Statt Pathos Schabernack

Von Jörn Florian Fuchs |
Das Stück ist eine veritable Herausforderung: Je nach gespielter Fassung gibt es bis zu fünf Stunden Musik, jede Menge Bravour-Arien, gewaltige Chortableaus, ausgedehnte Ballette. Fromental Halévys Grand Opéra "La Juive" zählt zu den aufregendsten Werken dieser Gattung.
Erzählt wird vom Juden Eléazar, der einst die Tochter eines christlichen Herrschers rettete und bei sich aufnahm. Während des Konstanzer Konzils gerät die Welt des Juden aus den Fugen, da er es mit dem Unmut des Volkes zu tun bekommt. Ferner verliebt sich seine Ziehtochter Rachel auch noch in einen adligen Katholiken. Die Situation eskaliert, Eléazar und Rachel werden zum Tode verurteilt. Erst im Todesmoment Rachels deckt Eléazar die wahre Identität "seiner" Tochter auf ...

An der Stuttgarter Staatsoper inszenieren Jossi Wieler und Sergio Morabito das Stück in nicht genau festgelegten Räumen, auf einer Drehbühne wechseln angedeutete, nach hinten offene Gebäude (eine Kirche, das Haus Eléazars) mit Holzgerüsten oder einem mediterranen Landschaftsgemälde. Das äußerst dumpfe, nach Gewalt lechzende Volk trägt Alltagskleidung, ganz am Schluss kommt es als Juden-Karikatur mit angeklebten Hakennasen und Bärten daher.

Wieler und Morabito schaffen eine Abfolge assoziativer Bilder und Situationen, wobei es ihnen offenbar besonders um das Vermeiden von Pathos geht. Das ist angesichts der zuweilen dick auftragenden Musik zwar einerseits durchaus erfrischend, andererseits entzieht es dem Stück über weite Strecken die (letztlich doch) notwendige Ernsthaftigkeit. Die üblicherweise gestrichenen Ballette werden mit Krieg spielenden Kindern oder mit (teils mattem) Slapstick bebildert.

Am Ende gibt es anstelle der Hinrichtung eine eher unplausible Volte: Eléazar zieht eine Pistole, tötet seine Tochter und dann sich selbst. Um die Darstellung der inneren Reflektionsprozesse des zwischen Gnadegedanken und Rachegelüsten zerrissenen Juden drückt man sich mehr oder minder, was das ganze Stück in der Konsequenz gleichsam entkernt.

Musikalisch wäre Stuttgart sicher besser mit seinem neuen Generalmusikdirektor Manfred Honeck gefahren. Der hatte zu Saisonbeginn Berlioz' "Les Troyens" brillant zum Klingen gebracht, für "La Juive" wurde der junge Dirigent Sébastien Rouland verpflichtet. Rouland war Assistent von Marc Minkowski, was man ihm jedoch nicht wirklich anmerkt: grobschlächtig, laut und ungelenk schleppen sich die ersten drei Akte dahin. Etwas klangsinnlicher gelingen immerhin Teile des vierten Akts sowie das große Finale. Mit Chris Merritt (Eléazar) stand ein altgedienter Tenor zur Verfügung, der sich im Laufe des rund fünfstündigen Abends mit großer Kraft, aber reichlich nasal durchkämpft. Tatiana Pechnikova (Rachel) überzeugt erst im vierten und fünften Akt, zuvor blieb ihre Stimme sehr monochrom.

Vom übrigen Ensemble boten Liang Li und Catriona Smith ausgezeichnete Leistungen, ebenso der üppige Chor, einstudiert von Michael Alber.