Steffen Reiche, Jahrgang 1960, seit 2013 Pfarrer der Evangelischen Kirchengemeinde Berlin-Nikolassee. Er war zwischen 1994 und 1999 Minister für Wissenschaft, Forschung und Kultur und von 1999 bis 2004 Minister für Bildung, Jugend und Sport des Landes Brandenburg.
"Ich glaube an das gemeinsame Abendmahl mit Katholiken"
Mit rund 2500 Veranstaltungen wird der Deutsche Evangelische Kirchentag vorrangig in Berlin und Wittenberg gefeiert. Ein Schwerpunkt: Das 500. Jubiläum der Reformation. Pfarrer Steffen Reiche über ein gemeinsames Christusfest, den Obama-Besuch und die Lichtgestalt Luther.
Deutschlandfunk Kultur: Mit zahlreichen Veranstaltungen wird in der kommenden Woche der 36. Deutsch Evangelische Kirchentag gefeiert. Berlin und Wittenberg stehen dabei im Zentrum. Und ein Schwerpunkt ragt dabei heraus: das 500. Reformationsjubiläum.
Über Martin Luther, aber natürlich auch andere Themen der Evangelischen Kirche spreche ich heute mit Steffen Reiche. Der frühere SPD-Bundestagsabgeordnete war Wissenschafts- und Bildungsminister in Brandenburg zwischen 1994 und 2004. Er ist heute Pfarrer in Berlin-Nikolassee. Willkommen zu Tacheles, Herr Reiche.
Steffen Reiche: Guten Tag.
Deutschlandfunk Kultur: Viel Prominenz wird sich auf dem Kirchentag tummeln, dieser Bewegung evangelischer Laien, die unabhängig von den Amtskirchen arbeitet. An der Spitze steht diesmal der frühere US-Präsident Barack Obama. Brauchen Kirchentage heute vermeintliche Lichtgestalten? Brauchen sie Starkult?
Steffen Reiche: Wir alle brauchen Lichtgestalten. Wir alle brauchen Menschen, an denen wir uns orientieren können. Barack Obama war – nicht nur gemessen an seinem Vorgänger und an seinem skandalösen Nachfolger – eine wirkliche Lichtgestalt und hat viel mehr erreicht als viele Präsidenten vor ihm. Er hat das Land in einer Weise auch verändert, die mir bis heute großen Respekt abnötigt. Ich respektiere ihn. Ich schätze ihn. Ich mag ihn und gehöre nicht zu den Kleinkrämern, die da immer rumfisseln und noch irgendwas Kritisches finden wollen. Ich bin dankbar, dass es Menschen wie Barack Obama gibt.
Deutschlandfunk Kultur: Politiker waren immer gern gesehen bei Kirchentagen. Sie sind natürlich auch notwendiger Bestandteil. Will man etwas gesellschaftlich bewegen, dann braucht man die Politik, braucht man das Gespräch. Trotzdem: Obama zusammen mit der Kanzlerin vor dem Brandenburger Tor – vielleicht hätten Sie ja auch ganz gern den Kanzlerkandidaten der Sozialdemokraten dabei – ist das nicht trotzdem irgendwo des Hypes zu viel?
"Obama kommt als glaubwürdiger Christ"
Steffen Reiche: Ich finde das gut, finde das eine gute Idee, dass Barack Obama auch in einer Situation, wo man jeden Tag von neuen Trump-Nachrichten erschüttert und geschockt wird, hier in Berlin die Möglichkeit hat sich zu äußern. Er wird ja nicht eingeladen als großer Politiker, sondern vor allem als Christ.
Deutschlandfunk Kultur: Oder als Buchautor, kann man ja auch sagen. Die Biographie ist gerade auf dem Markt.
Steffen Reiche: Zum Kirchentag werden nur Christen eingeladen, also Menschen, die man auch als Christen befragen kann. Sowohl Frau Merkel als auch Barack Obama sind beide für mich in glaubwürdiger Weise durch das Evangelium, durch Kirche, durch Jesus Christus orientiert und geprägt.
