Steffen Popp (Hrsg.): "Spitzen – Gedichte. Fanbook. Hall of Fame"
Edition Suhrkamp, 2018
254 Seiten, 18 Euro
"Parlament sprachlicher Wundertiere"
Es gibt keinen unpoetischen Gegenstand mehr, schreibt der Lyriker Steffen Popp. Seine Anthologie "Spitzen" will eine "Hall of Fame" für deutsche Gedichte von heute sein. Darin sind zum Beispiel Texte von Ulrike Draesner oder Durs Grünbein zu finden.
Joachim Scholl: "Spitzen. Gedichte. Fanbook. Hall of Fame" – so spielerisch vergnügt ist eine Anthologie aktueller deutscher Dichtung überschrieben, die der Lyriker Steffen Popp herausgegeben hat. Eine Auswahl der eigensinnigsten, heftigsten, schönst umwerfenden Gedichte der jüngeren und jüngsten Gegenwart, so formuliert es Steffen Popp selbst. Er ist jetzt bei uns. Willkommen in der "Lesart" im Deutschlandfunk Kultur, guten Tag!
Steffen Popp: Schönen guten Tag!
Scholl: Ein Parlament sprachlicher Wundertiere – auch das ist Ihr Ausdruck, Herr Popp – haben Sie da einberufen. Gehen wir doch mal in dieses Plenum. Welche Fraktionen sitzen denn da?
Popp: Erst mal sind das alles Lieblingsfraktionen, Texte, die in den letzten 20 Jahren publiziert wurden, von alten Autoren, jungen Autoren, Autoren aus Ost-, West-, Süd- und Norddeutschland, die mich über die Jahre immer begleitet haben oder in den letzten Jahren dazugekommen sind und persönlich begeistert haben. Ich bin ja selbst Schreiber von Gedichten, also Teil dieser Szene, die ich da kartografiere in dem Buch, aber natürlich selbst nicht drin. Aber das hat halt einen großen Vorteil, dass man die Szene von innen heraus kennt, wie sie sich entwickelt hat. Und ich wollte mal eine Anthologie machen mit Texten, die nur aus Lieblingstexten besteht. So Spitzen halt.
Das Who-is-who der Gegenwartsylyrik
Scholl: Spitzen halt, Fanbook, Hall of Fame. Über 40 Autorinnen und Autoren sind da versammelt, von Nico Bleutge über Monika Rinck, Thomas Kling, Ulrike Draesner, Durs Grünbein, Jan Wagner, um wirklich nur ein paar zu nennen. Ein wirklich sehr prominentes Who-is-who der Gegenwartslyrik kann man sagen, und auch wirklich Gedichte des 21. Jahrhunderts. Sie schreiben nun in Ihrem Vorwort, Herr Popp, dass sich die deutsche Lyrik seit den 1990er-Jahren grundlegend verändert habe.
Popp: Ja.
Scholl: Was waren das für Veränderungen?
Popp: Ich spekuliere im Vorwort auch ein bisschen. Man kann es ja nicht ganz einschätzen selbst, man ist ja kein Literaturwissenschaftler, oder nur am Rand, ob das auch eine Wende-Dividende ist vielleicht, dass irgendwie so ideologische Blockaden durchschlagen wurden 1989, dass das alles ein bisschen zeitversetzt, irgendwie so schleimlösend und entkalkend gewirkt hat auch. Aber ich glaube, auch Digitalisierung und alle möglichen technischen Veränderungen haben dazu geführt, dass sich um die 2000er-Jahre herum kleine Verlage gegründet haben, in denen Lyriker halt viel niedrigschwelliger auch publizieren konnten und auch vielleicht ein bisschen unangepasster, und auch die Sprechweisen und Denkweisen sich gelockert und verändert haben. Das hat was damit zu tun, wie man selbstkritisch gegenüber der eigenen Position ist, die einbezieht, diese Kritik, aber auch eine andere Art von Humor entwickelt und Lockerheit entwickelt und nicht dieses ein bisschen verkrampfte, ein bisschen tranige und melancholische oder Agitprop-hafte, was so Strömungen in den Achtzigern ja stark waren, dass das irgendwie abserviert wurde nach und nach.
Neue Ernsthaftigkeit des Sprechens
Scholl: Sie schreiben auch, dass es bis dato poesieferne Themen jetzt plötzlich in die Gedichte einwandern, also dass es per se keinen unpoetischen Gegenstand mehr gäbe. Was heißt das eigentlich, was ist denn da in die Lyrik gewandert?
