Stasi-Unterlagenbeauftragter Roland Jahn

"Die Stasi-Akten sind eine Trophäe der Revolution"

29:17 Minuten
Blick in das verwüstete ehemalige Amt für Nationale Sicherheit der DDR im Stadtteil Lichtenberg im Osten von Berlin, nachdem es am 15. Januar 1990 bei einer Demonstration von aufgebrachten Bürgern gestürmt wurde.
Der Sturm auf die Stasi-Zentrale vor 30 Jahren sicherte große Teile der Akten für die Aufarbeitung der DDR-Vergangenheit. © picture-alliance/dpa
Moderation: Patrick Garber |
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Vor 30 Jahren stürmten tausende Bürger die Zentrale der Stasi in Berlin und bewahrten die dort lagernden Akten vor der Vernichtung. Der Bundesbeauftragte für die Stasi-Unterlagen, Roland Jahn, will dieses Erbe für die Zukunft sichern.
Für Roland Jahn war es ein welthistorisches Ereignis, das er auch mal mit dem Sturm auf die Bastille 1789 vergleicht: Am 15. Januar 1990 besetzten tausende Bürger die Zentrale des DDR-Staatssicherheitsdienstes in der Berliner Normannenstraße und retteten so die Akten der Stasi vor dem Reißwolf. 111 Regalkilometer Akten konnten so sichergestellt werden. Und tausende Säcke mit Papierschnipseln geschredderter Akten – die Stasi hatte bis zuletzt versucht, ihre Spuren zu verwischen.
Roland Jahn, der Bundesbeauftragter für die Stasi-Unterlagen.
Roland Jahn, der Bundesbeauftragte für die Stasi-Unterlagen, verteidigt den Übergang der Stasi-Akten ins Bundesarchiv gegen Kritik. © picture-alliance/dpa/Jörg Carstensen
Als Bundesbeauftragter für die Stasi-Unterlagen ist Jahn der Herr über dieses "Monument des Überwachungsstaates", wie er es nennt. Und dieses "Symbol der friedlichen Revolution" will er nicht nur erhalten, sondern für künftige Generationen besser zugänglich machen. Dies sei das Motiv dafür, dass die Stasi-Unterlagen bis Ende 2021 ins Bundesarchiv überführt werden – und sein eigenes Amt damit abgeschafft. "Unter dem Dach des Bundesarchivs können wir Kompetenz, Technik und Ressourcen zusammenlegen", sagt Jahn.

Die Geschichte wird nicht abgewickelt

Damit begegnet er Kritik von ehemaligen Bürgerrechtlern am Übergang der Stasi-Akten ins Bundesarchiv, darunter auch Jahns Vorgängerin Marianne Birthler. Sie sprechen von einer Abwicklung der Geschichte und fürchten politische Einflussnahme auf den Zugang zu den Unterlagen. Dem hält Jahn entgegen: "Es wird nichts abgewickelt." Grundlage für den Umgang mit den Akten bleibe das Stasi-Unterlagengesetz, für Bürger, Forscher und interessierte Journalisten ändere sich nichts.

Plädoyer für eine differenzierte Sicht

Die DDR "war ein Unrechtsstaat", stellt der ehemalige Dissident fest, der 1983 in Handschellen aus der DDR ausgewiesen worden war. Und mit diesem Begriff werde keineswegs die Lebensleistung von DDR-Bürgern geschmälert, wie das die Ministerpräsidenten von Mecklenburg-Vorpommern und Thüringen, Manuela Schwesig und Bodo Ramelow, zu bedenken geben. Im Gegenteil: "Ich glaube, man würdigt mit dem Begriff ‚Unrechtsstaat‘ diejenigen, die dagegen gehalten haben, die Widerstand geleistet haben und die vor allen Dingen am Ende die friedliche Revolution auf den Weg gebracht haben."
Vehement stellt sich Jahn Behauptungen entgegen, es gebe auch im vereinigten Deutschland keine echte Meinungsfreiheit. "Wer das so benennt, der verkennt die Realitäten, wie sie in der DDR waren. Wer das gleichsetzt, der schlägt den Opfern der SED-Diktatur ins Gesicht".
(pag)

Roland Jahn, geboren 1953 in Jena, ist Leiter der Stasiunterlagenbehörde BStU. Als SED-Gegner und Bürgerrechtler gehörte er in der DDR zur Opposition. 1983 war er einer der Mitbegründer der oppositionellen "Friedensgemeinschaft Jena" und wurde noch im gleichen Jahr zwangsweise ausgebürgert. In Westberlin arbeitete er als Journalist, unter anderem für das TV-Magazin "Kontraste". 2011 wählte der Deutsche Bundestag Jahn als Nachfolger von Marianne Birthler zum neuen Bundesbeauftragten für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen Deutschen Demokratischen Republik. Er wird das Amt bis 2021 innehaben.


