Standardwerk der Totalitarismusforschung
Gerhard Besier ist seit 2003 Direktor des Hannah-Arendt-Institutes für Totalitarismusforschung an der TU Dresden. In seinem neuen Buch bietet er einen ersten großen Überblick über die antidemokratische Geschichte unseres Kontinents im vergangenen Jahrhundert. Er untersucht, wie es zur Destabilisierung der europäischen Staaten kommen konnte und wie die Diktaturen - rechte wie linke - einander beeinflussten.
Es war eine über weite Strecken barbarische Zeit: das 20. Jahrhundert in Europa, ein Jahrhundert der Diktaturen. 1919, nach den Schrecken des Weltkriegs, schien die Stunde Null gekommen zu sein, die Chance für einen Neubeginn. Trügerische Hoffnung. Der ungerechte Friedensvertrag von Versailles, die Neuaufteilung des Kontinents durch die Sieger, der Zerfall dreier Großreiche samt ihrer Ordnung, die Entwertung sämtlicher Werte, die allgemeine Verrohung – all dies sorgte für Unzufriedenheit. Konflikte wurden nicht gelöst, sondern verewigt, die Gräben verbreitert. Aus der schlecht gelöschten Glut des ersten Weltkrieges entstanden neue Brandherde. Die parlamentarische Demokratie war zur Überwindung der Krisen offenbar zu schwach; so wuchs die Anfälligkeit für extreme "Lösungen". Ab den frühen zwanziger Jahren entstanden in verblüffend vielen Nationen mehr oder minder gewalttätige Regime.
Der Historiker Gerhard Besier (Jahrgang 1947), Direktor des Hannah-Arendt-Instituts für Totalitarismusforschung an der TU Dresden, hat jener Ära eine beeindruckende Studie gewidmet. "Wie konnte es geschehen, dass Kontinentaleuropa im 20. Jahrhundert zum ‚Europa der Diktaturen’ wurde?" fragt er. "Um solche Prozesse zu verstehen, bedarf es eines langen Atems." Diesen langen Atem beweist Besier in seinem Buch.
Der Autor untersucht, wie es – in Wellen – zum kontinentweiten Systemwandel kam. Er analysiert, beginnend mit Russland 1917 und Italien 1922, die linken und rechten Regime, ihre Wirkung nach innen und außen, ihre Wechselbeziehungen, die Unterschiede und Ähnlichkeiten. In einem ersten Teil des Buchs erforscht Besier die Geschehnisse bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs – vor allem die Herausbildung der archetypisch faschistischen Systeme (in Italien, Deutschland, Portugal) und ihren "Export" (u.a. in die Satellitenstaaten). Im zweiten Teil zwei zeigt der Historiker die Entwicklung nach dem Krieg, insbesondere den "Siegeszug" des sowjetischen Modells bis zum Zusammenbruch des Ostblocks.
Für jeden Teil präsentiert der Autor eine fast unüberschaubare Fülle an Fakten. In historischen Abrissen, auf Basis faszinierender Details, beschreibt er gut ein Dutzend Beispiele, Land für Land. Denn: "Mit einem gewissen Recht kann jede Nation für sich beanspruchen, ein Sonderfall zu sein." Besonders nahe gehen uns, natürlich, seine Befunde zu Nazi-Deutschland und zur DDR.
Deutlich stellt Gerhard Besier drei – meist aufeinander folgende – Typen von Diktaturen heraus: 1. die konstitutionelle Diktatur (Eigenwerbung: "gelenkte Demokratie"), deren Protagonisten die bürgerlichen Freiheiten einschränken, um die herrschende Ordnung zu "retten". 2. die autoritäre Diktatur, die keine Opposition, aber immerhin noch private Freiräume duldet. 3. die totalitäre Diktatur mit ihrem vermessenen Anspruch, einen "neuen Menschen" zu schaffen. (In Deutschland folgten die drei "Eskalationsstufen" ab 1932 fast im Wochentakt aufeinander.) Der totalitäre Staat verlangt völlige Unterwerfung und erzwingt die Gleichschaltung; um seine Ziele zu erreichen, nutzt er Terror und Gewalt bis hin zum Massenmord.
