"Steh auf, mein Töchterchen, steh auf, erhebe dich!"

Moderation: Herbert A. Gornik |
Die christliche Schule Talita Kumi in der Nähe von Bethlehem wurde 1851 von den Kaiserswerther Schwestern gegründet. Seit ihrem Bestehen bewältigt die Schule den Alltag unter schwierigen Bedingungen und bietet vielen Kindern und Jugendlichen eine solide Ausbildung.
Herbert A. Gornik: Doktor Georg Dürr ist zu Gast, er ist Schulleiter des Schulzentrums Talita Kumi bei Beit Jala, das ist in der Nähe von Bethlehem. Talita Kumi, das kommt aus dem Neuen Testament, eines der Jesusworte: "Steh auf, mein Töchterchen, steh auf, erhebe dich!" Ist dieser Titel, dieser Text, Programm für die Schule?

Georg Dürr: Ganz sicher, eigentlich von dem ersten Tag an. Die Schule hat 1851 begonnen und sie war gleich am Anfang pleite, hatte kein Geld, und man wusste nicht, wie es weiterging. Gegründet von den Kaiserswerther Schwestern, Diakonissen, und die haben dann 1853 diesen Namen der Schule gegeben, Talita Kumi. Und wenn wir heute an dieser Stelle sind, wo wir manchmal finanziell nicht wissen, wie es weitergeht, oder aus politischen Gründen, dann kommt mir immer wieder dieses Programm in den Sinn, steh auf und geh weiter. Es ist ein Motto, das auf das Leben hin gerichtet ist und das beflügelt und gibt Kraft.

Gornik: Nun hat dieses Motto ja auch die Bedeutung, steh auf, mein Töchterchen, also, Bildungsarbeit von Mädchen und Frauen.

Dürr: Ja, das muss man in dem Kontext sehen, 1850, da ist das osmanische Reich zurückgegangen, ist schwächer geworden. Die Jungen haben in der dortigen Gesellschaft immer noch Schulplätze bekommen. Keine Schulplätze bekommen haben die Kinder, die Mädchen von den Missionaren und Waisenmädchen, und dann haben sich die Kaiserswerther Schwestern diesen Missionarskindern und Waisenkindern angenommen, denn die arabisch sprechenden Familien haben ihre Kinder natürlich nicht, oder die muslimischen Familien, in eine christliche Schule gegeben. Deswegen war die Zielgruppe dann auch die arabischen Waisenmädchen. Und seit 1980 haben wir auch Jungen bei uns in der Schule, und das zeigt auch so etwas diesen gesellschaftlichen Wandel. Wir begleiten immer noch Mädchenbildung oder das Selbstbewusstsein der Mädchen bauen wir auf, aber wir haben die Beobachtung gemacht in den letzten Jahren: Es hilft nicht sonderlich viel, wenn sich die Mädchen verändern und die Jungen bekommen es nicht mit. Deswegen holen wir jetzt für diese, in diesen Arbeitskreisen, die wir weitgehend mit Sumaya Farhat-Naser machen, …

Gornik: Einer palästinensischen Professorin, die von Ihnen und Ihrer Schule in höchsten Tönen schwärmt, weil sie selber dort ihre Ausbildung genossen hat – Sumaya Farhat-Naser.

Dürr: Genau. Und so ist das immer noch ein gleichberechtigtes Miteinander, und wir sind natürlich sehr stolz darauf, dass wir im Augenblick eine Ministerin haben, die in unserer Schule die Ausbildung gemacht hat wie die Leitung von dem Caritas-Hospital, dann Sumaya, das sind alles Früchte, und so glaube ich, hoffe ich, wünsche ich mir, dass unsere Arbeit hineinstrahlt in die Gesellschaft.

Gornik: Heute sind es nicht nur Waisenkinder, die zu Ihnen kommen. Die Schule steht jedermann und jederfrau offen, alle Eltern können ihre Kinder dahin schicken. Sie haben muslimische und christliche Kinder. Das macht oft Probleme. Wie geht das bei Ihnen zusammen?