Deutschlandfunk Kultur: Spötter weisen trotzdem darauf hin, dass das Motto des Kirchentages "Du siehst mich" aus dem 1. Buch Mose eine neue Bedeutung bekommt. Ihr seht ihn, könnte man sagen. Ihr seht Barack Obama. Und wo der ist, sind auch Menschen, viele Menschen. – Braucht Kirche also auch das Auge, die Inszenierung?
Steffen Reiche: Natürlich. Über die zweitausend Jahre hinweg, nach den ersten dreihundert Jahren, in denen Christen ja nur verfolgt worden sind, in denen es sozusagen nur Untergrundkirche gab, das ist der große Unterschied zum Islam, der in den ersten dreihundert Jahren den arabischen Halbmond erobert hat und auf der Spitze des Schwertes den Glauben in alle Himmelsrichtungen ausgetragen hat, haben die Christen in den ersten dreihundert Jahren , und das gehört seitdem und für alle Zeit sozusagen auch zu ihrer DNS, hat sie also zutiefst geprägt, sich gegen eine gegnerische Welt zur Wehr setzen müssen. Und sie haben dann ganz dankbar und glücklich angefangen, Kirchen haben zu können, die mehr waren als das Wohnzimmer einer Familie in einer Stadt oder in einem Haus im Römischen Reich.
Da hat man natürlich auch für das Auge inszeniert. Der Glaube ist doch ein Erlebnis und soll ein Erlebnis für alle Sinne sein, nicht nur für das Auge, auch für das Hören, auch für das Herz. Wir alle singen "Geh aus mein Herz und suche Freud…" mit tiefer Inbrunst, weil wir uns erfreuen an dem, was in Gottes guter Schöpfung für uns möglich wird.
Deutschlandfunk Kultur: Herr Reiche, mit anderen Worten: Barocke Umzüge, Schreine, Heiligenfiguren, bunte Fahnen und Gewänder sind wunderbar. Da fehlt doch eigentlich nur noch Weihrauch.
"Inszenierung darf nicht als das Eigentliche genommen werden"
Steffen Reiche: Manchmal kann es auch ein bisschen zu viel sein. Und vor allem, die Gefahr, Herr Ostermann, ist doch das, was Luther dann auch an der Katholischen Kirche seinerzeit kritisiert hat, wenn die Inszenierung für das Eigentliche genommen wird. Die Inszenierung muss ein Fingerzeig sein, so, wie in dem grandiosen Bild von Matthias Neithardt Grünewald der Johannes mit einem überlangen Finger auf Jesus weist. Also, die Inszenierung muss sozusagen transparent werden für das Eigentliche, was nicht gesehen werden, sondern nur geglaubt werden kann.
Deutschlandfunk Kultur: Wir kommen auf Luther später zurück, Herr Reiche. Was kann Barack Obama beitragen zur derzeitigen Initiative "Kulturelle Integration – 15 Thesen für Zusammenhalt und Vielfalt". Dahinter stehen der Deutsche Kulturrat, auch das Bundesinnenministerium, wobei Thomas de Maizière, der Innenminister, den Begriff "Leitbild" ja gar nicht so schlecht findet.
Scharfe Kritiker sagen, Obama habe Trump erst möglich gemacht. Da werden Sie mit Sicherheit widersprechen. Aber was kann Obama zu dieser Diskussion, die wir hier derzeit führen, beitragen?
Steffen Reiche: Das ist so richtig, wie es falsch ist, dass Obama Trump möglich gemacht hat. Weil, das viele Gute, die notwendige Veränderung der amerikanischen Gesellschaft hat so viel Gegenreaktion hervorgerufen, dass diese Gegenreaktionen leider, weil Hillary Clinton nicht so viele Menschen an sich binden konnte, Trump möglich gemacht hat. Ja.
