Stefan Weidner: "Ground Zero. 9/11 und die Geburt der Gegenwart"
Hanser, München 2021
256 Seiten, 23 Euro
Welt in Unordnung
07:19 Minuten
Der Islamwissenschaftler Stefan Weidner analysiert in seinem Essay "Ground Zero" die Verwerfungen zwischen dem Westen und seinen Feinden – und hofft auf neue, konstruktive Weltordnungen.
"Eine neue Weltordnung, in der die Nationen der Welt, Ost und West, Nord und Süd gedeihen und in Harmonie leben können". Aus der Euphorie, mit der US-Präsident George H. W. Bush 1990 das Ende des Kalten Kriegs beschwor, ist bekanntlich nichts geworden. Größer als jetzt könnte die Weltunordnung kaum sein.
Auf genau diesen Punkt der verpassten Gelegenheit zielt Stefan Weidners jüngster Essay. Als Umschlagpunkt für den globalen Irrweg seitdem sieht der 1967 geborene Übersetzer, Islamwissenschaftler und Autor den Anschlag auf das World Trade Center vom 11. 9. 2001, der sich in diesem Jahr zum 20. Mal jährt.
Für ihn ist das Ereignis der "Urknall unserer Welt". Damals, so Weidner, habe der Westen die Chance auf eine bessere Ordnung vergeben. Mit seinem in den Kriegen gegen Afghanistan und den Irak gipfelnden Kreuzzug habe er eine globale Konfrontation eingeleitet, aus der die Welt nicht mehr herausfinde.
In dem Mix aus Xenophobie, Neoliberalismus und der "Pax Americana", der unter dem Deckmantel der Terrorbekämpfung seitdem zur globalpolitischen Maxime wurde, sieht er auch den Grund für den allenthalben beklagten Niedergang des Westens und den Verlust seiner Glaubwürdigkeit.
Grundproblem Nahost-Politik
Weidner ist kein abgehobener Globalstratege aus einem Thinktank, er kennt die muslimische Welt genau. Kenntnisreich arbeitet er den Hauptgrund für das Erstarken des politischen Islam heraus: Die interventionistische Nahost-Politik der USA seit dem 2. Weltkrieg. So hätten sich nach dem Ende des Sozialismus erst Khomeinis Iran, dann Al-Qaida und der Islamische Staat (IS) die Rolle der antiimperialistischen Opposition aneignen können.
In seinem Buch argumentiert der Autor mitunter etwas spekulativ. Etwa mit seiner These, eine "Öko-Präsidentschaft" des im Jahr 2000 in den US-Wahlen unterlegenen Kandidaten Al Gore wäre nach 9/11 eine Möglichkeit gewesen, "die Erde zu retten, statt sie den Kräften der Zerstörung zu überlassen und einen Krieg zu führen, der nicht zu gewinnen war".
Er geizt auch nicht mit Pauschalthesen wie dem "Vierten Weltkrieg" oder dass der Westen insgesamt "nie wirklich liberal und demokratisch" gewesen sei. Überzeugender klingt diejenige, Al-Qaida sei, indem sie die technischen und medialen Mittel der Moderne benutzt habe, nur der verschärfte Ausdruck dieses janusköpfigen Modells gewesen – mithin nicht sein radikal Anderes.
Für eine Politik des sozialen Fortschritts
Weidner stützt sich bei seiner gelegentlich etwas mäandernden Analyse auf reichlich zitierte, intellektuelle Gewährsleute wie Naomi Klein, Arundhati Roy oder Quinn Slobodian. Sein vehementer, schon in seinem 2018 erschienenen Buch "Jenseits des Westens" intonierter Appell für eine neue Politik des "sozialen und ökologischen Fortschritts" und des "Biokosmopolitismus" kommt dennoch zur rechten Zeit. Ereignet sich doch mit der weltweiten Pandemie wieder ein "Ground-Zero-Ereignis".
Skepsis ist freilich angebracht an Weidners Hoffnung, dass sich nach der "Abdankung der USA als Orientierung stiftender Weltmacht" für Europa nun eine "unverhoffte zweite Chance" eröffne, einer alternativen Weltpolitik den Weg zu bereiten. Die EU ist selbst Teil des kompromittierten Westens und weder so stark oder so unabhängig, dass sie allein die neue Weltordnung durchsetzen könnte, die George H. W. Bush einst vergeblich beschwor. Was sie nicht hindern sollte, es zu versuchen.