Paris ist das europäische Silicon Valley
Frankreich pflegt seine Start-up-Szene mit Subventionen, Krediten und Steuergutschriften. 5000 junge IT-Firmen gibt es allein in Paris. Dort soll Anfang 2017 auch das angeblich "weltweit größte" Gründerzentrum eröffnet werden.
Starr, unflexibel, nicht reformierbar – dieses Bild haftet Frankreich nun schon seit vielen Jahren an. Ein verkrusteter Staat, der sich schwer tut, in der globalisierten Welt Fuß zu fassen.
Aber die Bilder von streikenden Angestellten und wütenden Bauern verbergen, dass sich Frankreich gerade zu einem Paradies für Start-up-Firmen entwickelt, in Paris, und auch in vielen Provinzmetropolen. Denn wenn die Franzosen nicht - wie am vergangenen Wochenende bei den Republikanern - in den vorgezogenen Wahlkampf verstrickt sind, dann gründen sie Start-ups.
Allein in Paris gibt es schon 5000 davon. Und hier soll auch Anfang 2017 das angeblich "weltweit größte" Gründerzentrum eröffnet werden – Bauherr ist Telekom-Milliardär Xavier Niel. Die französische Regierung hat die Bedeutung der digitalen Wirtschaft begriffen und dafür gesorgt, dass Unternehmensgründer optimale Bedingungen haben.
Manuskript zur Sendung zum Nachlesen:
Im vornehmen Westen von Paris liegt das Rugby-Sportstadion Jean Bouin. Wie ein silbernes Spinnennetz zieht sich eine filigrane Betonhaut über den rundlichen Bau. Damit stiehlt es dem berühmten Fußball-Stadion "Parc des princes" auf der anderen Straßenseite zumindest architektonisch die Schau.
Und auch in Sachen Innovation hat das Rugby-Stadion die Nase vorn. Dort ist "Le Tremplin" untergebracht, auf Deutsch: Sprungschanze, ein Gründer- und Innovationszentrum der Stadt Paris, wo neue Ideen und Produkte in Sachen Sport entwickelt werden.
Eine Schülergruppe steuert auf die Arena zu. Nicht um ein Match zu sehen, sondern weil sich die Jugendlichen im "Tremplin" mit der digitalen Wirtschaft vertraut machen sollen, sagt die Klassenlehrerin Marja Doris:
"Ich bin Englischlehrerin, bin aber auch für ihre berufliche Orientierung verantwortlich. Ich glaube, der Besuch hier kann den Ehrgeiz der Schüler anstacheln und ihnen einen Blick auf die moderne Arbeitswelt vermitteln. Die Jugendlichen heute wissen ganz genau, dass sie nicht ein Leben lang den gleichen Job machen werden. Vielleicht kann dieser erste Kontakt mit jungen Start-up-Gründern dazu beitragen, dass der eine oder andere es später wagt, auf eigenen Füssen zu stehen."
Start-ups suchen händeringend Mitarbeiter
Insgesamt 4.000 Mittel- und Oberstufenschüler aus dem Großraum Paris besuchen in diesem Herbst Coworking-Spaces. Inkubatoren, Akzeleratoren, alles Geburtsstätten von Start-up-Firmen. Die Aktion mit dem Namen "Option Start-up" soll zu einer festen Einrichtung werden. Organisiert hat sie die städtische Agentur für Wirtschaftsentwicklung und Innovation "Paris and Co". Aus triftigem Grund, sagt der Leiter Loic Dosseur:
"Wir stellen fest, dass es in Paris immer mehr innovative junge Firmen gibt. Derzeit verzeichnen wir etwa 5.000 Start-ups in der Stadt. Sie wachsen rasch, haben aber große Schwierigkeiten, geeignete Mitarbeiter zu finden. In dieser Branche gibt es bereits Mangelberufe, genau wie im Gaststättengewerbe. Das führt so weit, dass erfolgreiche Start-up-Firmen ihr Wachstum bremsen müssen, weil es ihnen an kompetenten Leuten mangelt."