Aber wird denn jemand ernsthaft sagen wollen, dass wir auf Obama hätten verzichten wollen, auf all die Fortschritte in den USA, bis hin zu einer besseren gesundheitlichen Versorgung für breite Bevölkerungsteile, zwanzig Millionen, fast ein Zehntel der Bevölkerung haben dadurch eine bessere gesundheitliche Versorgung gehabt, dass wir all diese Dinge nicht hätten haben wollen, nur um so einen Widerling, so einen Antichristen wie Trump zu verhindern? Das kann keiner ernsthaft sagen.
Nein. Obama hat eine riesige Integrationsleistung geschafft. Er ist der erste Schwarze, der amerikanischer Präsident gewesen ist. Er hat große Schritte mit hoher Sensibilität gemacht, weil er sich nicht als schwarzer Präsident für die Schwarzen gegeben hat, sondern als Präsident wirklich für alle Amerikaner. Und damit hat er einen großen Integrationsschritt geschafft.
Deutschlandfunk Kultur: Der Kirchentag soll auch zeigen, wie stark die Kräfte des liberalen Protestantismus sind – so die Generalsekretärin Ellen Ueberschär. Aber Protestanten sind doch nicht nur liberal. Das wissen Sie als Gemeindepfarrer viel besser als ich. Es gibt auch fundamentalistische, homophobe, reaktionäre Protestanten in den Gemeinden. Oder sehen Sie das anders?
Deutschlandfunk Kultur: Der Kirchentag soll auch zeigen, wie stark die Kräfte des liberalen Protestantismus sind – so die Generalsekretärin Ellen Ueberschär. Aber Protestanten sind doch nicht nur liberal. Das wissen Sie als Gemeindepfarrer viel besser als ich. Es gibt auch fundamentalistische, homophobe, reaktionäre Protestanten in den Gemeinden. Oder sehen Sie das anders?
Steffen Reiche: Ja natürlich gibt es die in der einen Kirche Jesu Christi. Wir haben eine Kirche in der Welt. Die hat verschiedene Konfessionen. Da gibt’s Katholiken, da gibt’s Orthodoxe, da gibt’s Lutherische, da gibt’s reformierte Christen, da gibt’s Methodisten und Baptisten. Und alle sind sich immer mehr darin einig, dass wir ein Zentrum haben, was uns verbindet.
Anders als im Islam, wo es seit 1300 Jahren einen hasserfüllten gewalttätigen Kampf zwischen Sunniten und Schiiten gibt, hat es wenige zig Jahre, nämlich 110 Jahre vom Schmalkaldischen Krieg bis zum Westfälischen Frieden, Gewaltauseinandersetzungen zwischen Katholiken und Protestanten gegeben. Die ganze andere Zeit ist diese Auseinandersetzung immer im Wesentlichen gewaltfrei zwischen den Konfessionen geführt worden.
Sie haben Recht. Es gibt dann auch andere Bekenntnisse, Menschen, die glauben, dass man sich wegen bestimmter Stellen in der Bibel gegen Homosexualität aussprechen muss. Aber dazu ist so überwältigend klar alles gesagt worden, dass diese Leute so weit hinter dem Berg leben bzw. ein so enges Bibelverständnis haben, dass das mit der Freiheit Jesu gar nichts zu tun hat.
Deutschlandfunk Kultur: Na ja, Herr Reiche. Recht heftig wurde im Vorfeld des Kirchentages darüber diskutiert, ob Vertreter der AfD auf die Podien sollten oder nicht. Einige wenige sind jetzt dabei. Diese Partei einigt ja unter anderem eine gewisse Islamfeindlichkeit. Wie sie beispielsweise zur Homophobie stehen, weiß ich im Augenblick gar nicht…
Steffen Reiche: Sie haben eine bekennende Lesbe als Spitzenkandidatin für den Bundestag, aber sie sind natürlich homophob.
Deutschlandfunk Kultur: Wie geht man mit diesen Leuten um? Redet man mit ihnen? Schneidet man sie? Es sind jetzt auch Vertreter der AfD beim Kirchentag dabei!
