Stefano Massini: "Das Buch der fehlenden Wörter"

Ein bezwingendes, kurioses Lexikon

05:39 Minuten
Das Cover von Stefano Massinis Buch: "Das Buch der fehlenden Wörter" auf orange-weißem Hintergrund
Zustände, für die es keine Wörter gibt – danach hält Stefan Massini Ausschau. © Hanser Verlag / Deutschlandradio
Von Maike Albath |
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Was bitte ist "Dottienz"? "Gulliverrose"? Nie gehört? Der italienische Schriftsteller Stefano Massini erfindet in "Das Buch der fehlenden Wörter" Begriffe für Zustände, die wir alle kennen, für die es aber keinen Ausdruck gibt. Bislang.
Jemand, der sich auf "Dottienz" versteht, schafft es, jedem Drama etwas Komisches abzugewinnen, jedes Unglück in Glück umzumünzen und die ganze Welt, eingeschlossen die eigene Person, mit allerschwärzestem Humor zu betrachten. Der Begriff geht zurück auf die Schriftstellerin Dorothy Parker, die mit einem stählernen Willen ausgestattet war und sich in ihrem wechselvollen Schicksal durch nichts erschüttern ließ.
Unter "Gulliverrose" leidet ein Mensch, der sich wie Jonathan Swifts Gulliver entweder als so klein wie ein Zwerg oder als so groß wie ein Riese empfindet und dem permanenten Zwang des Vergleichens ausgesetzt ist. Als "Parksiade" wird eine besondere Errungenschaft bezeichnet, die durch eine spontane Entscheidung im richtigen Moment zustande kommt und plötzlich den unerträglichen Zustand der Welt offenbart: Die schwarze Näherin Rosa Parks weigerte sich im Dezember 1955, ihren Platz im Bus für einen weißen Fahrgast freizugeben und löste damit eine Welle von Protesten aus.

Kuriose Begebenheiten

Ein "Zeissiteur" – nach dem Optiker Carl Zeiss – ist eine Person, der freiwillig auf das größte Ziel verzichtet, sich stattdessen in das Studium des allerkleinsten Maßes versenkt und daraus etwas Nützliches abzuleiten weiß. Jemand, der "questisch" zu Werk geht, trifft hingegen gar keine Vorkehrungen. Der Hintergrund ist Shackletons Expedition an den Südpol auf einem Kahn namens Quest.
Aber was, um Himmels willen, sollen diese ganzen neuen Wörter, deren Bedeutung man sich langwierig erklären lassen muss?
Die Welt besteht aus Sprache, und der italienische Schriftsteller Stefano Massini, 1975 in Florenz geboren, spitzfindiger Dramatiker und Romancier, hat nicht gewartet, bis bestimmte Begriffe in aller Munde sind. Nein, er hat den Spieß einfach umgedreht und ein "Buch der fehlenden Wörter" geschrieben.
Das Ergebnis ist ein bezwingendes Lexikon mit Einträgen zu verschiedenen Buchstaben voller phantastischer Porträts historischer Figuren und kurioser Begebenheiten. Es sind Fundstücke, bei denen er wild hin und her springt zwischen den Epochen und vom Hölzchen aufs Stöckchen kommt, um überraschend wieder beim Hölzchen zu landen.

Herumlümmelnder Held

Der Anlass für dieses von Annette Kopetzky glänzend übersetzte ungewöhnliche Wörterbuch ist eine zutiefst sprachphilosophische Einsicht. Mitten in einem bösen Streit dämmerte Massini, dass seine Sprache an allem schuld war. Er war Opfer seiner eigenen Rhetorik geworden; es ging gar nicht mehr um die Sache an sich.
Dass die Sprache entsprechend der Kultur, in der wir leben, nur einen Teil unserer Gefühlswelt abdeckt und anderes nicht auszudrücken vermag, ließ ihn nach den versteckten Sphären fahnden, nach Zuständen, für die es keine Wörter gibt, aber vielleicht Geschichten oder Persönlichkeiten, die sie verkörpern. Schließlich spricht man auch vom "Oblomowismus" und meint damit ein genussvolles Phlegma, benannt nach Gontscharows ewig auf dem Sofa herumlümmelnden Helden Oblomow.
Der Effekt der Lektüre des vergnüglichen Diktionärs ist folgender: Welches Wort fehlt uns eigentlich?

Stefano Massini: "Das Buch der fehlenden Wörter"
Aus dem Italienischen von Annette Kopetzky
Hanser Verlag München 2020
256 Seiten, 26 Euro

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