Staudämme für Chinas Energiehunger

Von Markus Rimmele |
Seit Jahrzehnten plant die chinesische Regierung ein Staudammprojekt am Fluss Nu, einem wasserreichen Gebirgsstrom im Südwesten des Landes. Wie beim Dreischluchtenstaudamm, dem Prestigeprojekt am Jangtse, wird auch dieses Vorhaben auf Kosten der Umwelt und der Bevölkerung vorangetrieben.
Setz dich, setz dich, sagt die Frau. Doch sie hat gut reden. Sie drückt den Passagier in eine schlaff herabhängende Stoffmatte, die wenig Halt gibt. Im Bauch wird es flau. Im Kopf brennt die Frage, ob das vielleicht nicht doch alles eine Schnapsidee ist. Der Plan ist, auf einer Matte sitzend ein Drahtseil entlang zu sausen, eine tiefe Schlucht zu überqueren. Der Mut schwindet. Da hilft auch der atemberaubende Blick auf das türkisfarbene Wasser des Nu-Flusses unten am Talboden nichts. Doch zu spät. Die Dame, auf einer eigenen Matte neben dem Gast, stößt beide lachend ab. Los geht’s!

Die Fluss-Überquerung dauert nur 20 Sekunden. Kurz, doch genug Zeit, um für einen Augenblick diese Landschaft ganz zu erfassen, durch sie hindurch zu fliegen, ein Teil von ihr zu werden. Links und rechts führen die steilen Bergwände schier endlos hinauf in den blauen Himmel. Sie sind teilweise bewaldet, teilweise von Bauern für die Landwirtschaft terrassiert. An den Hängen kleben einzelne Holzhäuser, aus denen Rauch aufsteigt. Tief unten, gurgelnd und klar, da fließt der Nu. Er strömt vom tibetischen Hochland herab. Das Gletscherschmelzwasser erzeugt im Winterhalbjahr diese schier unwirkliche Flussfarbe.

Die 43-jährige Aqia, eine energische Frau mit streng zusammengebundenem Haar betreibt die Querungsstation seit 20 Jahren, erzählt sie. Aqia spricht die Sprache der Lisu, einer von sechs Volksgruppen, die hier am Nu zu Hause sind.

Einheimische: "Hier gibt es schon seit über 100 Jahren ein Drahtseil. Acht Personen können den Fluss gleichzeitig an einem Haken überqueren. Ganz früher war das Seil nicht aus Draht, sondern aus Bambus. Das war gefährlich. Die Regierung überprüft das Seil regelmäßig. Wenn etwas nicht in Ordnung ist, darf man nicht überqueren."

Menschen, Ziegen, ja selbst Pferde und Maultiere wurden hier Jahrhunderte lang an Haken befestigt, wechselten am Seil die Talseite. Heute sind nur noch wenige Seile in Betrieb. Die Regierung hat Brücken gebaut. In einigen Jahren könnten aber auch diese obsolet sein, so wie überhaupt fast alles hier. Die enge 300 Kilometer lange Nu-Schlucht soll de facto in ein einziges großes Wasserkraftwerk verwandelt werden. Eine Kaskade von fünf Staudämmen ist geplant. Das Tal wird sich mit Wasser füllen. Gerüchte kursieren unter den Bauern rings um die Drahtseilstation. He Yong wohnt ein paar Häuser weiter.

"Ich habe gehört, dass das Wasser über 300 Meter hoch steigen wird. Bis nach da oben am Berg, wo der Signalturm steht. Aber ich mache mir keine Sorgen. Wir vertrauen der Regierung. Wir tun, was uns die Partei sagt. Wenn sie sagt, dass wir umziehen sollen, ziehen wir um. Ich kann auch hoch in die Berge ziehen. Ich will nur nicht allzu weit weg."

300 Meter mag etwas hoch gegriffen sein. Doch die Staumauern werden wohl riesenhafte Bauwerke sein, glaubt auch der Umweltschützer Yang Yong aus Chengdu. Anders als viele Bauern am Nu ist er entschieden gegen die Staudämme.

"Typischerweise bauen sie heute die Staudämme so hoch wie möglich, um die Wasserkraft voll auszunutzen. Die Stauseen und die gefluteten Flächen werden riesig sein. Das Nu-Tal ist eine Schlucht. Ein großer Teil davon wird verschwinden, ebenso die meisten bewohnten Gebiete auf beiden Seiten des Tals. Die Landschaft wird vollkommen anders aussehen."