"Wir müssen mit populistischen Rattenfängern reden"
Steffen Reiche: Man muss mit ihnen reden, damit ihre Wähler, ihre Anhänger bzw. Menschen, die sie eventuell im Herbst wählen wollten, sehen, dass dort Populisten versuchen Stimmen zu fangen, aber eben gerade nichts geordnet und gebacken bekommen und gerade nichts zum Fortschritt beitragen können und dass man diesen Leuten deshalb keine Stimme geben darf. Man soll sie natürlich zur Rede stellen. Nur wenn man sie zur Rede stellt in aller Öffentlichkeit des Kirchentages, aber auch der Medien und des öffentlich-rechtlichen Rundfunks, und ihnen ihre Dinge nicht durchgehen lässt, kann man mithelfen, dass bei der Wahl zu den Landesparlamenten, aber vor allem der zum Deutschen Bundestag diese Rattenfänger eben niemanden fangen, weil es um Wähler geht, nicht um Ratten.
Deutschlandfunk Kultur: Herr Reiche, jetzt reden wir über Ihren Arbeitgeber. Ich zitiere den Historiker Paul Nolte im Herbst letzten Jahres auf der Synode der EKD. Da sagt er, Zitat: "Er sieht, dass sich die Evangelische wie die Katholische Kirche schwer tun mit Tendenzen, die eher die schmutzige Seite der Zivilgesellschaft zeigen." Zitat Ende. Populismus, kurzsichtiges Eigeninteresse und Ressentiments sind unübersehbar, doch nicht nur bei den Anhängern der AFD – oder doch?
"Flüchtlinge haben sich an unsere Werte zu halten"
Steffen Reiche: Da haben wir es in besonderer Stärke und zu besonders schwierigen und wichtigen Themen, nämlich zu der Frage: Wie gehen wir mit Menschen, die hier Zuflucht suchen, um?
Ich war jetzt einige Tage in der Schweiz und habe erlebt und bin tief beeindruckt davon, mit welchem Selbstbewusstsein die Schweizer den Flüchtlingen, die bei ihnen sind, sagen: Ihr könnt hier mit uns leben, aber ihr müsst auch unsere Werte respektieren. Und wie wir hier leben wollen, das sagen wir, denn das ist unsere Heimat. Ihr habt eure Heimat verlassen. Ihr seid in unsere Heimat gekommen. Wenn ihr mit uns unsere Heimat teilt, dann müsst ihr auch die Werte, die Grundrechte, die Gepflogenheiten, die hier gelten, anerkennen. Das wünschte ich mir auch in der Auseinandersetzung mit den Flüchtlingen. Dann würde man der AfD nämlich das Wasser abgraben, wenn die Kirchen sehr deutlich und klar bei Flüchtlingen keinen Rabatt einräumen zum Beispiel bei Homophobie, bei Frauenrechten oder bei Antisemitismus.
Die Kirchen, aber auch viele in den politischen Parteien, egal ob in der SPD oder in der CDU oder bei den Grünen, geben da einen gewissen Rabatt bei den Flüchtlingen. Da bin ich ganz klar der Meinung, dass man sagen muss:
Nein, es kann für euch keinen Rabatt geben. Ihr seid hier in Deutschland. Und bei uns haben Frauen gleiche Rechte. Wenn ihr hier bleiben wollt, und ihr seid hier willkommen, aber es kann für euch natürlich keinen Antisemitismus hier geben. Das ist in Deutschland nicht möglich. Hier haben Homosexuelle die gleichen Rechte. Und ihre Würde wird anerkannt. Wenn ihr es anders wollt, dann geht in andere Länder zurück, wo das üblich ist. Hier gibt es für euch keinen Rabatt. Ihr seid willkommen, aber es kann für euch keinen Rabatt geben bei Dingen, die wir über Jahrzehnte uns mühsam erkämpft haben und wo wir jetzt nicht durch die Flüchtlinge oder durch irgendjemand anderes das Rad zurückdrehen lassen dürfen – weder durch die AfD und ihre Wähler, noch durch Rechtsextreme, noch durch die Flüchtlinge.
