Steins Schaubühne war "fast ein Theaterwunder"

Peter Iden im Gespräch mit Gabi Wuttke |
Peter Steins Peer-Gynt-Doppelabend von 1971 sei von historischer Bedeutung für das deutsche Theater bis heute, ist Peter Iden überzeugt. 50 Jahre nach ihrer Gründung habe die Berliner Schaubühne ihre Führungsrolle allerdings längst abgegeben, so der Theaterkritiker.
Gabi Wuttke: Alles nur Theater, aber was für eins! Die Schaubühne in Berlin, eine der renommiertesten Bühnen in Europa, wird heute ein halbes Jahrhundert alt. Bevor wir uns mit dem Theaterkritiker Peter Iden an den Anfang und nicht nur an diesen erinnern, hören Sie, was Friedrich Luft im RIAS über die erste Premiere am 21. September 1962 sagte.

O-Ton Friedrich Luft: "Mit dem ersten Griff auf die Bühne hatten die wagemutigen jungen Theaterleute sofort ein deutliches Exempel statuiert. Dies sollte sozialbezogen sein, es sollte engagiert sein und sollte darüber keineswegs langstietzig sein oder predigend. Es war lustig, war fantasiereich, war spannend und war auf eine märchenhafte Weise nachdenkenswert und überzeugend."

Wuttke: ... , meinte der Berliner Theaterkritiker Friedrich Luft. – Fast 50 Jahre schrieb Peter Iden Theaterkritiken für die "Frankfurter Rundschau". Sein letztes Buch heißt, "Der verbrannte Schmetterling. Wege des Theaters in die Wirklichkeit". Einen schönen guten Morgen, Herr Iden!

Peter Iden: Guten Morgen, Frau Wuttke.

Wuttke: Wie maßgeblich ist für Sie die Schaubühne als Weg in die Wirklichkeit der bundesdeutschen Nachkriegszeit?

Iden: Friedrich Luft hat ja zurecht von dem schon damals glanzvollen Beginn dieser Bühne gesprochen, die sich entwickelt hat vor dem Hintergrund der damals sehr starken Szene der Studententheater in Deutschland. Das waren ja Studenten der Theaterwissenschaften, die das begonnen haben und die, der Wissenschaft müde, sich nun direkt mit der Durchsetzung von Autoren wie Armand Gatti, Horváth und O'Casey, die an den etablierten deutschen Stadt- und Staatstheatern wenig gespielt wurden, beschäftigt haben. Und dieser Anfang war ein Vorlauf zu dem, was dann 1970 passiert ist: Stein bekam das Angebot aus Berlin, die Bühne am Halleschen Ufer zu übernehmen, und hat das auch angenommen.

Wuttke: Was forderte die Schaubühne Ihnen als Kritiker denn am Anfang vor allen Dingen ab?

Iden: Es war eine Zeit des gesellschaftlichen Umbruchs und des Umbruchs auch im Theater. Man kann sagen, das Theater von Gründgens war an ein Ende gekommen, hatte sich erschöpft und man war in ganz Deutschland im Theater außerordentlich gespannt, was nun Peter Stein, der sich in München mit Aufführungen unter dem Schutz noch damals von Fritz Kortner befand, was er nun in Berlin, erstmals mit einem eigenen Theater betraut, machen würde. Und die Spannung an dem Premierenabend im Oktober 1970 war sehr groß. Man begann mit der "Mutter" von Brecht, schon das war mit Therese Giehse als der Hauptfigur und Titelfigur ein großer Wurf.

Wuttke: Aber auch "Peer Gynt" 1971 hat Sie ja nachhaltig beeindruckt.

Iden: Ja. Und dann kamen gleich im nächsten Jahr die großen Aufführungen von Handkes "Ritt über den Bodensee", das hat noch Claus Peymann gemacht. Und dann kam eben dieser Doppelabend von "Peer Gynt", ein Ereignis, würde ich denken, von historischer Bedeutung für das deutsche Theater bis heute.

Wuttke: Warum?

Iden: ... , weil man gesehen hat, wie jemand ein Stück liest, das war vielleicht zunächst mal das Wichtigste. Wie ein Ensemble mit Hilfe der Dramaturgen Dieter Sturm (und später kam ja auch Botho Strauß dazu) eindrang in das Geflecht dieser Lebensgeschichte Peer Gynts und wie das nun gefasst wurde, auch der Erkenntniswert dieses Stücks gefasst wurde in große, geradezu teilweise schwelgerische Bilder mit einem fantastischen Ensemble.

Das war ein Auftakt, der sofort die Aufmerksamkeit der Theaterleute in ganz Europa auf dieses Unternehmen Schaubühne unter Peter Stein oder mit Peter Stein und seinen Schauspielern gelenkt hat.

Wuttke: Um mal ganz salopp zu fragen, Herr Iden: Waren Sie erstaunt über das, was da in der Schaubühne in diesem Raum geliefert wurde, oder waren Sie vom Donner gerührt?

Iden: Beides wahrscheinlich. Man war erstaunt, man war vor allen Dingen voller Bewunderung, was einem Ensemble unter nicht unbedingt idealen äußeren Umständen gelungen war herzustellen. Das war eigentlich fast ein Theaterwunder und es hat ja die Bedeutung der Schaubühne in Europa oder, man kann ja wirklich sagen, im Welttheater auch ausgemacht. Mit dem Abend hat man gesehen, welches Potenzial hier ist, welches Potenzial an Gedankenarbeit und an Fähigkeit, das umzusetzen in sinnliche verführerische Bilder. Das war ganz großartig.

Es hat eine solche Wirkung nach dem Zweiten Weltkrieg nur gegeben, auch mit den Folgen, durch das Theater von Brecht am Schiffbauerdamm und durch Giorgio Strehlers Piccolo Theater in Mailand. In diese Reihe gehörte damals die Schaubühne, für mehr als ein Jahrzehnt dann in der Folge.

Wuttke: Wie steht es um die Schaubühne zum 50.?

Iden: Die Arbeit, die an der Schaubühne geleistet wurde, von den Regisseuren Stein, Klaus Michael Grüber und dann auch Luc Bondy, diese Arbeit ist beispielhaft bis heute. Aber diesem Beispiel sind wenige gefolgt. Man sieht heute auch an der Schaubühne immer noch oft spannendes zeitgenössisches Theater, aber diesen Gesellschaftsbezug, das ist im deutschen Theater dann weitgehend ohne praktische Folgen geblieben.

Die Wiedervereinigung hat dann das alles noch mal verändert, auch die besondere antipodische Stellung der Schaubühne in Bezug auf das Theater, das in der DDR gemacht wurde. Das hat das alles verändert und man muss sagen, dass leider die Schaubühne und ihre großen Regisseure, also Stein, Grüber und Bondy, nicht wirklich Schüler gefunden haben. Die Schaubühne ist heute ein Theater, das sich einreiht in die Reihe der etablierten Stadt- und Staatstheater, aber ohne diese Führungsrolle, die die Schaubühne über zehn Jahre hatte, einnehmen zu können.

Wuttke: Der Theaterkritiker Peter Iden im Deutschlandradio Kultur zum heutigen 50. Jubiläum der Schaubühne in Berlin. Herr Iden, ich danke, dass Sie sich die Zeit genommen haben, und wünsche Ihnen einen schönen Tag.

Iden: Ihnen auch. Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.

Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
Mehr zum Thema