Dürr: Wir sprechen diese Probleme an zwischen Christen und Muslimen, ein Drittel Muslime, zwei Drittel Christen, so ist die Verteilung bei uns. Wir haben immer wieder Arbeitskreise, in denen wir uns gegenseitig befragen, dass wir uns nicht mit Vorurteilen über den anderen begnügen, sondern dass wir da den anderen versuchen zu verstehen. Jetzt eben hatten wir einen Workshop, in dem wir in mehreren Sitzungen uns gegenseitig befragt haben über die Bedeutung von den religiösen Symbolen. Was bedeutet für einen Muslimen ein Gebet, was bedeutet es für einen Christen? Was bedeutet für Muslime die Moschee, was für einen Christen? Und da kamen sehr interessante Ergebnisse raus.

Gornik: Wie wird denn der Religionsunterricht bei Ihnen gegeben?

Dürr: Die Muslime haben eigenen Religionsunterricht und die Christen auch, aber in Klasse 8 und 9 haben die einmal in der Woche eine gemeinsame Stunde, wo man sich einfach der gemeinsamen Wurzeln besinnt. Wir sind eine christliche Schule, die sich als christliche Schule in dem palästinensischen Umfeld profilieren möchte. Wir beginnen jeden Tag mit einer Andacht, und in der Andacht die Ansprache, die teile ich mir zu Zeiten manchmal mit dem muslimischen Religionslehrer oder mit einem Muslimen, wir sprechen die Themen ab, etwa zum Fasten oder so was, wenn Ramadan ist, oder er macht es auch mal ganz alleine, und versuchen so, die anderen nicht unterzubuttern. Aus dieser Mehrheit heraus, finde ich, müssen wir Angebote machen und können wir das Miteinander gestalten. Aus einer Minderheit heraus kann man es nur erstreiten.

Gornik: Und das christliche Frauenbild unterscheidet sich doch noch immer in vielen Punkten vom landläufigen, muslimischen Frauenbild. Gibt es da nicht Kollisionen?

Dürr: Ganz sicher, es gibt auch Kollisionen in der Gesellschaft, wenn die muslimischen Mädchen bei uns aus der Schule rausgehen, nach Hause, und mit diesem Selbstbewusstsein dort ankommen, dann führt das schon zu Problemen, wenn sie dort auf Männer treffen, die eben diese andere Vorstellung von einem Mädchen haben, wo nur der Herd und die Familie und das Kinderbekommen im Zentrum steht. Als Hamas gewonnen hatte, hat ein Schüler der Klasse 9 mit dem Namen Hanan gesagt, die sind richtig gut, jetzt kommen die richtigen Werte in die Westbank und das finde ich gut, und er ist zu den Mädchen der Klasse 10 gegangen und diese Mädchen, denen hat er gesagt: So. Mit euren offenen Haaren, das ist aus. Jetzt werdet ihr Kopftücher tragen, dann seht ihr genau so aus wie unsere muslimischen Mädchen, und hat die so richtig aufgepumpt, hat noch oben draufgesetzt: Und die Mutter Maria wird in Zukunft auch ein Kopftuch tragen müssen. Und die Mädchen waren sehr verärgert, sind losgezogen, haben einen Schüler der Klasse 12 ausgesucht, einen starken, haben den aufgepumpt, der ist losgelaufen und hat dann den Jungen von Klasse 9 jämmerlich verprügelt. Der kam dann weinend bei mir an, da ist die Geschichte aufgeflogen.

Gornik: Nun ist das nicht gerade christliche Überzeugungsarbeit, wenn man die Andersdenkenden verprügelt, oder?

Dürr: Ist klar, aber wie kommen wir aus der Situation raus? Wir wollen ja keine neuen Fronten eröffnen, sondern wir wollen das irgendwie beilegen und den Jungen aus der Klasse 12, den haben wir bestraft, das ist also keine Möglichkeit, aber was machen wir mit dem Hanan von der Klasse 9?

Gornik: Und was machen Sie?

