tjul´panov in Deutschland eine heikle Mission zu erfüllen: Er sollte dafür sorgen, dass sich die Deutschen freiwillig den politischen Vorgaben der Sowjetischen Militäradministration (SMAD) fügten. Mehr noch: dass sie den Aufbau eines sozialistischen Systems als ihr eigenes Anliegen begriffen. Die Anleitung von Parteien, Gewerkschaften, Massenorganisationen und Medien war seine Aufgabe – eine spezielle Form von Öffentlichkeitsarbeit. 1948 musste er seinen Posten räumen und wurde in die Sowjetunion zurückbeordert, da die Partei- und Militärführung mit den Ergebnissen unzufrieden war. In dieser Situation schrieb Tjul´panov den von Wettig edierten Bericht, in dem er seine Aufgaben, seine Aktivitäten und die Schwierigkeiten seiner Mission in Deutschland erklärte.
Dieser Bericht dokumentiert in vielen Details die grundsätzliche Schwierigkeit der sowjetischen Deutschlandpolitik. In Moskau hatte man erwartet, dass sich die Deutschen sich in den Aufbau eines Sowjetsozialismus fügen würden, die Widerstände dagegen hatten sie unterschätzt. Das Dokument ist natürlich eine historische Quelle –insofern eine "Lektüre für Fortgeschrittene", die Einblicke in die Argumentation und Gedankenwelt leitender SMAD-Kader in der SBZ nach 1945 bekommen wollen. Doch das Buch besteht aus zwei Teilen: Im ersten Teil beschreibt Gerhard Wettig die Grundzüge der sowjetischen Deutschlandpolitik nach 1945, und allein dieser Text ist ausgesprochen lesenswert.
Wettig kennt die Quellen wie kein zweiter, und auf dieser Grundlage entzieht er jeder Legendenbildung um die deutsche Teilung den Boden. Stalin wollte nicht die DDR, das ist wahr, denn seine Vision war eine andere: Er sah eine realistische Chance, ganz Deutschland und letztlich ganz Europa in seine Gewalt zu bekommen. Auf dieses Ziel war seine Nachkriegspolitik ausgerichtet. Vor Kriegsende hatte US-Präsident Roosevelt in einem Gespräch mit Stalin zu erkennen gegeben, dass die USA in nicht allzu ferner Zeit nach Kriegsende ihre Streitkräfte aus Europa zurückziehen würden. Auf diese Hoffnung, den Amerikanern als Hegemonialmacht in Europa nachzufolgen, war Stalins Deutschland- und Europapolitik ausgerichtet.
Eindrucksvoll beschreibt Wettig Stalins Doppelstrategie, einerseits in der eigenen Zone eigene Vorstellungen durchzusetzen, andererseits den Anschein politischer Offenheit zu wahren, um die nötige Zeit bis zum erwarteten US-Abzug zu gewinnen. Stets war der Blick über die SBZ hinaus auf ganz Deutschland gerichtet. Bis 1947 gelang es Stalin, die wirtschaftliche Erholung auch in den Westzonen zu blockieren. Erst Stalins Kompromisslosigkeit in dieser Frage führte dazu, dass die Westmächte ihre eigenen Wege gingen, um ihre Zonen nicht länger versorgen zu müssen. Wettigs fundiert belegte Schlussfolgerung: Nicht der Westen entfachte den Kalten Krieg, sondern der sowjetische Machthaber.
Auch für diesen Text gilt: Es ist "Lektüre für Fortgeschrittene", denn Wettig verfasst keinen Nachkriegsthriller, sondern schreibt betont nüchtern und sachlich. Das aber ist ein unschätzbarer Vorteil: Er meidet jede Diktion des Kalten Krieges, jede Polemik, sondern analysiert kühl, was hinter den Merkwürdigkeiten der sowjetischen Besatzungspolitik steckt. Das Ergebnis ist eindeutig: Die Diskussionen der vergangenen Jahre haben sich erledigt. Stalin wollte kein neutrales, sondern ein Sowjet-Deutschland. Und als das nicht mehr möglich war, formte er den Teil, auf den er direkten Einfluss hatte, so, wie er gern ganz Deutschland und Europa geformt hätte.
Besprochen von Winfried Sträter
Gerhard Wettig (Hg.): Der Tjul´panov-Bericht - Sowjetische Besatzungspolitik in Deutschland nach dem Zweiten Weltkrieg
Herausgegeben vom Hannah-Arendt-Institut für Totalitarismusforschung als Band 63 der Reihe "Berichte und Studien"
Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 2012
424 Seiten, 39,90 Euro
All diese Fragen haben Publizisten, Politik- und Geschichtswissenschaftler Jahrzehnte lang umgetrieben. Schon 1952 tobte eine heftige Debatte in der Bundesrepublik, als die Stalin-Note den Anschein erweckte, bei einer Neutralisierung Deutschlands, einem Verzicht der Bundesrepublik auf die Westbindung, wäre eine Wiedervereinigung möglich. Und noch 1994 veröffentlichte der Historiker und Politikwissenschaftler Wilfried Loth ein Buch unter dem Titel: "Stalins ungeliebtes Kind. Warum Moskau die DDR nicht wollte".