Das Interview im Wortlaut:
Deutschlandfunk Kultur: Bei mir im Studio ist Roland Jahn, der Bundesbeauftragte für die Stasi-Unterlagen. Hallo und willkommen!
Roland Jahn: Schönen guten Tag.
Deutschlandfunk Kultur: Herr Jahn, in der kommenden Woche steht ein weiteres Jubiläum der Wendezeit an. Vor 30 Jahren, am 15. Januar 1990, haben Bürger die Zentrale des DDR-Staatssicherheitsdienstes in der Berliner Normannenstraße gestürmt und die Stasi-Unterlagen, die dort lagerten, sichergestellt. Sie haben das einmal mit dem Sturm auf die Bastille während der Französischen Revolution verglichen. – War die Besetzung der Stasi-Zentrale ein so bedeutendes historisches Ereignis?

"Ein Ereignis von Weltbedeutung"

Jahn: Nun hinken Vergleiche meistens, aber dieses Ereignis ist ein Ereignis von Weltbedeutung. Es war erstmalig in der Welt, dass die Zentrale einer Geheimpolizei einer Diktatur von Bürgern gestürmt wird, dass die Menschen sozusagen dieses Gelände erobern und die Akten sichern dann für eine Aufarbeitung, die Akten dann später auch der Öffentlichkeit zur Verfügung stellen. Das ist erstmalig in der Welt gewesen. Deswegen muss es auch so gewürdigt werden.
Deutschlandfunk Kultur: Sie haben die Ereignisse vor 30 Jahren als Journalist beobachtet, Herr Jahn. Sie haben damals für das Fernsehmagazin "Kontraste" der ARD gearbeitet. Warum wurde die Stasi-Zentrale in Berlin-Lichtenberg erst am 15. Januar von den Bürgern gestürmt? Denn die Außenstellen in den Bezirkshauptstädten der DDR waren ja schon einige Wochen vorher, Anfang Dezember 1989, besetzt worden.
Jahn: Da gibt es viele Faktoren. In den Bezirken der DDR waren natürlich diese Stasi-Bezirksverwaltungen noch näher an den Menschen dran, mitten in der Stadt. In Erfurt zum Beispiel direkt am Domplatz waren das Stasi-Gefängnis und die Bezirksverwaltung der Staatssicherheit. Dadurch war die Präsenz nochmal ganz anders. Wenn dort beobachtet wird, wie die Schornsteine rauchen, wenn dort beobachtet wird, wie LKW rausfahren, Dokumente beseitigen, dann sind die Bürger nochmal ganz anders aufgebracht. In dem Sinne war es aber auch die Initiative von Einzelnen, die sich zusammengefunden haben damals, zum Beispiel im "Neuen Forum", die dann gesagt haben: "So, jetzt gehen wir hin und besetzen die Stasi-Dienststelle." Das hat natürlich auch eine Rolle gespielt, dass der Zusammenhalt von einzelnen Leuten, die Absprachen doch auch direkter funktionieren konnten.
Aber das ist auch nicht der alleinige Maßstab gewesen. Es gab auch Bezirke, wie den Bezirk Gera, wo erst im Januar auch eine Besetzung erfolgt ist. Also, es gibt viele Faktoren. Auf alle Fälle hat es in Erfurt angefangen am 4. Dezember. Fünf junge Frauen sind in den Morgenstunden eingerückt in diese Stasi-Bezirksverwaltung und haben gesagt: "Stopp, Schluss mit dieser Arbeit der Staatssicherheit! Schluss mit den Menschenrechtsverletzungen! Wir wollen die Akten sichern." Das war das Signal für die gesamte Republik.
Das hat sich dann halt hingezogen bis in den Januar hinein, dass dann die Zentrale der Staatssicherheit in Berlin nach einer Demonstration, die dort vor der Tür stattgefunden hat, gestürmt worden ist und dann später auch Bürger-Komitees geschaffen worden sind, die dann sichergestellt haben, dass die Aktenvernichtung gestoppt wird.

Die Stasi-Offiziere haben ihre Zimmer "aufgeräumt"