Dürr: Der muslimische Religionslehrer hat sich sehr lange mit dem zusammengesetzt und hat den zur Überzeugung gebracht, dass er plötzlich versucht, seine Werte den anderen überzustülpen. Aber das ist nicht das, was unser muslimischer Religionslehrer will, und nach mehreren Stunden sagte Hanan, er möchte gern vor die Schulgemeinde treten und möchte das klarstellen, dass das nicht seine Absicht war. Und dann hatten wir keinen Verlierer in der Situation und keine neuen Fronten, und das ist für mich immer so ein Beispiel, wie sensibel das Ganze ist und wie man das so lösen muss.

Gornik: Doktor Georg Dürr ist zu Gast in "Religionen" im Deutschlandradio Kultur, Schulleiter des Schulzentrums Talita Kumi bei Beit Jala, in der Nähe von Bethlehem, Israel, Palästina. Welche besonderen Erziehungsgrundsätze haben Sie denn in Talita Kumi?

Dürr: Wir versuchen, viel zuzuhören, die Spannungen, die da sind, dass wir die abbauen können. Wir haben jetzt mit Streitschlichtung gearbeitet, haben Schüler ausgebildet, wir versuchen, die Schüler zu ermutigen, "ich" zu sagen, was in dieser Gesellschaft nicht verbreitet ist. Man sagt immer "mein Vater meint", "meine Mutter meint", "meine Familie". Das Ich und dass man sich selber respektieren lernt und alles, was auf diesem Weg des gegenseitigen Respekts liegt – das betonen wir.

Gornik: Wie betroffen ist denn Ihr schulischer Unterricht und Ihr Erziehungsauftrag durch die palästinensische Intifada und die israelische, jüdische Besatzungspolitik?

Gornik: Wir unterliegen den palästinensischen Lehrplänen, müssen denen folgen, ziemlich genau werden wir da überwacht, dass wir das alles bringen, aber in die Unterrichtsmethodik, da gehen die nicht hinein. Ich treffe mich immer wieder mit dem Direktor der Erziehungsbehörde, der so lauscht, welche Unterrichtsmethoden wir verwirklichen. Ich bin ein ganz großer Anhänger von dem kooperativen Lernen, wo man einfach den anderen ganz anders respektiert, wo der Lehrer eigentlich mehr Mediator ist und wo wir uns auf gleicher Augenhöhe bewegen. Wir haben bis vor zwei Jahren nicht den normalen Zugang zur Schule wählen können, weil dort einfach Blockaden waren auf der Straße, und wir mussten dann ein anderes Tor nehmen. Diese Blockade ist seit zwei Jahren weg und wir können wieder das Haupttor für den Unterricht benutzen. Die Kinder können reinkommen. Problematisch ist allerdings: Zehn Prozent unserer Schüler kommen von dem Bereich, der jenseits der Mauer liegt. Wie kommen diese Schüler in Zukunft noch zu uns? Bisher konnten die immer von der Straße 60 noch zu uns abbiegen, das geht nicht, nun hat Israel unter die Straße 60 eine Unterführung gebaut, über die dann die Schüler zu uns kommen sollen, allerdings ist das noch nicht angeschlossen. Das führt zuweilen zu Problemen, weil wir auf dieser Strecke ständig mobile Checkpoints haben, und dann kommen die Schüler zuweilen zu spät, insbesondere dann, wenn in der ersten Stunde eine Klassenarbeit ist.

Gornik: Dass Sie Schulleiter sind, ein deutscher Schulleiter – Sie haben gesagt, das ist eine christliche Schule –, deutet ja schon darauf hin, dass diese Schule auch von Deutschland aus im Wesentlichen finanziert wird, oder? Wie wird sie finanziert?

Dürr: Ja. Personell – der Schulleiter wird von Deutschland bezahlt, zwei Auslandsdienstlehrkräfte und zwei Programmlehrkräfte. Wir arbeiten nicht isoliert, wir betreuen etliche Schulen in der Westbank, in der Bethlehem-Gegend und in Ramallah, in dem ebenfalls Deutsch unterrichtet wird, und bei uns finden sehr viele Workshops statt, wo die Lehrer dann zusammengeholt werden und Freiarbeitsmaterialien erstellen und so weiter. Wir versuchen, unsere Bildungsvorstellungen hineinzubringen in diese Gesellschaft, das passt nicht immer, aber es regt zum Nachdenken an und man sucht nach Verträglichkeiten.