Methodisch wagte sich der Autor auf ein lange vermintes Gelände: die vergleichende Diktaturforschung. Sie ergründet rechte und linke Systeme ohne Rücksicht auf ideologische Vorzeichen, ihre Parallelen und Differenzen – im jeweils eigenen Lager, aber auch überkreuz. Ein Befund des Verfassers: "Zwischen der kommunistischen und der faschistischen Bewegung gab es durchaus ideologische, strukturelle und handlungspraktische Analogien – die Massenmanipulation, den Personenkult, den Massenterror und Massenmord."
Eingehend beschreibt Besier die von Historikern genutzten Erklärungsmodelle – "Totalitarismus", "Moderne Diktatur" (verstärkt gebraucht seit den Siebzigern) sowie "Politische Religion". Und er präsentiert, dies leider in verwirrender Ausführlichkeit, eine Metastudie, eine kommentierte Zusammenfassung der zum Themenkomplex vorliegenden Arbeiten. Ein Anhang rundet die Studie ab; das Literaturverzeichnis umfaßt Hunderte Titel.
Gerhard Besier schreibt verständlich, allerdings – wie viele Experten seiner Zunft – etwas hölzern und weitschweifig; Straffung hätte dem Manuskript gut getan.
Neu an dem Werk ist die weite Perspektive. Der Leser erhält eine Vielzahl überraschender Einblicke. Über die großen Diktaturen glauben wir bescheid zu wissen. Wenig weiß man hingegen über Salazars "Estado Novo" in Portugal und nichts über die Königsdiktaturen in Bulgarien (1935) oder Rumänien (1938).
Ein großes Buch, ein Grundlagenwerk, auch ein beherzter Versuch, der von manchen Publizisten und Medien verlangten Generalabsolution für die Mitläufer-Basis deutscher Diktaturen zu widersprechen. Noch jedes Gewaltregime durfte auf Rückhalt bei der Bevölkerung rechnen – auch diese unbequeme, bis heute nicht gern gehörte Erkenntnis erläutert der Autor. Und er erinnert daran, dass es in den meisten Ländern keine Vergangenheitsbewältigung gegeben hat. "Man wollte nicht an alte Wunden rühren, tabuisierte das Gewesene oder leugnete gar jegliche Verbindung zu den früheren Regimes."
Ob wir es wahrhaben mögen oder nicht: Das "Europa der Diktaturen" bildet die Grundlage unserer heutigen Welt. Eine Umkehr, Rückkehr in diktatorische Verhältnisse? Ist nicht ausgeschlossen. Der Fall Russland zeigt es.
Rezensiert von Uwe Stolzmann
Gerhard Besier: Das Europa der Diktaturen. Eine neue Geschichte des 20. Jahrhunderts
DVA, München 2006
879 Seiten, 29,90 Euro
Der Historiker Gerhard Besier (Jahrgang 1947), Direktor des Hannah-Arendt-Instituts für Totalitarismusforschung an der TU Dresden, hat jener Ära eine beeindruckende Studie gewidmet. "Wie konnte es geschehen, dass Kontinentaleuropa im 20. Jahrhundert zum ‚Europa der Diktaturen’ wurde?" fragt er. "Um solche Prozesse zu verstehen, bedarf es eines langen Atems." Diesen langen Atem beweist Besier in seinem Buch.
Der Autor untersucht, wie es – in Wellen – zum kontinentweiten Systemwandel kam. Er analysiert, beginnend mit Russland 1917 und Italien 1922, die linken und rechten Regime, ihre Wirkung nach innen und außen, ihre Wechselbeziehungen, die Unterschiede und Ähnlichkeiten. In einem ersten Teil des Buchs erforscht Besier die Geschehnisse bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs – vor allem die Herausbildung der archetypisch faschistischen Systeme (in Italien, Deutschland, Portugal) und ihren "Export" (u.a. in die Satellitenstaaten). Im zweiten Teil zwei zeigt der Historiker die Entwicklung nach dem Krieg, insbesondere den "Siegeszug" des sowjetischen Modells bis zum Zusammenbruch des Ostblocks.