Die Schulklasse teilt sich auf, um zu hören und zu sehen, an welchen Ideen die einzelnen Gründer arbeiten. Ein sportlicher Mann führt vor, wie seine Smartwatch für Golfspieler funktioniert. Ein Mit-Zwanziger hat essbare Feuchtigkeits-Kugeln erfunden, damit Marathonläufer ihren Durst stillen können, ohne halbvolle Wasserflaschen wegzuwerfen. Die Jungunternehmer beschreiben auch, welche Jobs sie schaffen wollen.
Dann sind die Schüler dran: Mit einem so genannten Pitch erklären einzelne Jugendliche der Klasse, was sie erfahren haben, und vor allem, welche Kompetenzen die Start-ups benötigen. Die Kameraden bewerten die kurzen Werbereden wiederum mit einer neuen App, die ihre Handys in einer der Ampelfarben aufleuchten lässt. Die Jugendlichen sind eifrig bei der Sache. Loic Dosseur hofft, dass auch die Botschaft ankommt:
"Wir wollen erreichen, dass diese Kinder so früh wie möglich entdecken, welche neuen Berufe auftauchen. Wir sagen ihnen: Brecht aus den vorgezeichneten Bahnen aus. Selbst wenn ihr in Mathe oder Französisch schlechte Noten habt, stehen euch diese Berufe offen. Hauptsache, ihr seid begeistert."
"Paris and Co" betreut insgesamt neun städtische Inkubatoren, wo Firmengründer in der Anfangsphase fachlich begleitet werden, mit anderen Start-ups in Kontakt kommen und Zugang zu Netzwerken erhalten.
Im vergangenen März hat die Bürgermeisterin von Paris zusammen mit der Präsidentin der Region Ile-de-France eine Einweihung gefeiert: In einem von Grund auf neu gestalteten Stadtviertel im ehemals schäbigen Norden von Paris haben sie "Le Cargo" eröffnet, ein sechsstöckiges Bürogebäude, das 50 Start-up-Firmen Platz bietet. Die Hauptstadt preist "Le Cargo" stolz als "größten Inkubator in Europa" an.
Eine Eisenbahnhalle als Gründerzentrum
Aber der Superlativ wird schon bald getoppt sein. Denn auch private Unternehmer investieren massiv in die Internet-Wirtschaft.
Halle Freyssinet, so heißt eine fast hundert Jahre alte Eisenbahnhalle zwischen Austerlitz-Bahnhof und der französischen Nationalbibliothek. Sie wird gerade ausgehöhlt und komplett umgestaltet. Gläserne Zwischenwände unterteilen die riesige Fläche von 34.000 Quadratmetern. Hier sollen schon 2017 tausend Start-ups einziehen, sagt Roxanne Varza.
Die junge Frau mit der wilden braunen Haarmähne, schwarzem Minirock und fröhlichem Lachen sieht aus wie eine Studentin. Dabei leitet die 31-Jährige das ehrgeizige Projekt, es heißt Station F.
"Wir haben uns enorm viel vorgenommen. Station F wird der größte Gründer-Campus der Welt sein, und wir hoffen, dass auch viele Start-ups aus dem Ausland kommen. Schon heute haben wir ungefähr zehn Anfragen pro Tag, einige davon aus Japan, Kanada... Die Leute erkundigen sich, was wir vorhaben."
Wenn Roxanne Varza "wir" sagt, dann meint sie ihren Chef, den Unternehmer Xavier Niel. Der steinreiche Selfmademan, Besitzer des Internetdienstanbieters Iliad, wird in Frankreich gerne mit Apple-Gründer Steve Jobs verglichen. Vor drei Jahren hat Niel in Paris bereits eine Schule für Programmierer gegründet, wo sich junge Erwachsene mit und ohne Abitur überwiegend selbst und im Team ausbilden.
In die Station F sollen neben Start-ups, die Roxanne Varza und ihr Team auswählen und betreuen, auch Inkubatoren einziehen, außerdem Begleitprogramme, offene Werkstätten und nicht zuletzt ein großes Restaurant, das rund um die Uhr geöffnet sein wird, auch für Gäste von außen, die nichts mit der Internet-Wirtschaft zu tun haben. Der Gründercampus soll dazu beitragen, dass Paris endgültig zu einer Weltmetropole der Digitalwirtschaft aufsteigt.
