Steinmeiers documenta-Rede

Die Antisemitismus-Debatte bekommt neuen Auftrieb

06:35 Minuten
documenta fifteen in Kassel
Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier eröffnet die documenta fifteen vor einem Kunstwerk des Instituto de Artivismo Hannah Arendt (INSTAR). © picture alliance/dpa| Swen Pförtner
Ludger Fittkau im Gespräch mit Gabi Wuttke |
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Mit scharfen Worten eröffnete Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier die documenta fifteen für das Publikum und brachte die Diskussion über Antisemitismus wieder voll zurück auf die Tagesordnung. Doch es gibt auch Kritik an seiner Rede.
Fast wäre Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier der Eröffnung der 15. documenta in Kassel ferngeblieben und hätte mit einer seit 1955 andauernden Tradition gebrochen. Seitdem wird die Kunstausstellung im Beisein des Bundespräsidenten eröffnet. Sein Zögern hat mit der Antisemitismusdebatte im Vorfeld der Schau zu tun. Doch letztlich kam er und hielt eine scharfe Rede, wie Hessen-Korrespondent Ludger Fittkau berichtet.
Frank-Walter Steinmeier sagte:
„Es fällt auf, wenn auf dieser bedeutenden Ausstellung zeitgenössischer Kunst wohl keine jüdischen Künstlerinnen oder Künstler aus Israel vertreten sind. Und es verstört mich, wenn weltweit neuerdings häufiger Vertreter des Globalen Südens sich weigern, an Veranstaltungen, an Konferenzen oder Festivals teilzunehmen, an denen jüdische Israelis teilnehmen. Ein Boykott Israels kommt einer Existenzverweigerung gleich. Wenn unabhängige Köpfe aus Israel unter ein Kontaktverbot gestellt werden; wenn sie verbannt werden aus der Begegnung und dem Diskurs einer kulturellen Weltgemeinschaft, die sich ansonsten Offenheit und Vorurteilsfreiheit zugutehält; dann ist das mehr als bloße Ignoranz. Wo das systematisch geschieht, ist es eine Strategie der Ausgrenzung und Stigmatisierung, die dann auch von Judenfeindschaft nicht zu trennen ist.“

Steinmeier ermahnt documenta-Verantwortliche

Damit stellt der Bundespräsident in den Raum, so Fittkau, dass hinter der Entscheidung, keine jüdischen Künstler aus Israel einzuladen, BDS-Aktivisten, also Aktivisten, die für einen Boykott Israels eintreten, stecken könnten. Steinmeier sagte aber nicht, hier sei das systematisch geschehen, so Fittkau. Dann sprach er die documenta-Gesellschafter, das Land Hessen und die Stadt Kassel, direkt an und erinnerte sie daran, dass sie einen Diskurs über Antisemitismus versprochen, aber nicht hinbekommen haben.
„Aber: Die Verantwortung bleibt ja. Verantwortung lässt sich nicht outsourcen. Deswegen würde ich es sehr begrüßen, wenn die Verantwortlichen der documenta sich dieser anspruchsvollen Vermittleraufgabe intensiv annehmen würden – und hierfür auch geeignete Strukturen schaffen. Ich bin ganz sicher: Es wird nicht an Unterstützung mangeln. Auch die Staatsministerin für Kultur hat ihre Hilfe dazu angeboten.“
Da die documenta noch bis zum 25. September 2022 geht, wäre also noch genügend Zeit, Steinmeiers Forderung umzusetzen. Ob aber Claudia Roth die richtige Person ist, um den Diskurs wieder anzukurbeln, „ist die Frage“, so Fittkau. Sie hatte sich im Januar schon mal ins Gespräch gebracht, was dann aber zu keiner wirklichen Debatte führte.

Die documenta ist keine kleine UNO

Mit seiner Rede folgt Steinmeier der Argumentation des Zentralrats der Juden in Deutschland, wie Ludger Fittkau erklärt: Dieser hatte kritisiert, dass keine jüdischen Künstlerinnen und Künstler auf der documenta 15 zu sehen seien, woraufhin die documenta-Macher erklären ließen, man sei keine kleine UNO und nicht dafür verantwortlich, alle Nationen abzubilden.
„Man kann aber sagen, nachdem es Kritik gab an der Künstlergruppe 'The Question of Funding' aus Ramallah, hätte diese Gruppe beispielsweise auch eine Gruppe aus Tel Aviv einladen können“, so Fittkau. "Hat sie aber nicht getan, sondern: Sie hat eine Gruppe aus Gaza noch dazu geholt. Das deutet für den Bundespräsidenten doch tatsächlich auf eine mögliche Strategie hin.“ 
Das wiederum hat den Antisemitismusbeauftragten des Landes Hessen auf den Plan gerufen und auch das Bündnis gegen Antisemitismus in Kassel. Dadurch hat die Debatte um Antisemitismus „wieder Auftrieb bekommen – durch die konkreten Werke, die man jetzt sehen kann".

Teile der Kunstszene kritisieren Steinmeier

Es gibt aber auch andere Sichtweisen auf die Rede des Bundespräsidenten, vor allem in der Kunstszene selbst. Für die Chefredakteurin des Monopol-Magazins, Elke Buhr, ist die Rede „ein Skandal“. Nicht nur würden die ihrer Ansicht nach haltlosen Antisemitismus-Vorwürfe als berechtigt dargestellt, sondern würde auch das Kuratorenteam aus Indonesien zurechtgewiesen, erklärt sie in ihrem Kommentar – und plädiert ebenfalls dafür, die 100 Tage der Ausstellung zu nutzen, aber zum Zuhören. Sie schreibt:
„Die jüdische Philosophin Susan Neiman hat sich im Vorfeld der Documenta Fifteen mehrfach dagegen ausgesprochen, wie in der Debatte der Antisemitismus-Begriff ausgehöhlt und instrumentalisiert wird. 'Man lädt ein indonesisches Kuratoren-Kollektiv ein, um einen anderen Blick auf die Welt kennenzulernen, den Blick des Globalen Südens. Aber eigentlich will man diesen Blick dann doch nicht haben', sagte sie im Interview mit der Süddeutschen Zeitung. Dabei würde es sich lohnen, sich auf den Perspektivwechsel einzulassen. Zuhören wäre vielleicht mal eine gute Idee. Wir haben noch 100 Tage Zeit.“

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