Deutschlandfunk Kultur: Dadurch wurde ja einiges sichergestellt. Ich habe mal gelesen: Wenn man alle Stasi-Unterlagen in ein Regal legen würde, dann wäre dieses Regal 111 km lang. Es wurden aber auch Unterlagen zerstört. Wie erheblich sind diese Verluste, gerade, wenn es darum geht, Einzelfälle von Betroffenen aufzuklären? Klaffen da große Lücken nach den 30 Jahren, in denen man sich jetzt damit beschäftigt?
Jahn: Wir haben extra eine Studie auf den Weg gebracht, die untersuchen soll, wie viel vernichtet worden ist. Aber man muss deutlich sagen, wir können keine Zahl nennen. Es gibt Vernichtungen, die dann stattgefunden haben, gerade in den Monaten der Revolution, gerade in den Monaten Oktober, November, Dezember sind viele Vernichtungen durchgeführt worden.
Die Stasi-Offiziere haben einfach auch ihre Zimmer "aufgeräumt", "sauber gemacht". Da haben sie natürlich nichts aufgehoben, was sie belasten konnte.
Deutschlandfunk Kultur: Vieles ist im Reißwolf gelandet, teilweise haben Stasi-Offiziere auch mit bloßen Händen Akten zerrissen. Jetzt, 30 Jahre später, gibt es noch tausende von Säcken mit Papierschnipseln dieser geschredderten Unterlagen. Die werden mühsam per Hand zusammengesetzt. Es ist versucht worden, dieses Puzzle zu digitalisieren, das ist aber erstmal gescheitert. Wird es also noch Jahrzehnte dauern, bis alles wieder zusammengesetzt ist, was man noch hat, aber was man im Moment nicht lesen kann?
Jahn: Wichtig ist, dass wir nicht aufgeben, dass wir nicht zulassen, dass die Staatssicherheit bestimmt, was wir lesen dürfen und was nicht. Deswegen haben wir die Säcke aufgehoben. Deswegen versuchen wir einzelne Säcke zusammenzusetzen. Nach einer groben Sichtung können wir natürlich sehen, zu welchen Hauptabteilungen gehört was? Wo sind Lücken besonders groß? Wie zum Beispiel die West-Spionageabteilung, die HVA, das ist etwas, wo ganz viel vernichtet worden ist, weil diese Abteilung sich selber auflösen durfte. Da ist natürlich jeder Sack willkommen, den wir dann noch zusammensetzen können.
Bei der Rekonstruktion von zerissenen Stasiakten im ehemaligen Ministerium für Staatssicheheit an der Normannenstrasse, werden tausende von Papierschnitzeln geordnet und wieder zusammengesetzt. 
In tausenden von Säcken werden noch Papierschnipsel von zerrissenen Stasi-Akten gelagert und mühselig rekonstruiert. © picture alliance
Gerade die Phase kurz vorm Ende der DDR, die Phase der friedlichen Revolution, wie die Stasi noch versucht hat, diese friedliche Revolution niederzuschlagen, diese Dokumente sind natürlich besonders wertvoll. Da gibt es einiges an zerrissenen Akten, die zusammengesetzt werden sollen, um Lücken zu schließen im Archiv. Das ist unsere Herangehensweise jetzt, dass wir sagen: Mit den Möglichkeiten, die wir haben - manuell, große Schnipsel können manuell zusammengesetzt werden - mit diesen Möglichkeiten setzen wir Schritt für Schritt Sachen zusammen. Und die virtuelle Rekonstruktion, praktisch mit den Möglichkeiten der Digitalisierung, da werden wir unsere Bemühungen fortsetzen, hier auch die Möglichkeiten zu schaffen, dass dann mit einer guten Scanner-Technik das auch in größerem Umfang erfolgen kann.
Deutschlandfunk Kultur: Da sind Sie noch dran, an der Digitalisierung?
Jahn: Die Software existiert ja. Es ist gelungen, virtuell zusammenzusetzen. Aber die Scan-Technik macht es bis jetzt noch nicht möglich, das massenhaft zu machen. Deswegen nutzen wir das jetzt als begleitendes Erschließungsinstrument. Und Schritt für Schritt versuchen wir, das zu steigern.

"Es wird nichts abgewickelt"

Deutschlandfunk Kultur: Herr Jahn, Sie leiten die Stasi-Unterlagen-Behörde noch bis 2021. Bis dahin wird diese Einrichtung in ihrer jetzigen Form aufgelöst und ins Bundesarchiv überführt. Das hat der Bundestag im vorigen September beschlossen – gegen heftige Proteste vor allem ehemaliger Bürgerrechtler. Warum wird das Amt abgeschafft oder – wie manche Kritiker sagen – "abgewickelt"?
Jahn: Es wird ja nichts abgewickelt. Wichtig ist, dass das ein langer, langer Prozess der Diskussion war. Das geht ja schon über Jahre, dass wir uns damit beschäftigt haben, dass da ein offener Diskurs stattgefunden hat, auch mit den Opferverbänden. Gerade die Opferverbände, die sich natürlich damit auseinandergesetzt haben, haben diesem Weg zugestimmt. Die Opferverbände sind stark einbezogen gewesen in diesen Prozess. Es geht darum, den Opfern gerecht zu werden. Es geht darum, die Brücke auch in die nächste Generation zu schlagen. Deswegen brauchen wir zukunftsfeste Strukturen. Gerade jetzt ist ein guter Zeitpunkt gewesen, diese Weichen zu stellen, damit die Stasi-Akten auch in Zukunft der Gesellschaft zur Verfügung stehen.
Das heißt, unter dem Dach des Bundesarchivs können wir Kompetenz, Technik und Ressourcen zusammenlegen, können wir neu investieren in archivgerechte Lagerung zum Beispiel, aber gerade auch in die Digitalisierung, die natürlich die Archivwelt vollkommen verändert und damit auch das Stasi-Unterlagen-Archiv. Um diesen Herausforderungen gerecht zu werden, deswegen die Bündelung der Kräfte.

