Stefan Kutzenberger: „Kilometer Null“
© Berlin Verlag
Fantastischer Krieg der Literaturen
06:59 Minuten
Stefan Kutzenberger
Kilometer NullBerlin Verlag, Berlin 2022397 Seiten
24,00 Euro
Reale gegen Fiktionale: Stefan Kutzenberger entwickelt aus einem Schriftsteller-Streit eine abgedrehte Krimi-Komödie zwischen Europa und Südamerika. An vielen Stellen kreuzt sie die historische Realität beider Kontinente.
Kriege entstehen manchmal aus nichtigen Anlässen. In „Kilometer Null“ ist der Auslöser besonders ungewöhnlich, nämlich: die Literatur. Als eine uruguayische Schriftstellerin während eines Kulturaustauschs in Österreich der europäischen und vor allem deutschsprachigen Literatur vorwirft, zu „real“ und zu wenig „fiktional“ zu sein, lässt das die Erdteile fast im Wortsinn auseinanderdriften: Kreuzfahrtschiffe werden zu riesigen Flüchtlingsbooten, die sich vor Südamerikas Küsten stauen, weil kaum ein Land bereit ist, die vor dem „Realen“ fliehenden Europäer aufzunehmen - so wie während des Zweiten Weltkriegs Dampfer voller Exilanten vor den rettenden Küsten abgewiesen wurden.
Die "Fiktionalen" sind die Guten
„Kilometer Null“ schaukelt zwischen kleinstädtisch-österreichischem Ambiente, dem der Geruch von Fremdenfeindlichkeit anhaftet, und südamerikanischen Hafenstädten. Dort stempeln rigorose Grenzbeamte den eintreffenden Europäern diskriminierende Buchstaben in den Pass: „R“ für „Real“ oder das rettende „F“ für „Fiktional“ - wer sich als Erfindung ausgibt, gilt als „Guter“.
Ein bisschen an den Haaren herbeigezogen, dieses literaro-bellizistische Szenario, könnte man meinen. Aber der österreichische Schriftsteller formt aus dem abstrusen Streit der Poetik-Schulen einen urkomischen und irre spannenden Roman, der zum Kunstvollsten und Originellsten zählt, was die deutschsprachige Literatur in dieser Saison zu bieten hat.
Geschichte gibt es nur im Plural
Der Protagonist in Stefan Kutzenbergers magisch-realistischem Schlachtengemälde heißt: Stefan Kutzenberger. Der ist nicht nur ein mittelerfolgreicher, leicht skurriler, sexuell unausgelasteter Schriftsteller, sondern noch dazu in mehrere Personen aufgespalten, die sich auf unterschiedlichen Wegen durch Südamerika kämpfen - gejagt von Grenzschützern, kaserniert in Flüchtlingsbaracken, knapp dem Tode entrinnend im kolumbianischen Dschungel. Oder unerwartet die Liebe seines Lebens findend in Gestalt eines attraktiven Kneipenwirts an der uruguayisch-brasilianischen Grenze.
Geschichte, heißt es an einer zentralen Stelle im Buch, könne es nur „im Plural geben (…), es gibt niemals nur eine einzelne, sondern immer viele Geschichten, unzählige sogar, die einander unweigerlich ständig kreuzen, berühren, widersprechen, bestärken und wieder aufheben.“
Durch das literarische Lateinamerika
Und: Dieser Roman ist ein scharfer Ritt durch die literarische Geografie Lateinamerikas. Macondo, die Urwald-Stadt in Gabriel García Márquez’ Welterfolg „Hundert Jahre Einsamkeit“ spielt eine ebenso zentrale Rolle wie das gleichfalls fiktive Städtchen Santa María des uruguayischen Schriftstellers Juan Carlos Onetti. Auch Stefan Zweig, der während des Zweiten Weltkriegs in der Nähe von Rio de Janeiro Selbstmord beging, kommt zu Wort.
Es ist kaum möglich - und auch nicht nötig -, alle Anspielungen, Verweise, historischen und literarischen Referenzen aufzuzählen oder zu erkennen. Stefan Kutzenberger führt uns durch einen selbsterschaffenen literarischen Kosmos. Sein transkontinentaler Episoden-Roman ist ungeheuer kraftvoll und sprachmächtig erzählt. Ironisch und geistreich, klug und witzig, und dabei kein bisschen trocken, trotz der literaturtheoretischen Fantastereien.
Federleicht und rasant zu lesen wie ein Kriminalroman - was „Kilometer Null“ tatsächlich auch ist, denn erzählerisches Rückgrat ist die Chronik eines angekündigten Todes: durch den Schuss aus einer Pistole, die auf wundersame Weise aus Österreich nach Uruguay gelangt. Dieser Roman, dieser bisher wenig bekannte Schriftsteller Stefan Kutzenberger ist eine atemberaubende Entdeckung.