Steinunn Sigurdardóttir: "Heidas Traum. Eine Schäferin auf Island kämpft für die Natur"
Hanser-Verlag 2018, 288 Seiten, 22 Euro
Ein Buch nach den Jahreszeiten
Nach Minuten der Begegnung mit der Schäferin Heida wusste die isländische Schriftstellerin Steinunn Sigurdardóttir, dass sie der Umweltaktivistin ein Buch widmen wollte. Darin erklingt vor allem diese einzige Stimme.
Joachim Scholl: Steinunn Sigurdardóttir ist eine der bedeutendsten isländischen Schriftstellerinnen, ihre Bücher erscheinen in allen wichtigen Sprachen. Auch bei uns haben Sie viele Leser. Sie lebt inzwischen in Straßburg, hat längere Zeit aber in Deutschland in Berlin gelebt, und das ist insofern schön für uns, dass wir gar keinen Übersetzer mehr brauchen. Willkommen in der "Lesart" im Deutschlandfunk Kultur, Frau Sigurdardóttir!
Steinunn Sigurdardóttir: Vielen Dank!
Scholl: Sie haben uns Ihr neuestes Buch mitgebracht, und das ist eine Besonderheit. Kein Roman diesmal, sondern ein Buch über eine real existierende Person, eine Frau, die auch auf dem Umschlag zu sehen ist, wie sie lachend ein Schaf krault. Wer, Steinunn Sigurdardóttir, ist Haida?
Sigurdardóttir: Das ist eine gute Frage. Ich habe mich ein ganzes Jahr mit Heida beschäftigt, alle Jahreszeiten, und das Buch ist auch in den Jahreszeiten verteilt. Und wenn Sie mich so fragen, dann würde ich sagen, ja, ich weiß es nicht. Ich weiß einiges, aber alles weiß ich gar nicht. Und das ist das Wundervolle am Menschen, dass man eine wahre Geschichte schreibt, dass man doch nicht alles wissen kann. Über meine fiktiven Personen kann ich theoretisch alles wissen.
Aber ich sage etwas: Heida ist eine widersprüchliche Person, ganz ungewöhnlich. Sie ist eine kämpfende Frau, gegen Naturkräften. In jedem schlechten Wetter muss sie draußen sein, um etwas zu machen, zu arbeiten. Und der Kampf mit ihr selbst, das ist der interessanteste Kampf des Buches. Sie beschreibt ihre Depressionen, und wie sie selbst diesen Zustand oder diese Krankheit überwunden hat. Hier wollte sie, das ist das Kapitel, dass sie eigentlich – sie wollte eigentlich nicht, dass das mit käme, aber ich musste sie überzeugen, weil das so einmalig ist.
Eine wahre Geschichte
Scholl: Heida, das darf ich jetzt sagen, ist eine Schäferin in Island, lebt auf einer Farm mit 500 Schafen und ist inzwischen so prominent auch in Island, dass sie sogar für eine politische Wahl aufgestellt wurde. Das Leben, bevor sie Schäferin wurde, ist auch interessant. Sie war nämlich ein isländisches Top-Model auf den Laufstegen von Mailand, New York und Paris zu Hause. Jetzt allerdings in Island. Aber, Frau Sigurdardottir, wie haben Sie Heida überhaupt kennengelernt?
Sigurdardóttir: Das ist der Punkt, das ist der Witz. Warum habe ich plötzlich eine wahre Geschichte geschrieben nach zwölf Romanen und zehn Gedichtbänden und so weiter? Ich war in Südostisland. Das ist der Ort, wo ich meine Wurzeln habe, in dieser Lavalandschaft mit Gletscherflüssen und dem mächtigen Gletscher Vatnajökull, und dann Mýrdalsjökull etwas westlich, in der Mitte von der Südküste. Ich habe immer noch ein Sommerhäuschen da, nicht unweit von Vatnajökull. Das ist auf dem Bauernhof, wo mein Vater aufgewachsen ist mit 15 Schwestern und Brüdern.
Dann kommt eines Tages zu mir eine Freundin aus der Gegend, und sie sagt, du musst Heida treffen. Und ich sagte, wieso? Wer ist Heida, warum soll ich Heida treffen? Und dann sagte sie, Heida führt diesen Kampf mit einem privaten Energieunternehmen. Der Kampf geht um ihr Land. Sie wollen da einen Riesenstaudamm bauen. Sie will nicht verkaufen, sie sagt nein. Aber sie machen immer weiter. Und die Drohung der Enteignung liegt in der Luft. Und ausnahmsweise habe ich gehorcht.
Ich bin nach Ljótarstadir gefahren. Ich habe Heida getroffen. Keine fünf Minuten saß ich an dem Küchentisch, da habe ich entschlossen, ich schreibe ein Buch über Heida. Das war Wahnsinn. Ich war in der Mitte eines Romans, wie immer. Ich wusste, dass ich das an die Seite legen müsste, weil die Zeit drückte. Und ich habe es gemacht. Und was noch verrückter war, Heida wollte mitmachen.