Popp: Eigentlich ist diese Theorie, dass eigentlich alles poesiefähig ist in der Welt – das gibt es ja schon seit über hundert Jahren, das begleitet eigentlich die Moderne. Aber so richtig umgesetzt in der Breite wurde es, finde ich, erst in den letzten 20 Jahren, wo Bereiche wie Ökonomie, Umwelt, Environment, Natur also auf andere Weise gesehen, alle möglichen Sachen aus der Lebenswelt in die Texte eingewandert sind, die es vorher so nicht gab. Auch Geologie, Geografie, also Naturwissenschaften, sehr viel Vokabular aus der Technik, alles, was ja auch fairerweise in den Text reingehört, weil es uns umgibt und unsere Lebenswirklichkeit so extrem prägt. Und es war schon lange eigentlich seltsam, dass zugunsten eines bestimmten Vokabulars oder poetischen Tons diese Bereiche immer so eine geringe Rolle gespielt haben.
Scholl: Ist die Lyrik dadurch zugänglicher geworden?
Popp: Ja und nein, wie es immer so ist. Einerseits gibt es so was wie bestimmte rhetorische Figuren, die es immer schwer gemacht haben mit der Lyrik, so Metaphern und solche Dinge, die sind eher auf dem Rückzug, so habe ich den Eindruck. Dafür hat man eher klassische Sätze oder Sätze, die man von der Syntax her erst mal einfach aufnehmen kann. Dafür sind die Sachen inhaltlich verzwickter und komplizierter geworden, und verschiedene Ebenen schalten sich ineinander und bilden Kontraste, also auf dieser Ebene. Auf der einen Ebene die Schwelle, um erst mal in den Raum reinzugehen, die ist niedriger geworden, denke ich, aber in dem Raum sich dann zu orientieren, das ist nicht unbedingt einfacher geworden.
Scholl: Und da haben Sie einen auf den ersten Blick erst mal paradoxen Zusammenhang beobachtet, nämlich dass der Ton niedrigschwelliger ist, er ist lockerer. Gleichzeitig aber wird dadurch eine ganz neue Ernsthaftigkeit des Sprechens irgendwie erzielt. Was ist das für ein Zusammenhang, was geschieht da?
Popp: Ich denke, wenn man sich erst mal über die eigenen Voraussetzungen des Sprechens klarer ist und diese Lockerheit hat, dann hat man auch eine andere Möglichkeit, das, was in der Dichtung mit Pathos bezeichnet wird und was ja immer so schwierig ist, weil man beim Pathos ganz schnell abrutschen kann und verunglücken im Text, das dann auf eine andere Weise wieder aufzunehmen und in den Text reinzuholen. Außerdem ist es, glaube ich, auch eine Ernsthaftigkeit, die über den eigenen Tellerrand weit hinausguckt. Viele Texte haben auch internationale Bezüge. Mit Blick auf dieses Geschehen weltweit ist es ja auch klar, dass es praktisch so eine Ernsthaftigkeit gibt im Text. Nicht, dass es das früher nicht auch gab, aber die Sachen sind, wie die Einwanderung dieser ganzen Themen in den Text zeigt, einfach komplexer geworden.
Hall of Fame – konservativ geordnet
Scholl: Sie haben einzelne Kapitel für diese Gedichte zusammengestellt, kann man sagen, und die Titel dieser Kapitel, die klingen selbst schon sehr poetisch. "Die wirkliche Möglichkeit" heißt es an einer Stelle, "Gras für alle", "Schwarzfirnisgeweiharchiv" gefällt mir besonders gut. Wie sind Sie auf diese Titel gekommen?
Popp: Das sind alles Titel, aus den Gedichten gezogen, und ich habe, nachdem ich so viele individuelle starke Texte ausgesucht habe – es ist ja für mich auch eine Hall of Fame, wie es im Titel schon steht, also wirklich ein Best-of –, wollte ich relativ konservativ ordnen im Gegensatz, also um das auszubalancieren ein bisschen, und habe ein bisschen thematisch geordnet. Das beschreibe ich auch im Vorwort, dass es ein Kapitel gibt, das ein klassisches Thema behandelt, nämlich Deutschlandbilder im Gedicht im weitesten Sinn. Gedichte mit internationalem Blick, Gedichte, die so Interieurs sind, und stark gerahmte Szenen, wie ich das sage, beschreiben, und so weiter, und so fort.
Scholl: Hören wir doch mal ein Beispiel, Steffen Popp. Sie haben ein Gedicht ausgesucht. Aus welcher Rubrik?
Popp: Aus der Rubrik – aus dem letzten Kapitel. Das hat den schönen Titel "Das pflanzliche Lamm". Der Text stammt von Ron Winkler und heißt "Pfad 27|33".
Es gibt kein Halten mehr/Die Wolken finden keinen Himmel/Das Cockpit ist verklebt mit Schmetterlingen, innen/Auch ich bin toter Admiral zu manchen Zeiten/Im Charaktersimulator durchkalbte mich etwas großes, glaziales/
Ich maß sofort, ob wir die Berge sahen/und wer die Fremden waren in unserem Stream/Poesie vielleicht?/
Deine Bauschkraft federt uns noch immer ab
Schon die Kinder schreiben Sinfonien für Bolzenschussgeräte
So übermannen Sie den Fjord
Obwohl Natur persönlich etwas anderes ist/sind die Fleischereien überreizt/wachsen die Bäume über sich hinaus/holt man sie ab
Das ist ein dunkles Öl für unsere Herzen
In ihnen geht es stündlich besser/Ich selbst fühle mich ganz und gar wie abgebildet auf dem Hundertträumeschein/Sei stark zu Hause/heul Treppen in die Heimat/und nimm den nächsten Papst zum Mars.