Vor diesem Hintergrund ist eine geschichtswissenschaftliche Veröffentlichung interessant, die sich eigentlich eher an das Fachpublikum wendet. Gerhard Wettig, der sich wie kaum ein zweiter Geschichtsforscher durch die Akten des Kalten Krieges gewühlt hat, hat eines der aufschlussreichsten Dokumente der sowjetischen Deutschlandpolitik nach dem Krieg in deutscher Übersetzung herausgegeben: den Rechenschaftsbericht des sowjetischen Oberst Sergej Tjul´panov an seine Vorgesetzten und die politische Führung in Moskau 1948.
Drei Jahre lang, von 1945 bis 1948, hatte Tjul´panov in Deutschland eine heikle Mission zu erfüllen: Er sollte dafür sorgen, dass sich die Deutschen freiwillig den politischen Vorgaben der Sowjetischen Militäradministration (SMAD) fügten. Mehr noch: dass sie den Aufbau eines sozialistischen Systems als ihr eigenes Anliegen begriffen. Die Anleitung von Parteien, Gewerkschaften, Massenorganisationen und Medien war seine Aufgabe – eine spezielle Form von Öffentlichkeitsarbeit. 1948 musste er seinen Posten räumen und wurde in die Sowjetunion zurückbeordert, da die Partei- und Militärführung mit den Ergebnissen unzufrieden war. In dieser Situation schrieb Tjul´panov den von Wettig edierten Bericht, in dem er seine Aufgaben, seine Aktivitäten und die Schwierigkeiten seiner Mission in Deutschland erklärte.
Dieser Bericht dokumentiert in vielen Details die grundsätzliche Schwierigkeit der sowjetischen Deutschlandpolitik. In Moskau hatte man erwartet, dass sich die Deutschen sich in den Aufbau eines Sowjetsozialismus fügen würden, die Widerstände dagegen hatten sie unterschätzt. Das Dokument ist natürlich eine historische Quelle –insofern eine "Lektüre für Fortgeschrittene", die Einblicke in die Argumentation und Gedankenwelt leitender SMAD-Kader in der SBZ nach 1945 bekommen wollen. Doch das Buch besteht aus zwei Teilen: Im ersten Teil beschreibt Gerhard Wettig die Grundzüge der sowjetischen Deutschlandpolitik nach 1945, und allein dieser Text ist ausgesprochen lesenswert.
Wettig kennt die Quellen wie kein zweiter, und auf dieser Grundlage entzieht er jeder Legendenbildung um die deutsche Teilung den Boden. Stalin wollte nicht die DDR, das ist wahr, denn seine Vision war eine andere: Er sah eine realistische Chance, ganz Deutschland und letztlich ganz Europa in seine Gewalt zu bekommen. Auf dieses Ziel war seine Nachkriegspolitik ausgerichtet. Vor Kriegsende hatte US-Präsident Roosevelt in einem Gespräch mit Stalin zu erkennen gegeben, dass die USA in nicht allzu ferner Zeit nach Kriegsende ihre Streitkräfte aus Europa zurückziehen würden. Auf diese Hoffnung, den Amerikanern als Hegemonialmacht in Europa nachzufolgen, war Stalins Deutschland- und Europapolitik ausgerichtet.
Eindrucksvoll beschreibt Wettig Stalins Doppelstrategie, einerseits in der eigenen Zone eigene Vorstellungen durchzusetzen, andererseits den Anschein politischer Offenheit zu wahren, um die nötige Zeit bis zum erwarteten US-Abzug zu gewinnen. Stets war der Blick über die SBZ hinaus auf ganz Deutschland gerichtet. Bis 1947 gelang es Stalin, die wirtschaftliche Erholung auch in den Westzonen zu blockieren. Erst Stalins Kompromisslosigkeit in dieser Frage führte dazu, dass die Westmächte ihre eigenen Wege gingen, um ihre Zonen nicht länger versorgen zu müssen. Wettigs fundiert belegte Schlussfolgerung: Nicht der Westen entfachte den Kalten Krieg, sondern der sowjetische Machthaber.
Auch für diesen Text gilt: Es ist "Lektüre für Fortgeschrittene", denn Wettig verfasst keinen Nachkriegsthriller, sondern schreibt betont nüchtern und sachlich. Das aber ist ein unschätzbarer Vorteil: Er meidet jede Diktion des Kalten Krieges, jede Polemik, sondern analysiert kühl, was hinter den Merkwürdigkeiten der sowjetischen Besatzungspolitik steckt. Das Ergebnis ist eindeutig: Die Diskussionen der vergangenen Jahre haben sich erledigt. Stalin wollte kein neutrales, sondern ein Sowjet-Deutschland. Und als das nicht mehr möglich war, formte er den Teil, auf den er direkten Einfluss hatte, so, wie er gern ganz Deutschland und Europa geformt hätte.
Besprochen von Winfried Sträter
Gerhard Wettig (Hg.): Der Tjul´panov-Bericht - Sowjetische Besatzungspolitik in Deutschland nach dem Zweiten Weltkrieg
Herausgegeben vom Hannah-Arendt-Institut für Totalitarismusforschung als Band 63 der Reihe "Berichte und Studien"
Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 2012
424 Seiten, 39,90 Euro