Deutschlandfunk Kultur: Herr Reiche, Evangelische Kirchentage sind Fest- und Feiertage. Das weiß jeder, der einmal dabei war. Trotzdem kann man ja auch fragen, ob Deutschland überhaupt noch ein christliches Land ist. Auf dem Papier, vor allem zu Weihnachten, binden die Kirchen noch – sagen wir – fünfzig Millionen Menschen, aber in der Realität scheint das, zum Teil jedenfalls, anders zu sein. Da glauben 60 Prozent – so eine nicht veröffentlichte Allensbach-Umfrage – nicht an ein ewiges Leben. Dafür denkt jeder vierte Deutsche, dass die Begegnung mit einer schwarzen Katze Unglück bringt. Willkommen in der Diaspora?
"Müssen für alle Menschen die Würde sichern"
Steffen Reiche: Christen haben einige Zeit in der Geschichte die Mehrheit gestellt. Das war nicht so am Anfang und das war über wesentliche Zeit der christlichen Kirche nicht so und ist auch heute in großen Teilen der Welt nicht so. Insofern pendeln wir uns da eher wieder ein zu einer Normalsituation. Aber eines ist doch ganz klar: Kirche und Christen haben in über tausend Jahren hier in Deutschland, in rund zweitausend Jahren in der Welt die Welt verändert. Jörg Lauster schreibt ein wunderbares Buch darüber, wie die Kirche, wie die Christen die Welt verzaubert haben und Christen immer wieder durch das Hören auf Jesus Christus gegen Kirche und Staat, das muss man immer wieder betonen, gegen Kirche und gegen Staat die Welt verändert haben.
Die allgemeinen Menschenrechte sind doch nur möglich dadurch, dass Christen über Jahrhunderte für sie gekämpft haben, dass sie diese Rechte entdeckt haben, sie herausgefunden haben und sie dann durchgesetzt haben gegen andere. Und wenn man Lessing, aber vor allen Dingen Boccaccio in seinem Decamerone mit der Ringparabel glauben will, und der echte Ring ging doch hoffentlich nicht verloren, sondern den gibt es, dann muss es doch möglich sein, an der Wirkung der Religionen auch zu sehen und zu zeigen, wie positiv sie wirken.
Wenn Sie sich mal den Weltantikorruptionsindex angucken, dann sind auf den ersten zehn Plätzen ausschließlich protestantische Länder, nämlich die im Norden. Singapur kommt da noch dazwischen. Das heißt, das ist doch ein Fingerzeig, dass dort, wo Jesus seit der Reformation in dieser Weise verkündet wird, Menschen sagen: Familie kann und soll nicht zu allererst stehen, sondern wir als Gesellschaft müssen für alle Menschen die Würde sichern und gleiche Rechte.
Im Wohlfahrtsindex sind diese Länder auch auf den ersten Positionen. Das zeigt doch, dass dort, wo Christen Gesellschaft mitgestalten, es für die Menschen attraktiver und besser ist zu leben. Und: Wir haben doch eine Fluchtbewegung aus islamischen Ländern in christliche Länder, weil auch Muslime erkennen, dass diese Religionsfreiheit, die es erst seit Jesus gibt, Jesus war der erste, der die Menschen vor die Wahl gestellt hat mit der Taufe, willst du getauft werden oder nicht, willst du dich also für mich entscheiden oder nicht, dass diese Religionsfreiheit, die erst durch Jesus konstituiert worden ist in der Weltgeschichte, auch Muslime anzieht und sie das begeisternd finden, sich frei in einem Land mit anderen zu bewegen. Und das gilt dann eben auch, die Religionsfreiheit der anderen anzuerkennen.
Deutschlandfunk Kultur: Umso wichtiger ist natürlich jetzt auch bei uns der interreligiöse Dialog. "Der Islam gehört zu Deutschland" sagte der frühere Bundespräsident Christian Wulff. Er wurde damals ziemlich abgewatscht, insbesondere auch von den C-Parteien, als er sagte, "der Islam gehört inzwischen zu uns". Der interreligiöse Dialog, ist der nicht für eine humane menschliche Gesellschaft, für eine Demokratie etwas derzeit Elementares?