"Es gilt, das Symbol der friedlichen Revolution hochzuhalten"

Wichtig ist, und das hat der Deutsche Bundestag auch gesagt mit seinem Beschluss: Es gilt, das Symbol der friedlichen Revolution hochzuhalten. Diese Akten sind ja mehr als Unterlagen, in die man hineinschaut, sondern das ist auch ein Monument eines Überwachungsstaates. Das ist ein musealer Gegenstand. Den gilt es an den historischen Orten zu zeigen. Gerade hier in Berlin in der Stasi-Zentrale ist es wichtig, diese Akten zu präsentieren. Und natürlich auch in den Regionen, dort, wo die Menschen die Stasi-Akten erobert haben, wo die Stasi-Akten auch zu einer Trophäe der Revolution geworden sind, gilt es, das zu präsentieren.
Das ist etwas, was beachtet worden ist und natürlich auch, dass wir dieses Archiv zu einem Archiv machen, was den Ansprüchen der Zeit entspricht.
Deutschlandfunk Kultur: Es geht vor allem um technische und organisatorische Sachen?
Jahn: Ja. Gerade die Digitalisierung so voranzubringen, dass wir auch ganz andere Angebote machen können. Das zu bündeln gemeinsam mit dem Bundesarchiv, die ja auch da auf dem Weg sind, ist die große Chance.
Deutschlandfunk Kultur: Physisch werden die Akten aber nicht weggeschafft nach Koblenz, wo der Hauptsitz des Bundesarchivs ist, sondern sie bleiben in der Normannenstraße und in den Bezirksverwaltungen?
Jahn: Das ist ja immer mein großes Anliegen gewesen, dass wir diesen historischen Ort nutzen, um die Akten zu präsentieren. Das ist der Ort, an dem die Akten angelegt worden sind. Das ist der Ort, an dem sie erobert worden sind. Deswegen werden sie dort bleiben. Man wird diesen Ort weiter ausbauen zu einem Ort der Diktatur- und Demokratiegeschichte. Im Gegenteil: Es werden die Akten, die jetzt im Bundesarchiv in Berlin-Lichterfelde liegen, die aus den DDR-Ministerien kommen, zum Beispiel aus dem Innenministerium, wo die Haftakten zum Beispiel der Opfer liegen, all diese Akten werden mit nach Lichtenberg kommen. Dort wird ein Archivzentrum entstehen, ein Archivzentrum, was die Aufarbeitung der SED-Diktatur insgesamt voranbringen kann.
In dem Sinne haben wir auch die Chance nochmal deutlich zu machen: Die DDR war nicht eine Stasi-Diktatur, sondern eine SED-Diktatur.

"Für den Bürger wird sich nichts zum Nachteil ändern"

Deutschlandfunk Kultur: Aber einige der Außenstellen in den ehemaligen Bezirkshauptstätten - sieben werden das, glaube ich, sein - sollen geschlossen werden. Warum?
Jahn: Nein, es wird nichts geschlossen. Die Außenstellen bleiben erhalten. Auch da gilt es Kräfte zu bündeln, da gilt es, archivgerechte Lagerung sicherzustellen. Das heißt, es muss investiert werden, es muss neu gebaut werden, es muss umgebaut werden. Wir brauchen Klimaanlagen. Keine der Außenstellen hat jetzt eine archivgerechte Lagerung. Und die Möglichkeit zu investieren, haben wir jetzt, indem wir da ein Konzept entwickelt haben, dass wir gesagt haben: In den Regionen bleiben die Akten. Es wird an einem Ort investiert, wo die Akten zusammengeführt werden aus den jeweiligen Bundesländern. Sachsen, Thüringen, Mecklenburg-Vorpommern, im jeweiligen Bundesland wird es einen Archivstandort geben, der modern ausgebaut wird. Die anderen Außenstellen werden den Bürgerservice, der für die Bürger wichtig ist, nämlich Akteneinsicht, Aktenantragstellung, Beratung, all das, was auch an Informationsangeboten zum Archiv da ist, all das wird es an diesen Außenstellen weiter geben. Also, für den Bürger wird sich da nichts zum Nachteil ändern.
Deutschlandfunk Kultur: Dennoch haben mehr als 100 ehemalige Bürgerrechtler der DDR einen Aufruf gegen diese Maßnahmen unterschrieben. Darunter sind Namen wie Marianne Birthler, also Ihre Vorgängerin als Stasi-Unterlagen-Beauftragte, oder Freya Klier, Ulrike Poppe, Werner Schulz und viele mehr. "Geschichte lässt sich nicht abwickeln!" schreiben sie. – Liegen die falsch mit ihrem Protest?
Jahn: Nein. Ich denke, dass vieles, was da an Ängsten geäußert worden ist, nachvollziehbar ist. Ich denke, dass es wichtig ist, immer dieses Zeichen zu setzen, dass Geschichte sich nicht abwickeln lässt, dass man auch die Sorge hat, dass hier irgendwo ein Schlussstrich gemacht wird. Das muss immer wieder benannt werden. Aber darum geht es ja, dass der Bundestag solche Stimmen mit einbezieht in seine Überlegungen, in seine Entscheidungen. Das hat er gut gemacht. In der Hinsicht ist das, was jetzt vorliegt, nämlich ein Bundestagsbeschluss, aufbauend auf einem Konzept, was wir gemeinsam mit dem Bundesarchiv erarbeitet haben, eine gute Voraussetzung ist, hier Zukunft zu gestalten.
Deutschlandfunk Kultur: Es geht dabei sicherlich auch um Symbolik. Sie sagten schon, dass die unabhängige Stasi-Unterlagenbehörde so eine Errungenschaft oder ein Symbol des Siegs der friedlichen deutschen Revolution ist. Aber es geht auch um ganz konkrete Befürchtungen, dass künftig politisch entschieden werden könnte, welche Akten von wem eingesehen werden dürfen und warum. Weil das Bundesarchiv von Beamten geführt ist, die weisungsgebunden sind gegenüber der Bundesregierung, während Sie und ihre Vorgänger, Frau Birthler, Herr Gauck, sind ja völlig unabhängig. – Das ist doch ein qualitativer Unterschied, oder?
Jahn: Nein. Das Bundesarchiv muss sich an Recht und Gesetz halten. Und das Stasi-Unterlagen-Gesetz wird weiter gelten. Das Stasi-Unterlagen-Gesetz, das den Zugang zu den Akten regelt, ist die Grundlage des Handelns der Mitarbeiter unserer Behörde als auch des Bundesarchivs. In dem Sinne müssen sich alle dran halten. Da kann keiner irgendwie Regeln verletzen. Da gibt es auch eine Fachaufsicht, die durch die Beauftragte für Kultur und Medien erfolgt. Also, in dem Sinne ist das alles dort rechtlich abgesichert. Und in dem Sinne kann ich nur sagen: Noch nie gab es irgendwo im Bundesarchiv ein Problem damit, dass jemand irgendwo in seiner Akteneinsicht benachteiligt worden ist.