Roxanne Varza stammt aus Palo Alto im Silicon Valley. Sie hat in Los Angeles, Paris und London studiert und zuletzt für Microsoft gearbeitet, dort hat Xavier Niel sie abgeworben. In ihrem Lebenslauf bezeichnet sich die Amerikanerin als "Start-up-lover". Die internationale Internet-Szene hat sie schon lange genau im Blick.
"Im Silicon Valley war schon alles vorhanden, als ich dort lebte. 2009 kam ich nach Frankreich, damals gab es hier nur ganz wenige Inkubatoren und Investmentfonds. Die Entwicklung ist spektakulär: Heute existiert hier ein hervorragendes Ökosystem. Frankreich ist dabei, alle anderen europäischen Länder und sogar Israel zu überflügeln, wenn es um die Platzierung von Risikokapital geht.
Es gibt auch immer mehr französische Erfolgsgeschichten, Unternehmen, die bei den besten amerikanischen Investoren Kapital aufnehmen können, ohne dass sie dafür ihren Firmensitz verlegen müssen. Vor allem in Sachen Jungunternehmen nimmt Frankreich eine sehr gute Position ein."
Auch in der Provinz blüht der IT-Sektor
Fast zwei Drittel aller französischen Start-ups sind in Paris ansässig. Aber auch in der Provinz blüht der IT-Sektor. Bordeaux, Grenoble, Lille, Montpellier - insgesamt 13 Provinzstädte haben ein staatliches Auswahlverfahren bestanden und dürfen sich nun "French Tech Metropole" nennen, weil sie ein dynamisches Ökosystem für die digitale Wirtschaft entwickelt haben.
Besonders lebendig ist die Start-up-Szene in der westfranzösischen Stadt Nantes, die jedes Jahr ein großes Web2day-Treffen organisiert.
Die Maschinenhalle eines ehemaligen Werftgeländes dient als Konferenzzentrum. Auf der in lila Licht getauchten Bühne begrüßt der Firmengründer und Netzwerker Julien Hervouet die Gäste. Sein Thema: Fundraising. Diesmal gehe es nicht um technische Analysen, erklärt der junge Mann dem Publikum, sondern um Emotionen. Er wolle wissen, was bei Investoren und Firmengründern in der rechten Hälfte des Gehirns passiert.
Hervouet kann aus eigener Erfahrung berichten: Vor sechs Jahren hat der damals 28-Jährige die Firma "IAdvize" gegründet. Vergangenes Jahr hat er Fremdkapital gesammelt, um auch Märkte im Ausland zu erschließen: immerhin 14 Millionen Euro.
"IAdvize hat sich die Aufgabe gestellt, den Online-Kauf menschlich angenehmer zu machen. Wir haben eine Plattform entwickelt, mit der E-Commerce Firmen ihre Kunden besser ansprechen und ihnen per Chat, Messaging und mithilfe des bestmöglichen Experten helfen können."
Dichtes braunes Haar, melancholische blaue Augen, breites Lachen, Drei-Tage-Bart – der Firmengründer schwingt sich auf seine Vespa und braust los Richtung Arbeit. Seine Büros liegen nur 15 Fußminuten entfernt, direkt am Ufer der Loire. Vor dem Hauseingang trifft Julien auf einen Mitarbeiter, der einen sicheren Job gegen das Abenteuer Start-up eingetauscht hat:
"Das ist Mickael, er war vorher bei Facebook, in Dublin. Vor einem Jahr haben wir uns beim Web2Day kennen gelernt. Jetzt arbeitet er bei uns!"
Mickael: "Genau, Julien hat damals gesagt: Wir brauchen Leute. Sechs Monate später habe ich hier angefangen, so schnell kann das gehen."
Julien nimmt den Aufzug in den fünften Stock, durchquert ein Großraumbüro. Ein paar Dutzend junge Leute sitzen hochkonzentriert vor Computerbildschirmen, viele tragen Headsets, telefonieren, trotzdem ist es erstaunlich leise im Raum.