"Muslime gehören zu Deutschland – nicht der Islam"
Steffen Reiche: Nein, ich bin da mehr bei dem Vorsitzenden der Bundestagsfraktion und bei dem ehemaligen Bundespräsidenten Gauck als bei Herrn Wulff, die völlig zu Recht klargestellt haben: Die Muslime gehören zu Deutschland. Natürlich, weil sie hier mit uns wohnen, weil sie unsere Nachbarn sind, weil sie zu unseren Freunden gehören. Der Islam gehört noch nicht zu Deutschland. Das kann in hundert Jahren anders sein, dass dann der Islam etwas zu der Kultur, die wir hier haben, Wesentliches beigetragen hat, so wie die Juden natürlich in weit über tausend Jahren gemeinsamen Lebens. Die ältesten Friedhöfe in Mainz zum Beispiel zeigen, dass es seit achthundert, neunhundert Jahren Juden hier in Deutschland gegeben hat. Also, das Judentum und die Juden gehören zu Deutschland. Die Muslime gehören auch zu Deutschland. Der Islam wird erst in einigen Jahren zu Deutschland integral dazu gehören, weil er dann auch Wesentliches in die deutsche Gesellschaft mit eingestiftet hat und vielleicht auch an der einen oder anderen Stelle etwas zum Guten, zur Vorwärtsbewegung beigetragen hat.
Deutschlandfunk Kultur: Bevor wir auf Martin Luther, den Reformator, jedenfalls kurz noch zu sprechen kommen: Kirchentage sind Diskussionsforen. Sie sind extrem lebendig, wenn man sich dort umschaut. Und sie ziehen magnetisch Jugendliche, begeisterte Jungen und Mädchen an. Erklären Sie mir, warum so wenige in die Gottesdienste des Wochenendes gehen.
Steffen Reiche: Weil, Kirchentag ist mehr Jugendkultur, ist mehr das, was Jugendliche fasziniert, was sie attraktiv finden, während die Gottesdienste eine Form des Glaubens und des Lebens sind, die sie erst mit zunehmendem Alter attraktiv finden. Ich finde das völlig in Ordnung. Ich habe auch nichts dagegen, dass Menschen erst, wenn sie merken, dass ihr Leben endlich ist, in die Kirchen hinein streben, wenn sie sozusagen näher an ihrem Tod als an ihrer Geburt sind.
Deutschlandfunk Kultur: Aber stimmt das denn, Herr Reiche? Als der Papst in Köln war, wenn Sie an die Begeisterung denken. Ich weiß gar nicht, ob es der deutsche Papst oder einer davor war, ist auch egal. Es wurde gefeiert und die Jugendlichen wurden durch Rituale, durch kirchliche Rituale angezogen.
Steffen Reiche: Aber das sind Großereignisse. Egal, ob Kirchentag oder Papstbesuch oder Jugendmesse mit dem Papst, Großereignisse, die viele Jugendliche anziehen, genau wie Taize Tausende von Jugendlichen anzieht, weil das eine jugendgemäße Form ist, Glauben zu leben und auszudrücken. Ich beerdige ständig Menschen, die auch teilweise nicht in der Kirche mehr gewesen sind, weil sie die diplomatischen Beziehungen zu Gott, so hat mir das mal jemand erklärt, abgebrochen haben, aber trotzdem beten, trotzdem eine Hoffnung haben. Und die wächst, umso näher sie dem Sterben kommen, umso älter sie werden. Wer bin ich, dass ich darüber richten würde, dass Menschen erst, wenn sie mit ihrer eigenen Endlichkeit konfrontiert werden, auf die Hoffnung, auf den Zuspruch der Kirche vertrauen?
Worum ich bete und bitte, ist, dass Kirche in dieser Situation hilfreiche Antworten gibt, die gehört und geglaubt werden können, dass Kirche offene Türen hat, offene Herzen hat, dass Menschen, die in der Weise suchen, kommen und fragen, weil sie sich ihrer Endlichkeit bewusst werden, dann auch dort eben geöffnete Herzen und klare Worte finden.
