Starker Tobak für so manchen Israeli

Rezensiert von Katja Wilke |
Der Historiker Gershom Gorenberg geht mit der israelischen Innenpolitik ins Gericht, die er für so unklug hält, dass sie sogar die Existenz des jüdischen Staates in Gefahr bringen könnte. Er kritisiert insbesondere eine Flut von Rechtsbrüchen in den 1967 eroberten palästinensischen Gebieten sowie die ideologische Siedlerpolitik der ultraorthodoxen Juden.
In der kurzen Geschichte des Staates Israel hat es an Konflikten mit Nachbarstaaten nicht gemangelt. So bedrohlich wie der aktuelle Streit mit dem Iran um das Atomprogramm des verfeindeten Landes war aber bislang wohl keiner.

Der renommierte Historiker Gershom Gorenberg macht sich große Sorgen um die Zukunft seines Landes - allerdings weniger wegen iranischer Atombomben. Er warnt vor innenpolitischen Entwicklungen, die möglicherweise nicht minder gefährlich sind für die Existenz des jüdischen Staates.

Israel laufe Gefahr von Widersprüchen zerrissen zu werden. Ganz besonders bei der Frage, wie es mit den besetzten Palästinensergebieten weitergehen soll. International steigt der Druck, endlich eine friedliche Lösung zu finden. Doch wachsende Teile der eigenen Bevölkerung begreifen jedes Zurückweichen in dieser Frage als Verrat am jüdischen Volk.

Gorenberg wurde in den USA geboren und wanderte in den 70er-Jahren nach seinem Studium nach Israel aus. Und heute fragt er sich, wie seine Wahlheimat in fünf oder zwanzig Jahren aussehen könnte.

"Wird es die zweite israelische Republik gründen, eine blühende Demokratie innerhalb engerer Grenzen?

Oder wird es ein Pariastaat sein, wo eine ethnische Gruppe über eine andere herrscht? Oder wird es gar ein auf der Karte markiertes Territorium zwischen dem Jordan und dem Mittelmeer sein, wo der Staat durch zwei sich bekriegende Volksgruppen ersetzt worden ist?

Wird Israel das Zentrum der jüdischen Welt sein oder ein Ort, an den die meisten Juden im Ausland lieber nicht denken? Die Antworten hängen davon ab, was Israel nun tut."


In seiner gründlich recherchierten und lesenswerten Analyse spart Gershom Gorenberg nicht mit Kritik an aktuellen und früheren Regierungen. Er prangert die Flut von Rechtsbrüchen an, die sich der israelische Staat und die israelischen Siedler in den palästinensischen Gebieten leisteten, seit sie 1967 im Sechs-Tage-Krieg erobert wurden.

Für ihn ist die einzige dauerhaft sinnvolle Lösung ein Rückzug der Siedler aus dem Westjordanland – ähnlich wie vor einigen Jahren im Gazastreifen geschehen. Doch selbst wenn die israelische Regierung dies ernsthaft wollte - je mehr Zeit sie sich damit lässt, umso schwieriger wird es, warnt der Autor.

Die Siedlungen werden zu einem großen Teil von ultraorthodoxen Juden bewohnt, für die die Verteidigung ihrer Wohnstätte keine politische, sondern eine ernste Glaubensangelegenheit ist. Was die Situation verschärft: In der Armee wächst der Anteil ihrer Unterstützer. Eine Räumung der Westbank könnte damit nicht nur zur Spaltung der Bevölkerung, sondern auch der Armee führen.

"Die ideologische Siedlerbewegung würde keinen Rückschlag, sondern die endgültige Zerschlagung ihrer Vision der Erlösung durch Großisrael erleben. Ihre Kerngemeinden – Kiryat-Arba, Ofra, Elon Moreh, Yitzhar und viele andere – stünden vor der Räumung. Die Armee würde einer jungen Siedlergeneration gegenübertreten, die sich entschlossen gegen eine Wiederholung der 'Schande' von Gaza zur Wehr setzen würde."

Gorenberg ärgert, dass dieser strengreligiöse Teil der Bevölkerung vom Staat subventioniert und mit Exklusivrechten ausgestattet wird. So galten für sie bislang Sonderregeln beim Wehrdienst, und sie führen eigene Schulen - in der die weltliche Bildung häufig zu kurz kommt.

Viele Männer verschreiben sich jahrzehntelang dem Thorastudium und arbeiten nicht, weil sie vom Staat alimentiert werden. So wachsen Generationen von Menschen heran, die für den normalen Arbeitsmarkt verloren sind. Gleichzeitig wächst aber ihre Macht in Politik und Gesellschaft. Wirtschaftlich und gesellschaftlich gesehen sei dies ein Desaster.

"Israels strenggläubige Gemeinde wird immer abhängiger vom Staat und, durch ihn, abhängig von anderer Leute Arbeit. Durch die Ausbeutung politischer Patronage haben ultraorthodoxe Kleriker die religiöse Bürokratie des Staates weitgehend übernommen und anderen Juden extreme Auslegungen des jüdischen Gesetzes aufgezwungen.

Indem er die Ultraorthodoxen vom Erfordernis einer grundlegenden Allgemeinbildung ausnimmt, hat der demokratische Staat eine anschwellende Gruppe in der Gesellschaft hochgepäppelt, in der demokratische Werte weder verstanden noch geschätzt werden."


So niederschlagend Gorenbergs Analyse ausfällt, so hoffnungsfroh ist er, dass seine Vorschläge Israel aus dem Schlamassel befreien könnten: Da wäre erstens die Räumung der besetzten Gebiete und eine friedliche Aufteilung des Landes.

Und zweitens: Die strikte Trennung von Staat und Synagoge, um die Diskriminierungen von Nichtjuden zu beenden. Wie etwa die Bevorzugung von Juden bei der Vergabe von Arbeitsplätzen. Er geht dabei sogar so weit, eine zeitweilige Bevorzugung der Araber in der Bildung und auf dem Arbeitsmarkt zu fordern, um die Ungerechtigkeiten der Vergangenheit wiedergutzumachen.

Für so manchen Israeli dürfte das starker Tobak sein. Gershom Gorenberg weiß das und fordert deswegen die Unterstützung der Juden der Diaspora ein: Sie sollen Israelis daran erinnern, wie es ist, zu einer Minderheit in der Fremde zu gehören:

"Sie können Organisationen in Israel unterstützen, die sich für Menschenrechte und die Trennung von Kirche und Staat einsetzen. Sie können helfen, Institutionen zu finanzieren, die das Judentum so vermitteln, wie es gelehrt zu werden verdient: als ein Glaube, der die Achtung für jedes menschliche Leben vertieft.

Statt so zu tun, als sei Israel das Land, das sie sich wünschen, oder es aufzugeben, weil es diesem Wunsch nicht entspricht, können sie helfen, es dazu werden zu lassen."


Ein bemerkenswerter Masterplan - der nur einen Makel hat: Nachdem Gorenberg zuvor überzeugend nachgewiesen hat, wie festgefahren die Positionen sind, wirken seine abschließenden Vorschläge geradezu lebensfern – so sinnvoll sie auch erscheinen mögen.

Gershom Gorenberg: Israel schafft sich ab
Aus dem Englischen von Andreas dos Santos
Campus Verlag, Frankfurt-New York 2012
Cover: "Israel schafft sich ab" von Gershom Gorenberg
Cover: "Israel schafft sich ab" von Gershom Gorenberg© Campus