Geplanter Bau im Ökosystem

Der Nu fließe zudem durch ein seismisch hoch aktives Gebiet, so Yang Yong. Die Dämme könnten zusätzliche Erdbeben auslösen. Seit vielen Jahren schon existieren Pläne, den Nu, den letzten frei fließenden großen Fluss in China, mit Staudämmen zur Stromgewinnung zuzupflastern. 13 Stück sollten es ursprünglich werden. Im Jahr 2004 schaltete sich der damalige Premier Wen Jiabao persönlich ein, legte das Projekt auf Eis. Doch während des Moratoriums liefen die Vorbereitungen weiter. Im Januar wurde der Baustopp aufgehoben. Fürs erste sollen nun in den kommenden Jahren fünf Dämme entstehen. Wann die Arbeiten beginnen, ist aber noch unklar, sagte der Parteichef der Provinz Yunnan, Qin Guangrong, beim Nationalen Volkskongress im März.

"Wir bereiten das Wasserkraftprojekt am Nu-Fluss schon seit Jahrzehnten vor. Wir diskutieren noch immer über die Details. Wir werden mit dem Bau erst beginnen, wenn die Regierung unseren Plan gebilligt hat, wenn die Bevölkerung umgesiedelt und wenn die Umweltstudie fertig ist."

Das Nu-Tal, das ist geologisch betrachtet nichts anderes als eine Falte in einer gigantischen Knautschzone. Der indische Subkontinent drückt von Süden her gegen die eurasische Landmasse. Dabei hat sich im Norden das Himalaya-Gebirge aufgetürmt. Etwas weiter östlich, auf dem Gebiet der chinesischen Provinz Yunnan, sind dabei Faltenwürfe entstanden, als wäre die Erde geraffter Stoff. Diese Falten verlaufen parallel zueinander in Nord-Süd-Richtung. Drei der großen Flüsse Asiens fließen hier in Tälern nebeneinander, getrennt durch hohe Berggipfel: Der Jangtse, der Mekong und der Nu, weiter flussabwärts in Burma bekannt als Salween. Shi Xiaochun leitet den Gaoligongshan-Naturpark hoch über dem Nu-Tal.

"Die Bergketten hier verlaufen in Nord-Süd-Richtung. Westlich liegen Burma, Indien und der Indische Ozean. Im Osten liegt China. Das Klima befindet sich im Übergang zwischen Ost und West, aber auch Nord und Süd. Ebenso das Ökosystem. Hier kreuzen sich die Wanderrouten der Tiere. Viele anderswo verschwundene Arten konnten sich hier halten. Diese Region ist so etwas wie ein Schutzraum."

470 Vogelarten leben hier, erzählt Shi Xiaochun. Mehr als 6000 Pflanzengattungen sind hier zu Hause, viele davon nur hier. Allein 200 Rhododendronarten gibt es. Die Region der "Drei Parallelen Flüsse", wie sie heißt, ist ein von der Unesco anerkanntes Weltnaturerbe. Tier- und Pflanzenwelt, so die Unesco, sind hier vielfältiger als irgendwo sonst in der gemäßigten Klimazone. Der Staudamm-Gegner Yang Yong:

"Als Teil der Region der ´Drei Parallelen Flüsse` hat das Nu-Tal ein sehr vielfältiges Ökosystem. Wenn sich hier große Seen bilden, wird das Klima mit Sicherheit ein anderes sein. Ein reißender Fluss wird zu einem stillen See. Eine Schlucht wird zu einer großen Wasserfläche."

Nicht nur die Natur ist hier am Nu vielfältig, sondern auch die Bevölkerung. Ethnische Han-Chinesen sind in der Minderheit im Nu-Tal. Die Lisu sind die größte von insgesamt sechs Volksgruppen in der Gegend. Mit ihrer dunkleren Haut sehen sie schon deutlich südostasiatisch aus. Auch in Thailand, Burma und Indien leben Lisu.

Viele Lisu hier im Tal sind protestantische Christen. Der britische Missionar James Fraser brachte das Christentum Anfang des 20. Jahrhunderts ins Nu-Tal. Weiter nördlich leben noch Katholiken und tibetische Buddhisten. Die Lisu sind mehrheitlich Bauern. Zuckerrohr, Reis und Mais bauen sie auf den wenigen geeigneten Flächen in dem engen Tal an. Viel Geld ist dabei nicht zu verdienen. Die Gegend gehört zu den ärmsten in ganz China. Fast alle Haushalte erhalten eine Sozialhilfe von der Regierung. Der 30-jährige Bauer Xiong Guihai sitzt in einer Dorfkirche und erzählt:

"Vier von zehn jungen Leuten gehen zum Arbeiten weg, in die Städte oder irgendwo hier in der Region. Meistens arbeiten sie auf dem Bau. Ich bin der einzige Sohn der Familie. Deshalb bin ich nicht weggegangen. Ich muss mich um meine Eltern und meine Kinder kümmern."

Xiong Guihai versteht nicht, was die Ausländer hier an der Nu-Schlucht interessiert.