Scholl: Ron Winkler. Ein Gedicht aus der Anthologie "Spitzen", die Steffen Popp herausgegeben hat. Sie haben es jetzt für uns gelesen. "Sinfonie für Bolzenschussgeräte", das ist natürlich ein Bild, das so was von massiv ist – das vergisst man so schnell nicht mehr. Was ist für Sie hier exemplarisch, bezeichnend? Was lesen Sie da raus?
Bilder immer weiter treiben
Popp: Die Texte von Ron Winkler, wofür das ein sehr schönes Beispiel ist, sind sehr bildstark und machen eine ganz originelle Kombination. Es sind meistens so Bilder, die so ein bisschen anders man schon kennt, also aus dem Klassischen – Sinfonie für bestimmte Instrumente –, und dann wird das praktisch gedreht. Und auch "Wachsen die Bäume über sich hinaus/holt man sie ab" – "abholen", das ist eigentlich so ein Wort für wenn jemand in die Anstalt gebracht wird zum Beispiel. Und das ist so eine Übersteigerung der Bildmöglichkeiten. Es ist so ein Versuch, in diesem Bildraum die Bilder immer weiter zu treiben und zu verdrehen. Das ist für mich, finde ich, auch eine Reaktion auf diesen Innovationswahn, der uns ja umgibt. Und das bildet das in gewisser Weise, indem diese Innovation immer weiter getrieben wird und gedreht wird und auch zu so starken Bildern dann ja auch führt, bildet es ab und kritisiert es auf eine bestimmte Art auch.
Scholl: Sie nennen das auch "Forschung mit anderen Mitteln", also sozusagen, dass hier eine Art von – das Gedicht wird wieder wie ein Instrument wissenschaftlich verwendet, aber gleichzeitig auch ein Instrument zur Aufklärung. Das geht eigentlich doch wieder so ein bisschen in die alte Tradition, dass also das Gedicht doch wirklich irgendwie auch ein gesellschaftspolitischen Anspruch formuliert vielleicht?
Popp: Das finde ich schon. Und auf der anderen Seite, das haben wir auch schon angesprochen, diese Lockerheit ist halt trotzdem drin. "Und nimm den nächsten Papst zum Mars", das ist ja in vielerlei Hinsicht irgendwie kritisch, aber ist eben auch witzig auf eine gute Art, wie ich finde.
Scholl: Vom Mars ist bislang noch keiner zurückgekehrt, ich glaube, das ist der Gedanke dahinter, oder?
Popp: Wahrscheinlich ist das einer der Gedanken, die da eine Rolle spielen.
Diener seiner Kollegen
Scholl: Steffen Popp, Sie haben ganz bescheiden gesagt, heute bin ich der Herausgeber, heute bin ich der Diener meiner Kollegen. Wir hätten uns auch ein Gedicht von Ihnen gewünscht, weil sie natürlich selbst, das betone ich noch mal, einer der profiliertesten deutschen Lyriker der Gegenwart sind. Ihre Gedichte fehlen in keiner aktuellen Anthologie. In dieser jetzt schon. Sie haben uns noch ein weiteres ausgesucht von den "Spitzen". Das hören wir jetzt noch zum Schluss.
Popp: Genau. Ein Klassiker in gewisser Weise, von Marion Poschmann, "Der deutsche Nadelbaum".
Fieberkurven, verrußt, spitzten sich zu. Der Berg setzte Tarnkappen auf, färbte die Wipfel nach. Schwärzer ragten sie, Warndreiecke über dir. Schärfer gingst du im Gegenlicht, ausgeschnitten. Die Nacht brach schon durch dich hindurch. Dunkelziffer der Wald, reizbare Zickzackluft. Schatten gruben sich tief, nadelte Dämmerung auf die Äste ins Unterholz. Waren Bäume erlaubt? Waren sie unerlaubt? Trug man Papptannen, trug Pesthüte fort? Ich sah, du verzweigtest dich, bogst, breitetest Arme aus. Wind strich über die Gipfel hin.
Scholl: Ein Gedicht von Marion Poschmann. Ein Spitzengedicht und andere Spitzen deutscher Lyrik finden sich im Fanbook, der Hall of Fame, dem Band, den Steffen Popp herausgegeben hat, veröffentlicht in der Edition Suhrkamp. 254 Seiten stark, 18 Euro der Preis. Steffen Popp, vielen Dank für Ihren Besuch, alles Gute Ihnen!
Popp: Ich danke Ihnen!
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandfunk Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.