Die Brücke in die nächste Generation

Deutschlandfunk Kultur: Also, Forscher, Betroffene, Journalisten können nach wie vor Einsicht nehmen wie gehabt?
Jahn: Selbstverständlich. Das ist die Grundlage dieser Reform gewesen. Das Stasi-Unterlagen-Gesetz wird weiter gelten. Die Zugangsmöglichkeiten werden entsprechend dieses Gesetzes weiter gelten. Das ist ja die große Errungenschaft. Die Errungenschaft ist sozusagen der Zugang zu den Akten. Diese Errungenschaft wird jetzt in die Zukunft getragen. Das ist etwas, was gerade auch die Brücke in die nächste Generation ist.
Deutschlandfunk Kultur: Das gilt auch für die Überprüfung auf ehemalige Stasi-Mitarbeit? Das ist ein Thema, das immer mal wieder politisch umstritten ist.
Jahn: Auch da hat der Bundestag dieses Jahr eine klare Entscheidung getroffen: Diese Überprüfungsmöglichkeiten werden fortgeführt. Bis zum Jahr 2030 ist diese Frist erweitert worden. Dazu muss man auch sagen, dass wir ja nicht überprüfen, sondern wir geben Unterlagen heraus an öffentliche Stellen, die die Akten nutzen für eine Überprüfung. Ob jemand überprüft wird oder nicht, das entscheidet die Stelle des Öffentlichen Dienstes. Da gibt es klare Regeln. Das sind ja nur noch minimale Zahlen, die dort überprüft werden. Das regelt sich teilweise auch biologisch. Gerade wenn Menschen Karriere im Öffentlichen Dienst machen, befördert werden usw., wenn es da nochmal Überprüfungen gibt, das sind oft Leute jetzt, die zum Ende der DDR noch nicht mal 18 Jahre alt waren. Deswegen hat sich das dann erübrigt in vielen, vielen Fällen.
Was dem Gesetzgeber wichtig gewesen ist, ist, dass es alleine die Möglichkeit gibt, in einzelnen Fällen diese Überprüfung noch durchzuführen und dass wir berechtigt sind, diese Unterlagen herauszugeben dazu.

Campus für Demokratie

Deutschlandfunk Kultur: Herr Jahn, der Bundestag hat vorigen September auch beschlossen, dass die frühere Stasi-Zentrale in Berlin, wo Sie Ihren Amtssitz haben, zu einem Ort der deutschen Diktatur- und Demokratie-Geschichte ausgebaut werden soll. Das haben Sie schon angedeutet. – Wie soll das konkret aussehen?
Jahn: Da sind wir schon länger auf dem Weg. Wir haben ja schon in den Jahren zuvor etwas entwickelt, was genau dieses Ziel hat, einen Campus für Demokratie dort zu entwickeln, wo es nicht nur darum geht, sich am Leid der Vergangenheit festzuhalten, sondern wo es darum geht, die Themen zu besprechen, die die Menschen heute bewegen. In dem Sinne haben wir dort einen Dreiklang: Wir haben ein Stasi-Museum, wo die Repression dargestellt wird, die dort organisiert worden ist auf diesem Gelände. Wir haben eine Ausstellung der Robert-Havemann-Gesellschaft zur friedlichen Revolution und zum Mauerfall, wo auch die Erstürmung der Stasi-Zentrale dokumentiert ist in dieser Ausstellung. Und wir haben das Stasi-Unterlagen-Archiv, wo Aufklärung betrieben wird über Diktatur und Widerstand. In dem Sinne wir schon auf dem Weg, das weiter zu entwickeln.
Jetzt geht es darum, das lebendig zu erhalten. Das haben wir zum Beispiel dieses Jahr getan: Die Stasi-Zentrale war ein Ort der großen Feierlichkeiten "Sieben Tage, sieben Orte" hier in Berlin, wo des Mauerfalls und der friedlichen Revolution gedacht worden ist.
Wissen Sie, das war ein Erlebnis, wenn da Bürger und Bürgerinnen aus der ganzen Welt da sind und dann sehen, wie auf den Gebäuden, wo früher die Stasi-Offiziere drin saßen, jetzt eine Lichtinstallation stattfindet mit Aufnahmen der friedlichen Revolution. Diese Präsentation dieses Geländes, auch als Hoffnungszeichen in die Welt hinein, das ist etwas, das weiter ausgebaut werden kann und wo wir dran arbeiten, sowohl mit dem Bund als auch dem Land Berlin.