Für jeden Teil präsentiert der Autor eine fast unüberschaubare Fülle an Fakten. In historischen Abrissen, auf Basis faszinierender Details, beschreibt er gut ein Dutzend Beispiele, Land für Land. Denn: "Mit einem gewissen Recht kann jede Nation für sich beanspruchen, ein Sonderfall zu sein." Besonders nahe gehen uns, natürlich, seine Befunde zu Nazi-Deutschland und zur DDR.
Deutlich stellt Gerhard Besier drei – meist aufeinander folgende – Typen von Diktaturen heraus: 1. die konstitutionelle Diktatur (Eigenwerbung: "gelenkte Demokratie"), deren Protagonisten die bürgerlichen Freiheiten einschränken, um die herrschende Ordnung zu "retten". 2. die autoritäre Diktatur, die keine Opposition, aber immerhin noch private Freiräume duldet. 3. die totalitäre Diktatur mit ihrem vermessenen Anspruch, einen "neuen Menschen" zu schaffen. (In Deutschland folgten die drei "Eskalationsstufen" ab 1932 fast im Wochentakt aufeinander.) Der totalitäre Staat verlangt völlige Unterwerfung und erzwingt die Gleichschaltung; um seine Ziele zu erreichen, nutzt er Terror und Gewalt bis hin zum Massenmord.
Methodisch wagte sich der Autor auf ein lange vermintes Gelände: die vergleichende Diktaturforschung. Sie ergründet rechte und linke Systeme ohne Rücksicht auf ideologische Vorzeichen, ihre Parallelen und Differenzen – im jeweils eigenen Lager, aber auch überkreuz. Ein Befund des Verfassers: "Zwischen der kommunistischen und der faschistischen Bewegung gab es durchaus ideologische, strukturelle und handlungspraktische Analogien – die Massenmanipulation, den Personenkult, den Massenterror und Massenmord."
Eingehend beschreibt Besier die von Historikern genutzten Erklärungsmodelle – "Totalitarismus", "Moderne Diktatur" (verstärkt gebraucht seit den Siebzigern) sowie "Politische Religion". Und er präsentiert, dies leider in verwirrender Ausführlichkeit, eine Metastudie, eine kommentierte Zusammenfassung der zum Themenkomplex vorliegenden Arbeiten. Ein Anhang rundet die Studie ab; das Literaturverzeichnis umfaßt Hunderte Titel.
Gerhard Besier schreibt verständlich, allerdings – wie viele Experten seiner Zunft – etwas hölzern und weitschweifig; Straffung hätte dem Manuskript gut getan.
Neu an dem Werk ist die weite Perspektive. Der Leser erhält eine Vielzahl überraschender Einblicke. Über die großen Diktaturen glauben wir bescheid zu wissen. Wenig weiß man hingegen über Salazars "Estado Novo" in Portugal und nichts über die Königsdiktaturen in Bulgarien (1935) oder Rumänien (1938).
Ein großes Buch, ein Grundlagenwerk, auch ein beherzter Versuch, der von manchen Publizisten und Medien verlangten Generalabsolution für die Mitläufer-Basis deutscher Diktaturen zu widersprechen. Noch jedes Gewaltregime durfte auf Rückhalt bei der Bevölkerung rechnen – auch diese unbequeme, bis heute nicht gern gehörte Erkenntnis erläutert der Autor. Und er erinnert daran, dass es in den meisten Ländern keine Vergangenheitsbewältigung gegeben hat. "Man wollte nicht an alte Wunden rühren, tabuisierte das Gewesene oder leugnete gar jegliche Verbindung zu den früheren Regimes."
Ob wir es wahrhaben mögen oder nicht: Das "Europa der Diktaturen" bildet die Grundlage unserer heutigen Welt. Eine Umkehr, Rückkehr in diktatorische Verhältnisse? Ist nicht ausgeschlossen. Der Fall Russland zeigt es.
Rezensiert von Uwe Stolzmann
Gerhard Besier: Das Europa der Diktaturen. Eine neue Geschichte des 20. Jahrhunderts
DVA, München 2006
879 Seiten, 29,90 Euro