Frische Farben - weiß, hellgrün, hellblau, lila - , kleine Tischlampen, Sitzkissen, in der Ecke steht eine Gitarre, eine Atmosphäre wie auf Fotos im Ikea-Katalog. Die junge Firma expandiert schnell, sagt Julien Hervouet:
"Wir haben zu zweit angefangen, heute sind wir 185. Aber jeden Monat kommen 10 bis 15 neue Mitarbeiter hinzu, deshalb sind solche Angaben rasch überholt."
Frankreich hegt seine Start-Up-Szene
Er setzt sich mit dem Marketing Direktor in ein Büro, bespricht den Start der Firma in Deutschland: Wenige Tage zuvor wurden Geschäftsräume in Düsseldorf angemietet, das deutsche Team ist im Aufbau. IAdvize hat bereits Niederlassungen in London und Madrid, außerdem Geschäftsbeziehungen mit Firmen in rund 40 Ländern.
"Wir haben hier in Frankreich exzellente Bedingungen, um Firmen zu gründen. Der französische Markt ist so groß, dass wir uns auf nationaler Ebene entwickeln können, zugleich sind wir international sichtbar. Außerdem ist es extrem einfach, eine Firma zu gründen. Das ist in ein paar Stunden erledigt, es gibt keine Hindernisse."
Frankreich hegt seine Start-Up-Szene mit Subventionen, Krediten und Steuergutschriften. Die Standortbedingungen in seiner Heimat findet Julien Hervouet gut. Er kann nicht verstehen, dass viele traditionelle Unternehmer in Frankreich über eine hohe Abgabenlast, das rigide Arbeitsrecht und häufige Störmanöver der Gewerkschaften lamentieren. Das seien doch Klischees, die endlich mal beseitigt werden müssten.
"Die Lohnnebenkosten sind in Frankreich nicht höher als in Kalifornien. Ja, wir zahlen erhebliche Abgaben, aber sie hindern unsere Firma nicht am Wachstum. Außerdem finanzieren sie ein Gesellschaftsmodell, das ich ganz toll finde."
Er selbst hat seine gesamte Ausbildung an öffentlichen Schulen und Universitäten absolviert, erzählt Hervouet. Als er arbeitslos wurde, konnte er sich selbständig machen. Weil ihn die staatliche Arbeitslosenversicherung bezahlte.
"Arbeitslos zu sein, ist heute in Frankreich die beste Gelegenheit, um eine Firma zu gründen. Der Anfang ist immer schwer, ich selbst konnte mir anderthalb Jahre lang kein Geld auszahlen. Da bietet uns das französische System wirklich eine unglaubliche Chance. Auch unser Gesundheitssystem ist toll. Das alles kostet Geld. Ohne unsere Sozialversicherung würden wir vielleicht weniger Lohnnebenkosten zahlen, aber wir müssten die Mitarbeiter sehr viel höher entlohnen, damit sie ihren Kindern Vorschule, Ausbildung und vieles mehr bezahlen könnten."
Trotzdem kann Hervouet nachvollziehen, dass die Gewerkschaften regelmäßig auf die Barrikaden gehen. In Zeiten der allgemeinen Verunsicherung, wo lebenslange Arbeitsverhältnisse immer seltener werden, fühlten sich die Arbeitnehmervertreter besonders gefordert, sagt der 34-Jährige. Das weit verbreitete Stöhnen über die französische Reformunwilligkeit, den aufgeblähten Staatsapparat und das großzügige Sozialsystem müsse man indes nicht so ernst nehmen – Klagen sei nun mal typisch französisch.
"Die Franzosen schlagen gerne aufeinander los, kritisieren alles, machen sich selbst und ihr System schlecht. Und die Welt glaubt uns. Dabei sollten wir stolz sein. Natürlich muss unser System fortentwickelt und reformiert werden, weil sich die Welt nun mal verändert. Aber wir sind schon jetzt eine Start-up Nation. Jedes Jahr werden in Frankreich 500.000 neue Firmen gegründet, darunter sind viele tolle Erfolgsgeschichten. Ich finde, dass wir wahnsinniges Glück haben."