"Rückblickend ist die Fatwa ein epochales Ereignis"
1989 rief Irans Revolutionsführer Ayatollah Khomeini zum Mord an dem Schriftsteller Salman Rushdie auf. Für den Islamwissenschaftler Stefan Weidner war diese "Fatwa" ein welthistorischer Einschnitt − was folgte, setzte den Ton in Islam-Debatten bis heute.
Andrea Gerk: 30 Jahre ist es heute her, dass der iranische Revolutionsführer Ajatollah Khomeini zum Mord an dem Schriftsteller Salman Rushdie aufrief. Der Fatwa waren heftige Proteste gegen Rushdies "Satanische Verse" vorausgegangen, durch die viele Muslime sich ja in ihrer Identität geschmäht sahen. Ich bin jetzt mit dem Islamwissenschaftler und Journalisten Stefan Weidner in einem Studio in Köln verbunden. Hallo, guten Tag, Herr Weidner!
Stefan Weidner: Guten Morgen!
Gerk: Wie war das denn damals? Rushdie war ja eigentlich schon ein berühmter Schriftsteller. Er hatte den Booker-Preis für "Mitternachtskinder" bekommen. Wie kam es zu diesem Skandal? Was war in den "Satanischen Versen" so unerhört?
Weidner: Was unerhört ist, ist eigentlich, dass ein muslimischer Autor, Salman Rushdie ist ein muslimischer Autor, stammt aus sozusagen einer muslimischen Familie in Indien. Dass ein muslimischer Autor dermaßen despektierlich über den Islam und vor allen Dingen den frühen Islam, den Propheten und seine ersten Freunde, Gesinnungsgenossen schreibt. Das war, zumal von einem Autor, der dermaßen bekannt war, er hat ja den Booker-Preis bekommen für diesen tollen Roman, "Die Mitternachtskinder", und seitdem war Salman Rushdie ein Star.
Als Angriff auf den frühen Islam gelesen
Und von diesem literarischen Star nun ein Buch zu lesen, was sozusagen ein Frontalangriff auf das Heiligste des Islams, was so gelesen werden konnte, was es meiner Ansicht nach nicht ganz und gar ist, das war wirklich ein Einschnitt, und rückblickend ist es ein epochales Ereignis. Es setzt den Ton für unsere ganzen Islam-Debatten bis heute. Man kann es eigentlich gar nicht überschätzen.
Gerk: Hatte das damals denn tatsächlich nur in Anführungszeichen mit dem Inhalt dieses Werks zu tun, oder war diese Fatwa auch mit der politischen Situation im Iran irgendwie verknüpft?
Weidner: Ja, das hängt alles sehr zusammen. Tatsächlich gab es Proteste vor der Fatwa von Ayatollah Khomeini. Das waren verschiedene muslimische fundamentalistische Gruppen in Indien, in Pakistan, die unter anderem von Saudi-Arabien unterstützt worden sind, die gegen dieses Buch demonstriert haben. Aber das hat wenig Leute interessiert, auch die Medien noch nicht einmal.
Dann verbrannte eine Gruppe in Bradford, das ist eine englische Kleinstadt, wo es sehr viele muslimische Einwanderer gibt, dort verbrannte eine Gruppe dieses Buch. Und das sorgte dann für einen ersten medialen Skandal. Und dann, glaube ich, nutzte Ayatollah Khomeini die Gelegenheit, diesen Skandal nun für sich zu nutzen und mit der Fatwa praktisch zu beanspruchen, für alle Muslime zu sprechen und den Islam jetzt gegen diesen vermeintlichen Angriff zu verteidigen.
Es ging also auch um die Vorherrschaft über den Islam in der islamischen Welt. Es ging um den saudisch-iranischen Konflikt, der ja bis heute weiter schwelt. Das hat Khomeini genutzt. Mit anderen Worten: Ohne diese weltpolitische Gemengelage wäre es natürlich nicht zu der Fatwa und auch nicht zu diesen wahnsinnigen Protesten gekommen.
Bruch zwischen liberalen und traditionellen Muslimen
Gerk: Und Sie haben ja schon gesagt, das hat quasi welthistorische Bedeutung. Würden Sie auch sagen, dass all die Attentate, die dann in den Jahren seitdem passiert sind, wenn man dran denkt, die Ermordung von Theo van Gogh oder auch der Anschlag auf "Charlie Hebdo", sind das tatsächlich direkte Folgen oder hat sich das daraus entwickelt?
Weidner: Als direkte Folgen würde ich es nicht bezeichnen, aber es folgt einem ähnlichen Muster. Und die Frage, die uns seither umtreibt, ist sozusagen, wie verhalten wir uns zur Meinungsfreiheit, wie viel Meinungsfreiheit wollen wir uns, also "wir" ganz inklusiv, die ganze Gesellschaft im Westen inklusive natürlich der Muslime. Wie viel Meinungsfreiheit kann, muss und soll man sich leisten. Und dagegen gibt es die Tendenz in Teilen der muslimischen Gemeinschaft, besonders eher den sozusagen traditionell, vielleicht auch fundamentalistisch gesonnenen, die sagen, nein, man soll diese Meinungsfreiheit nicht ausreizen, es gibt noch eine Grenze, es gibt noch etwas Heiliges.