Deutschlandfunk Kultur: Wir müssen über Martin Luther reden und sollten über Martin Luther, jedenfalls am Ende von Tacheles noch reden. Fast hat man den Eindruck, die Reformation war eine Art Urknall der europäischen Moderne. Freiheit, Toleranz, Bildung, Menschenrechte oder Demokratie wären ohne sie nicht denkbar gewesen. Stimmt das Bild?
"Martin Luther war der große Durchbruch"
Steffen Reiche: Ja. Also, die wichtigste deutsche Revolution, die es gegeben hat, ist die Reformation. Sie hat nicht nur für Deutschland, übrigens aus dem Osten Deutschlands kommend, Wesentliches geleistet, sondern sie hat sozusagen den Pfropfen aus den vielen Reformbestrebungen von zwei, drei Jahrhunderten in der Katholischen Kirche gezogen. Insofern war Martin Luther der große Durchbruch.
Der ist noch nicht gelungen bei Jan Hus. Der ist noch nicht gelungen bei anderen Reformatoren, die es vor ihm gegeben hat. Aber bei ihm ist es dann endlich gelungen, weil er eben so klar konzentriert war auf den Herrn der Kirche und nach dem gnädigen Gott gesucht hat und dabei erkannt hat, dass allein durch Jesus Christus und allein durch die Gnade das Leben des Menschen verändert wird. Und dann hat er eben wirklich die Welt mit seinen Schriften verändert.
Das war das große Glück, dass Gutenberg vorher den Buchdruck erfunden hat, dass sozusagen Luther für seine Reformation, diese Medienrevolution in der Gutenberg-Galaxis hat nutzen können und zu Recht fordern konnte: Wir brauchen Bildung für alle, dass jeder Mensch in die Schule gehen kann und dort Lesen und Schreiben lernt. Luther ist insofern der wichtigste Bildungsreformer überhaupt in der Weltgeschichte, weil, er ist der erste, der es gefordert hat und der es mit zweihundert Jahren Verspätung dann auch durchgesetzt hat, dass wirklich jeder in die Schule gegangen ist und dort Lesen gelernt hat, um die Bibel lesen zu können.
Deutschlandfunk Kultur: Natürlich ist Luther eine – in Anführung – Lichtgestalt. Aber es gab parallel auch den Antisemitismus. Denkt man an den Apostel Paulus, das wissen Sie besser, der von "Christusmördern" spracht, von "Feinden aller Menschen". Und Luther folgte dieser Spur. 1543 forderte er die evangelischen Fürsten zur Versklavung oder Vertreibung der Juden auf. Waren das Worte eines zornigen alten Mannes oder wie passt das?
Steffen Reiche: Ja, es waren die zornigen Worte eines enttäuschten Menschen. Denn in seinen ersten Schriften, in denen er über die Juden redet, hat er noch den großen Glauben, dass Judenmission es erreichen könnte, dass alle Juden in Deutschland in seiner Zeit sich bekehren, sich bekennen zu den Juden Jesus Christus. Und da das nicht gelungen ist, war er dann so zornig und verbittert.
Aber: Gnade vor Recht! Also, erstens, Paulus war Jude. Und Paulus war einer der schlimmen oder schlimmsten Christenverfolger bis er sich verändert hat und vom Saulus zum Paulus geworden ist und dann unter dem Druck der jüdischen Übermacht in einer christlichen oder nein, in einer jüdischen Sekte im Christentum gewesen ist, sich unter diesem Druck der Juden dann auch gegen eine jüdische Mehrheit zu Worten hat hinreißen lassen, die heute missinterpretiert werden.
Ich finde es ungewöhnlich, manchmal auch widerlich, wenn Liliputaner, die heute Luther vermessen, dann mit dem Abstand von dreißig Generationen und nach der Schoah, für die unsere Großeltern und nicht Luther verantwortlich sind, sich so über Luther erheben. Natürlich hat Luther Fehler gemacht. Alle, auch die größte Lichtgestalt macht Fehler. Aber diese Lichtgestalten dann immer zu uns runter zu ziehen und klein zu machen, indem man mehr über ihre Fehler redet als über das, was sie an Durchbruch geschafft haben, das ist Krämerseelentum, bei dem ich nicht dabei bin.