"Wir brauchen die Betrachtung der SED-Diktatur insgesamt"

Deutschlandfunk Kultur: Wenn ich Sie vorhin richtig verstanden habe, geht es konzeptionell auch darum, so ein bisschen wegzukommen von der Fixierung auf die Stasi und die Diktatur als Ganzes in den Blick zu bekommen, die halt auch mehr war als nur ihr Geheimdienst.
Jahn: Das ist ganz, ganz wichtig. In dem Sinne ist es nicht nur eine Behörde, die für die Stasi verantwortlich ist und damit auch die öffentliche Diskussion sehr stark in Richtung Stasi prägt, sondern wir brauchen die Betrachtung der SED-Diktatur insgesamt. Wir brauchen eine Betrachtung des Alltags in der DDR, was sehr, sehr wichtig ist. Besonders brauchen wir aber auch das, was positive Zeichen sind von historischer Erzählung. Das ist nun mal auch die Geschichte von Widerstand und Opposition.
In der Hinsicht kann ich es nur begrüßen, dass jetzt geprüft wird in einer Machbarkeitsstudie, wie gerade auf diesem Gelände auch ein Forum oder ein Zentrum für Opposition und Widerstand geschaffen wird. Die Robert-Havemann-Gesellschaft bringt jetzt eine Machbarkeitsstudie auf den Weg, wo eine große Ausstellung auch konzipiert werden soll. In dem Sinne wäre das dann der nächste Baustein, der dann auch neben dem Archiv-Zentrum auf das Gelände kommt, wo man dann sagen kann, hier entsteht ein echter Campus für Demokratie, wo dann auch Themen aufgegriffen werden, die wir jetzt natürlich auch schon behandelt.
Gerade das Thema Pressefreiheit: Jedes Jahr zum Tag der Pressefreiheit sind mehrere hundert Schüler da. Gemeinsam mit "Reporter ohne Grenzen", mit dem Verband der deutschen Zeitschriftenverleger präsentieren wir auch dann mit dem Archiv der DDR-Opposition hier das Thema Pressefreiheit. Da geht’s dann um grundsätzliche Fragestellungen, die damals eine Rolle gespielt haben in der Diktatur, die aber auch heute in der Demokratie genauso eine Rolle spielen, weil Pressefreiheit ein hohes Gut ist, was es gilt auch zu erhalten.

Die Frage nach individueller Verantwortung in der Diktatur

Deutschlandfunk Kultur: Wenn man aber den Fokus ausweitet und nicht mehr nur auf die Stasi, auf die Geschichte der Täter und auf die Geschichte der Opfer fokussiert, dann kommen ja auch noch andere Aspekte in den Blick. Sie sagten, der Widerstand, aber auch das Mitmachen, das Mitlaufen ist ja auch eine Sache, die man durchaus unterschiedlich sehen kann.
Jahn: Das ist ganz, ganz wichtig, dass wir die Gesellschaft insgesamt betrachten und dass wir natürlich auch fragen nach individueller Verantwortung in der Diktatur. Bisher ist da viel zu viel in Schwarz-Weiß gedacht worden. Wir sind herausgefordert, genau hinzuschauen, natürlich auch die Menschen herauszufordern, dass sie sich auseinandersetzen mit ihrem eigenen Verhalten, mit ihrer eigenen Verantwortung, dass sie sich fragen: "Hätte ich mich auch anders verhalten können? Warum bin ich zum Wehrdienst gegangen? Warum war ich bereit, an der Grenze zu schießen? Wo habe ich mitgemacht und wo habe ich mich verweigert?" Das sind spannende Fragen, die auch eine Botschaft sind an die nachfolgende Generation.
Die Frage Anpassen oder Widersprechen ist eine Frage, die in jeder Gesellschaftsordnung steht. Wo handelt man aus einer eigenen Überzeugung oder wo passt man sich Umständen an und lässt sich einfach treiben?
Deutschlandfunk Kultur: Aber wird da nicht der Ossi als solcher, um es mal so zu sagen, sofern er nicht ausgewiesener Widerständler war, unter einen gewissen Generalverdacht gestellt, wenn man so weit den Blick wirft, unter einen Generalverdacht des Mitläufertums oder des Weggeschaut-habens?
Jahn: Die Frage, in welchem Verhältnis stand man zum Unrechtsstaat DDR, die steht genauso für den Bundesbürger, auch für einen, der in Berlin (West) gewohnt hat. Jeder hat seinen Bezug zur DDR gehabt. Es gab genug West-Linke sozusagen, die die DDR hofiert haben. Wie hat man sich als Politiker damals verhalten zur DDR, zur Diktatur? Das sind auch Fragen, die heute eine Rolle spielen. Wie verhält man sich heute zu Diktaturen, zu China und zur Türkei und all solche Fragen? Zählen die Handelsbeziehungen allein oder zählen die Menschenrechte?
In der Hinsicht ist die Frage im Verhältnis zur Diktatur nicht nur eine Frage von Ostdeutschen, sondern von allen, die damals als Zeitzeugen gelebt haben. Hier genauer hinzuschauen, ist ganz, ganz wichtig. Und auf der anderen Seite ist es auch wichtig viel zu lernen, auch sich zu fragen: Wie hätte ich mich verhalten damals? Gerade junge Menschen, die damals noch nicht gelebt haben, können sich oft die Frage stellen. In der Hinsicht können sie ihre Sinne schärfen damit für die Gegenwart. Das ist die große Chance, mit dem Blick in die Diktatur etwas mitzunehmen für das eigene Leben heute, sich schützen vor Ungerechtigkeiten, aber auch einen Kompass zu bekommen für die Werte in unserer Gesellschaft.