Und dieses Muster ist zum ersten Mal sozusagen aufgebrochen als Konfliktlinie, geradezu als Spaltpilz zwischen diesen traditionelleren Muslimen und den sozusagen eher sich besonders auf die liberale Tradition berufenden Elemente im Westen.
Das ist zum ersten Mal aufgebrochen in dieser Rushdie-Affäre und zieht sich tatsächlich durch bis zu "Charlie Hebdo", mit tragischen Folgen natürlich. Und es ist klar, dass die Ermordungen und die Angriffe, die müssen natürlich radikal verurteilt werden. Es ist schade, dass diese Diskussion in so ein gewalttätiges Fahrwasser geraten ist und man nicht mehr sachlich darüber diskutieren kann.
Notwendigkeit einer gesellschaftlichen Diskussion
Gerk: Und wenn man sich vorstellt, dass es damals ja noch gar kein Internet gab und wir heute eben diese extreme Medialität haben, und es ist damals schon so hochgekocht. Würde das heute, denken Sie, ganz anders verlaufen?
Weidner: Auch da sehen wir eigentlich, die globalen medialen Muster waren damals schon wirksam. Und das heißt im Grunde auch, dass das, was wir heute im Internet sehen, dadurch geschieht. Also die Kommunikation ist schneller geworden und vielleicht noch internationaler, verbreitet sich noch mehr. Allerdings muss man auch ganz nüchtern sagen, so viel hat sich fundamental nicht geändert.
Mit anderen Worten, die Situation, mit der wir heute konfrontiert sind, ist damals schon gesetzt gewesen, hat sich damals schon beispielhaft verwirklicht. Das heißt, wir schlagen uns immer noch mit denselben Problemen herum. Wir haben immer noch nicht sozusagen uns klar darauf geeinigt, was wir jetzt eigentlich unter Redefreiheit, unter Free Speech, unter Meinungsfreiheit verstehen. Und ich glaube, wir unterscheiden leider nicht zwischen dem, was gesetzlich erlaubt ist, und dem, was sozusagen wünschenswert oder moralisch geboten ist.
Gesetzlich muss es eine Meinungsfreiheit geben, und diese Meinungsfreiheit kennt keine bis sehr enge, wenige Grenzen. Wir können ein Buch wie Salman Rushdie oder auch umstrittene Autoren, wie meinetwegen Theo von Gogh oder Karikaturen, das kann man nicht verbieten, finde ich. Aber man kann sich natürlich fragen, ob das sinnvoll ist. Man darf dagegen Kritik äußern.
Man braucht eine gesellschaftliche Diskussion, eine Diskussion, die nicht auf die Frage hinauslaufen soll, ob man so was verbieten soll, sondern auf die Frage, ob es sich ziemt, ob es gesellschaftlich hilfreich ist, ob es vielleicht tatsächlich die Gesellschaft spaltet oder nicht. Das ist die Diskussion, die wir bräuchten und die leider bis heute immer noch nicht geführt wird.
Rushdie ist bis heute gefährdet
Gerk: Und wie geht es Salman Rushdie heute? Was weiß man über seine Lebenssituation? Die Fatwa wurde ja 1998 quasi annulliert.
Weidner: Ich glaube, er ist immer noch in gewisser Hinsicht gefährdet. Ich hatte vor zwei Jahren einmal eine Lesung mit ihm gesehen in München, da schien er mir doch ohne Polizeibegleitung anwesend zu sein. Die Sache hat sich deutlich entspannt. Es gibt für die radikalen Islamisten, die tatsächlich einen Anschlag begehen wollen, auch andere Opfer, die genauso ins Visier geraten sind.
Das ist ja eigentlich das Tragische, dass wir mittlerweile eine Multiplikation von solchen potenziellen Opfern haben, dass eigentlich das Muster auch insofern geschaffen wurde, als jetzt jeder, der sozusagen sich despektierlich oder äußerst kritisch gegenüber dem Islam äußert, sozusagen Gefahr läuft, zumindest Morddrohungen zu erhalten und vielleicht auch tatsächlich gefährdet zu sein.
Hamed Abdel Samad in Deutschland zum Beispiel, aber auch Thilo Sarrazin muss immer mit Leibwächtern herumlaufen. Und das ist natürlich tragisch. So problematisch die Ansichten von meinetwegen Sarrazin sind, kann es natürlich nicht sein, dass er wirklich um sein Leben fürchten muss. Und da ist Salman Rushdie wirklich der erste Fall gewesen, wo das virulent wurde.
Gerk: Stefan Weidner, vielen Dank für dieses Gespräch!
Weidner: Gern!
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandfunk Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.