Gornik: Wer ist der Träger der Schule?

Dürr: Der Träger war immer die Kaiserswerther Diakonie, und die haben 1975 die Trägerschaft abgegeben an das Berliner Missionswerk.

Gornik: Wir haben über die Ausbildung der Schülerinnen und Schüler gesprochen und Sie haben gesagt, wenn die Mädchen wieder zurückgehen in Familien, die ja ein ganz anderes Frauenbild haben, dann wird es schwierig. Eine große Schwierigkeit für alle Schüler ist nach der Schulzeit: Welchen Beruf können sie haben? Wie können Sie da die Schülerinnen und Schüler auch nach der Schulzeit begleiten?

Dürr: Wer in der Gegend bleibt, in Bethlehem, diese Studenten kommen immer wieder zurück an die Schule und wir erfahren, was sie machen, erfahren auch, wo es Jobs gibt. Viele suchen auch bei uns wieder eine Anstellung. Diejenigen, die die Chance haben, rauszugehen, nach Europa, nach Amerika, nach Russland, die gehen raus, und wir alle hoffen, dass sie wieder zurückkommen. Das Problem ist allerdings, die werden nicht zurückkommen, wenn es keine Stellen gibt.

Gornik: Es gibt eine ganz furchtbare Vision, fast eine Apokalypse hier in Deutschland, sich nämlich vorzustellen, dass Bethlehem einmal eine Stadt sein wird ohne Christen. Ist das auch eine Vorstellung, die Sie teilen?

Dürr: Die Christen haben besonders viele Kontakte in den Westen, die Muslime haben diese Kontakte so nicht. Wer von den Christen derzeit eine Chance hat zu gehen, der geht. Das kann passieren.

Gornik: Wie kann das gestoppt werden?

Dürr: Indem man der Westbank finanzielle Hilfen gibt, Gelder, statt sie in die Mauer zu stecken, in Arbeitsplätze, dass man in der Zusammenarbeit viel arbeitet zwischen Israel und Palästina, da müssen vertrauensbildende Maßnahmen geschaffen werden, dass die Leute nicht von Vorurteilen voneinander leben, sondern von realen Begegnungen. Und dann werden wieder Touristen kommen und werden Bethlehem bevölkern, und dann gibt es Arbeitsplätze.

Gornik: Heute, an dem Tag, an dem wir dieses Gespräch – was wir beide voraufgezeichnet haben – ausstrahlen, ist Karsamstag. Wenn Sie auf Ihre schulischen Erfahrungen seit 2004 in Talita Kumi zurückblicken, überwiegen die Karsamstagsstimmungen oder die Osterfreude?

Dürr: Es kommt darauf an. Ich habe immer wieder die Osterfreude, wenn ich sehe, wie selbstbewusst unsere Schülerinnen und Schüler werden, welches Niveau sie erreichen. Wenn ich aber diese Dinge anschaue – der Zugang etwa zu Jerusalem für meine Kollegen, das wird immer schwieriger, und das ist Karsamstag dann.

Gornik: Sie sind selber betroffen, Sie haben einen Sohn mit Behinderung, den Sie und Ihre Frau jeden Morgen nach Jerusalem bringen müssen. Ich denke, das verlängert ja Ihren Arbeitstag beträchtlich, oder?

Dürr: Das bedeutet für uns – obwohl Jerusalem nur zehn Kilometer weg ist –, dass wir pro Tag circa drei Stunden im Auto sitzen, einer von uns beiden, denn wir müssen eben diese Kontrollen überwinden und je nachdem, wenn wieder irgendetwas politisch los war, wenn wieder ein Terrorist gefangen wurde, dann gibt es besonders lange Schlangen, dann wird besonders sorgfältig geprüft.

Gornik: Doktor Georg Dürr war zu Gast im Deutschlandradio Kultur in der Sendung "Religionen", er ist Schulleiter des Schulzentrums Talita Kumi bei Beit Jala, herzlichen Dank!

Dürr: Danke schön!