"Das war ein Unrechtsstaat"

Deutschlandfunk Kultur: Das sind ja alles Punkte, die immer wieder angesprochen werden, wenn die Diskussion aufpoppt: War die DDR ein Unrechtsstaat oder war sie es nicht? War sie einer?
Jahn: Da muss man einfach mal in den Duden gucken und schauen, was da steht unter dem Begriff "Unrechtsstaat". Da steht drin, dass das ein Staat ist, in dem die Menschen schutzlos waren vor Übergriffen des Staates. Und das ist etwas, was in der DDR konkret stattgefunden hat. Ich bin ins Gefängnis geworfen worden. Ich hatte keine Chance, mich zu wehren in einem rechtsstaatlichen Verfahren, sondern ich bin einfach verknackt worden. Ich hatte keine Pressefreiheit, um aufmerksam zu machen auf das, was an Unrecht geschah. Es gab keine Verwaltungsgerichte. Also, man war der Willkür des Staates ausgesetzt. Das Unrecht hat ja schon in der Verfassung begonnen, wo die Macht einer Partei festgelegt war.
All diese vielen Dinge, wo deutlich wurde, dass das Unrecht von Staats wegen begangen worden ist, sagen für mich ganz klar, das war ein Unrechtsstaat. Ich glaube, man würdigt auch mit dem Begriff "Unrechtsstaat" diejenigen, die dagegen gehalten haben, die Widerstand geleistet haben und die vor allen Dingen am Ende die friedliche Revolution auf den Weg gebracht haben. Der Begriff "Unrechtsstaat" hebt diese Leistung der friedlichen Revolution nochmal besonders hoch.
Deutschlandfunk Kultur: Aber andere, wie zum Beispiel Manuela Schwesig, die Ministerpräsidentin von Mecklenburg-Vorpommern, die sagen: Ja, die DDR sei eine Diktatur gewesen, aber der Begriff Unrechtsstaat klinge so, als wäre das ganze Leben in der DDR Unrecht gewesen. Das würde den Lebensleistungen der Menschen in Ostdeutschland nicht gerecht werden.
Jahn: Aus meiner Sicht ist das Gegenteil der Fall. Wenn wir das System als Unrechtsstaat klar und deutlich erkennen, dann können wir auch viel mehr noch Respekt zeigen für die Biographien in der DDR, wie Menschen es geschafft haben, in diesem Unrechtsstaat sozusagen zu überleben. Wie Menschen es geschafft haben, ihren Weg zu finden, das ist doch das Spannende.
Und das Spannende ist doch dann, dass die Menschen sich ins Verhältnis setzen, sich fragen: Hätte ich auch anders handeln können? Wo habe ich mitgemacht und wo habe ich es doch geschafft, auch mal kleine Zeichen dagegen zu setzen? – Das ist die große Chance. Wenn wir uns des Systems bewusst sind, können wir diesen Respekt vor den Biographien viel besser ausdrücken.

"Für mich gab’s und gibt’s 'die' Ostdeutschen nicht"