Ich habe Respekt vor Luther, mache ihn nicht zum Heiligen und bin dankbar für die Reformation, die er ermöglicht hat – übrigens eine Reformation, die aus dem Osten Deutschlands kommend die ganze Welt verändert hat und übrigens auch, Professor Schilling hat darüber ein wirklich wichtiges Buch genau zum richtigen Zeitpunkt geschrieben, sein großes Buch "1517", wo er zeigt, dass das Jahr 1517 ein Schaltjahr, ein Durchbruchsjahr gewesen ist auch in anderen Weltregionen, nämlich zum Beispiel in Russland, zum Beispiel in China, zum Beispiel in Amerika bei den Inkas.
Also: Das Jahr 1517 ist ein Schaltjahr für andere Regionen. Und die christliche Religion hat ihren Beitrag mit der Reformation aus dem Osten Deutschlands dazu geleistet.
Deutschlandfunk Kultur: Den Osten Deutschlands haben Sie jetzt drei- oder viermal betont. Da merkt man doch, woher Sie stammen. 1917, vor einhundert Jahren wurde Luther als Held und Vorbild inszeniert, der zur Zeit des Ersten Weltkrieges Mut machen sollte. 2017, Herr Reiche, welche Signale durch Martin Luther, durch die Reformation wünschten Sie sich da?
"Ein Fehler, den die beiden großen Kirchen da gemacht haben"
Steffen Reiche: Also, der Wunsch ist ja schon in Erfüllung gegangen dadurch, dass dieser wunderbare Papst Franziskus in Lund die Erzbischöfin umarmt hat, indem dieser wunderbare Papst Franziskus so wunderbare Gesten, Symbole und Schritte auf die evangelische Seite zu gemacht hat und indem wir – leider nicht, wie ich das mir noch vor sieben, acht Jahren erhofft habe und dafür auch gekämpft habe als damaliges Präsidiumsmitglied im Präsidium des Ökumenischen Kirchentages von München, dass wir in diesem Jahr einen Ökumenischen Kirchentag gemeinsam feiern – das ist leider nicht gelungen. Das ist ein Fehler, den die beiden großen Kirchen da gemacht haben. Es wäre wunderbar gewesen, wenn wir 2017 einen Ökumenischen Kirchentag hier in Berlin gemeinsam gefeiert hätten. Dazu hat es – damals zumindest – noch nicht den Mut gegeben. Hätte man heute darüber entscheiden können, hätte man den vermutlich.
Aber so feiern wir gemeinsam ein Christusfest, Katholiken und Protestanten gemeinsam. Und das ist das große Signal. Das ist das, was von 2017 für alle Zeit in Erinnerung bleiben wird, dass so große Schritte wie noch nie zuvor die beiden großen Kirchen, die Protestanten und die Katholiken, aufeinander zu gemacht haben und immer mehr eins werden in dem gemeinsamen Glauben an Jesus Christus und viel stärker das Gemeinsame betonen. Und ich bin sicher, dass ich auch noch als mittlerweile über 55-Jähriger miterleben werde, dass wir gemeinsam das Abendmahl feiern. Das wird noch ein paar Jahre dauern, aber wir haben seit 1999 die Anerkennung der Taufe und ein gemeinsames Verständnis der Rechtfertigungslehre.
Also das, was damals der Grund der Trennung war, trennt uns heute nicht mehr. Das sind so große Schritte, die wir aufeinander zugegangen sind in den letzten Jahren, dass wir darauf auch stolz sein können, dass wir dafür dankbar sein können und nicht immer nur darauf gucken, was wir noch nicht erreicht haben. Das machen wir doch bei unserem eigenen Leben nicht, dass wir immer nur betonen, was wir noch nicht geschafft haben, sondern dankbar und stolz sind für das, was wir schon geschafft haben.
Deutschlandfunk Kultur: Danke, Herr Reiche, dass Sie sich die Zeit genommen haben.