"Hier im Dorf haben wir nur einfache Hütten. In der Stadt gibt’s Hochhäuser. Da fahren sie Autos. Das können wir uns nicht leisten. Mittlerweile habe ich immerhin Autos gesehen. Lange wusste ich gar nicht, wie die aussehen. Das Leben da draußen muss so glänzend sein. Das einzige aber, was wir jeden Tag sehen, sind Berge und Bäume. Ich hoffe, dass meine Kinder mal weggehen. Wenn sie bleiben, heißt das nur, dass sie keinen Fortschritt gemacht haben."

Das ist der Grundtenor bei den Bewohnern des Tals. Noch kursieren nur ungenaue Angaben darüber, wie viele Leute umsiedeln müssen. Vermutlich werden es Zehntausende sein. Alle hier unten am Fluss gehen davon aus, dass sie wegziehen müssen. Viele hoffen dadurch auf eine Verbesserung ihrer Lebenssituation. Der Bauer Li Adeng zum Beispiel:

"Wir werden umziehen müssen. Vielleicht hoch in die Berge. Ich bin mir sicher, dort wird man uns eine neue Lebensgrundlage geben. Das Land hier an den Talhängen ist steil. Der Dünger wird immer gleich heruntergespült. Man kann sich ja kaum ernähren. Keiner hat hier mehr Lust auf Landwirtschaft. Wir sind schon zu lange in dieser Schlucht gefangen. Generation für Generation wird unser Potenzial hier vergeudet."

Der Glaube an die Regierung scheint ungebrochen

Die Schönheit der Landschaft, die Erdbebengefahr, das Ökosystem – diese Themen sind weit weg vom Leben der Menschen hier. Die meisten hoffen vielmehr auf eine großzügige Entschädigung im Zuge der Dammprojekte. Sie kennen vermutlich nicht die Geschichten vom großen Dreischluchtenstaudamm, von den gebrochenen Versprechen der Regierung, den versickerten Entschädigungszahlungen, den Umsiedlungen in fremde Gegenden ohne Arbeit. Der Glaube an die Regierung scheint im Nu-Tal ungebrochen. Oder ist es die schiere Machtlosigkeit? Der Bauer Yu Zhenhui:

"Unser Ort hier ist sehr schön. Aber wir können nicht einfach sagen, dass wir nicht umziehen wollen. Die Regierung hat uns dafür zu gut behandelt. Wir bekommen Sozialhilfe und andere Unterstützung. Die Regierung hat uns in ihrer Hand."

Sehr viele hier im Tal bekommen von der Regierung Geld und kostenlos Reis. Ab und an gibt es dann doch eine kritische Stimme. Aliwu gehört der kleinen Volksgruppe der Nu an. Nach ihnen ist der Fluss benannt. Das traditionelle Holzhaus von Aliwu liegt direkt am Wasser.

"An uns wurden Formulare ausgeteilt. Darin haben sie uns gefragt, was wir von dem Staudammprojekt halten. Viele haben ihre Einwände geäußert. Wir wissen doch gar nicht, wo wir dann sein werden, wenn das Wasser alles flutet. Oben in den Bergen zu leben, ist doch nicht praktisch. Viele sagen, wir Dörfler können sowieso nichts machen. Wir kennen uns mit dem Recht nicht aus und wissen auch nicht, wie viel Entschädigung wir verlangen sollen. Wir wollen gern hier bleiben. Wir hängen an dem Ort. Hier haben wir seit vielen Jahren unser Land und unsere Häuser."

Die Chancen für Aliwu stehen schlecht. Chinas Energiehunger und die Interessen der staatlichen Stromkonzerne haben sich bislang stets als stärker erwiesen als Anwohner oder Umweltschützer. In China ragen mittlerweile über 25.000 größere Staudämme in den Himmel, etwas mehr als im Rest der Welt zusammen. Kein größerer Fluss im Land, außer dem Nu, ist noch dammfrei. Auch unzählige kleinere Flüsse sind aufgestaut. Peking nimmt dabei wenig Rücksicht auf die Nachbarländer flussabwärts, im Falle des Nu auf Burma.

Dort am Unterlauf könnten sinkende Pegel und verringerte Fischbestände die Folge sein. In China selbst wurden zahlreiche Landschaften bereits zerstört. Zu besichtigen ist das Ergebnis der Staudämme gleich im Nachbartal des Nu, am Mekong oder Lancang, wie er auf Chinesisch heißt. Stille braune Seen haben dort bereits die Schlucht aufgefüllt. Auch das Leben hier im Tal wird nicht mehr dasselbe sein. Kein buntes Völkergemisch mehr, kein religiöses Wirrwarr, kein Flussrauschen. Auch das Türkis des Nu wird nur noch auf alten Fotos leuchten.
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