Deutschlandfunk Kultur: Wir feiern in diesem Herbst 30 Jahre deutsche Einheit, Herr Jahn. Vor dem Hintergrund dessen, was wir gerade besprochen haben, wie weit ist es mit der Einheit in den Köpfen?
Jahn: Ja, das muss jeder für sich selber wissen. Also, ich denke, dass wir da schon mal weiter waren und dass manchmal irgendwie vieles herbeigeredet wird zwischen Ost und West. Wobei für mich auch noch mal deutlich wird, die Diskussion geht oft an der Sache vorbei. Es wird von "den" Ostdeutschen geredet. Für mich gab und gibt es "die" Ostdeutschen nicht. Schon an der Definition scheitert es.
Wer ist denn eigentlich ostdeutsch? Ist der ostdeutsch, der dort geboren wurde und dann woanders gelebt hat? Ist der ostdeutsch, der mit 20 Jahren dort hingezogen ist, jetzt 30 Jahre schon dort lebt, also den wesentlichen Teil seines Berufslebens dort verbracht hat? Wie kann man den bezeichnen? Also, die Frage der Definition spielt da schon eine große Rolle.
Die Studien, die zum Beispiel gemacht worden sind, gerade über Befindlichkeiten von Ostdeutschen, zeigen doch, dass es an der Sache vorbei geht. In einer Studie der Universität Leipzig haben wir die Definition, da ist der ostdeutsch, der dort geboren wurde, bis zum Ende der DDR dort gelebt hat und mindestens 15 Jahre war am Ende der DDR. Da ist weder Frau Merkel eine Ostdeutsche, weil die in Hamburg geboren wurde. Da ist weder Frau Giffey, die Vorzeigeministerin der SPD als Ostdeutsche eine Ostdeutsche, weil sie damals noch nicht 15 Jahre war. Und da bin ich nicht ostdeutsch, der dort 30 Jahre seines Lebens verbracht hat, weil ich nicht bis zum Ende der DDR dort war. Also, daran sieht man doch schon, dass die Ost-West-Diskussion eine künstliche ist, die bei genauer Betrachtung doch den Kern nicht trifft.
Was mir aber wichtig ist, ist natürlich, dass man sich auseinandersetzt mit dem, was an Sorgen und Problemen bei den Menschen da ist. Und da sind die Fragestellungen, die immer wieder eine Rolle spielen. Gerade die ländlichen Regionen, die gibt es aber im Westen Deutschlands genauso wie im Osten. Oder auch soziale Fragen. Aber die haben oft mit Ost und West nichts zu tun. Deswegen sollte man genau hinschauen.
Deutschlandfunk Kultur: Trotzdem kann man damit aber bei Wahlen doch ziemliche Erfolge erzielen, wie zum Beispiel die AfD bei den vergangenen Landtagswahlen in den neuen Bundesländern, wo sie sich als Stimme der Ostdeutschen geriert hat und die Vollendung der Wende versprochen hat. Und damit offensichtlich einen Nerv getroffen hat bei vielen Zeitgenossen.
Jahn: Ja klar, hier wird mit falschen Fakten Politik gemacht. Das ist immer problematisch. Es werden Gruppen definiert. So etwas hat in den 1990er Jahren die PDS gemacht und war damit erfolgreich. Jetzt macht es die AfD, indem Stimmungen bedient werden. Aber deswegen ist es mir wichtig, die Dinge klar und deutlich zu benennen als offene politische Fragen, aber nicht die Ost-West-Karte auszuspielen.
Um es nochmal deutlich zu machen: Ich möchte nicht in einen Topf geworfen werden mit denen, die früher das System getragen haben. Es gab sehr viele Menschen, die in der DDR gelebt haben, die doch sehr unterschiedliche Biographien haben. Die jetzt zu vermengen, den Stasi-Offizier mit dem politischen Häftling, den Parteisekretär mit dem evangelischen Pfarrer, da muss man sehr vorsichtig sein. Die Erfahrungen und Erlebnisse in der DDR waren sehr, sehr unterschiedlich.
Es ist wichtig, dass sie mit einbezogen werden. Es ist wichtig, dass man auch die langen Linien betrachtet aus der DDR-Geschichte heraus bis heute, aber man darf bestimmte Fragestellungen nicht darauf reduzieren.

Schlag ins Gesicht der Opfer der SED-Diktatur

Deutschlandfunk Kultur: Es fällt auf bei der Argumentation der AfD, gerade auch im Osten, dass da immer wieder diese Legenden erzählt werden von angeblicher staatlicher Willkür, die nach wie vor herrschen soll, und von einer angeblich gelenkten Presse. Wir erleben das auch, dass wir als "Lügen-Presse" diffamiert werden. – Ist diese Skepsis gegenüber Staat und Medien, die es auch im Westen gibt, aber – wie gesagt – im Osten ist die AfD auffallend erfolgreich, ein Stück Erbe der DDR?
Jahn: Ich weiß es nicht, mir gibt es da viel zu viele einfache Antworten. Skepsis ist immer erstmal gut. Hinterfragen ist doch erstmal gut. Politik, Staat muss hinterfragt werden, aber auch Medien müssen hinterfragt werden. In der Hinsicht ist das erstmal ein Bürgerrecht, was wahrgenommen wird. Das ist wichtig.
Wogegen ich mich wehre ist, dass behauptet wird, es gäbe keine Meinungsfreiheit. Wer das so benennt, der verkennt die Realitäten, wie sie in der DDR waren. Wer das gleichsetzt, schlägt den Opfern der DDR-, der SED-Diktatur ins Gesicht. Das ist wichtig, dass man hier nochmal klar und deutlich die Unterschiede aufzeigt. Wer eine Meinung hat, muss auch mit einer Gegenmeinung rechnen. Aber das ist der freie Diskurs in dieser Demokratie. Der muss geführt werden.
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