Buch mit einer Stimme
Scholl: Sie waren ganz früher, Steinunn Sigurdardóttir, auch eine Journalistin, und Sie hätten dieses Buch ja auch als eine Art Biografie schreiben können. Haben Sie aber nicht gemacht, sondern es ist eine Art autobiografischer Roman. Wenn man nicht weiß, dass sozusagen Heida jetzt wirklich eine reale Person ist – als ich das Buch das erste Mal in der Hand hatte, habe ich angefangen zu lesen, und dann dachte ich, Moment, erst: Ist jetzt die Autorin Heida oder umgekehrt? Wer spricht hier eigentlich? Und zwischendurch kommt aber dann Sigurdardóttir, Steinunn kommt trotzdem vor, die dann plötzlich Heida als Rednerin zum Beispiel kennzeichnet. Das ist eine ganz spezielle Form. Wie sind Sie darauf gekommen?
Sigurdardóttir: Ich schreibe nun jetzt erst ein halbes Jahrhundert, und ich hätte das nicht machen können, wäre ich nicht auch schon Journalist gewesen. Mein erster Gedichtband kam tatsächlich vor 51 Jahren. Ich musste sehr viel grübeln und schließlich die Entscheidung, und mit einer Idee meiner Heldin, Swetlana Alexijewitsch. Sie macht diese Stimmen-Romane. Aber die sind mehrstimmig.
Hier würde man nur eine Stimme hören. Und das ist gewagt, weil das dann monoton sein kann. Aber ich bereue diese Entscheidung nicht. Ich existiere in diesem Buch nicht. Und das größte Kompliment, das ich für das Buch bekommen habe, kam nicht von einem Kritiker oder so. Es kam von einem steinreichen Geschäftsmann in Island, und der sagte, es ist, als ob niemand das Buch geschrieben hätte. Das ist …
Scholl: Es hat sich von allein geschrieben, könnte man sagen.
Sigurdardóttir: Genau. Ich liebe das.
Scholl: Aber noch mal zurück, Steinunn. Ich darf sogar den Vornamen sagen, weil Sie haben mir vorhin gesagt, wir Isländer nennen uns immer nur beim Vornamen, weil die Nachnamen so kompliziert sind.
Sigurdardóttir: In Island ist es gängig. Wenn Sie im Telefonbuch schauen, dann ist es immer der Vorname, auch für den Präsidenten. Der Vorname ist …
Scholl: … entscheidend. Steinunn, noch mal zurück. Weil Sie sagten, Sie mussten nur fünf Minuten am Küchentisch sitzen mit Heida, und dann wussten Sie, Sie mussten ein Buch schreiben. Was war denn so faszinierend an dieser Frau, dass Sie sofort sagten, ich will ein ganzes Buch schreiben? Weil es auch so eine Märchenfigur ist, also ein Top-Model – sie sieht natürlich hinreißend aus –, jetzt ist sie Schäferin und engagiert sich für den Umweltschutz da in dieser rauen Landschaft.
Sigurdardóttir: Das ist genau der Punkt. Es reicht mir nicht, eine reizende Frau zu treffen oder einen faszinierenden Menschen, und dann renne ich hinterher und schreibe eine wahre Geschichte. Meine Motivation war der Umweltkampf. Ich habe mich sehr für die Umwelt in Island eingesetzt, nicht wenigstens gegen diesen schrecklichen Staudamm Kárahnjúkar, der der größte in Europa ist. Und ich habe sehr viele Artikel geschrieben.
Als ich Heida getroffen habe, habe ich sofort verstanden, ich könnte 3.500 Artikel verfassen – nichts wäre so wirkungsvoll für die Natur wie ein Buch über Heida. Und das Gute war, dass das genau Heidas Motivation ist. Sie hätte das Buch nie erlaubt oder gewollt. Sie wollte unbedingt ihre Kampfgeschichte erzählen. Aber sie hat verstanden, wenn es nur darum geht, dann ist es kein Buch, dann ist es ein Pamphlet. Und Realistin, die sie ist, hat sie dann mitgemacht, und ich hatte das interessanteste auf der Welt, eine Protagonistin wider Willen.
Heida fand ihr Glück
Scholl: Haben Sie das Gefühl nach all den Gesprächen und Begegnungen, die Sie jetzt mit Heida hatten, dass Sie doch auch das Glück dort gefunden hat, in dieser Welt mit 500 Schafen? Ich meine, man muss sich das vorstellen, was das für ein Leben ist. Man ist da 20 Stunden sozusagen auf den Beinen.
Sigurdardóttir: Ja, genau. Das ist körperlich unglaublich harte Arbeit. Heida hat den Bauernhof ihrer Eltern übernommen, und sie wollte das wiedergutmachen sozusagen, weil der Bauernhof zerfallen war. Ich würde sagen, von mir aus war das eine traurige Kindheit. Einigermaßen hat sie das Glück gefunden. Aber sie kann sich auch vom Fleck rühren. Ich weiß, dass sie einen Traum hat, auch irgendwann im Ausland zu leben. Sie ist natürlich an ihren Bauernhof und ihre Wurzeln gebunden. Aber sie hat so viel Handlungskraft, dass man nicht weiß, was sie machen könnte. Weiß man nicht.
Scholl: Sie leben in Straßburg, haben lange in Berlin gelebt, sind schon eine Städterin, obwohl Sie natürlich auch erzählen, dass Sie dort einen kleinen Landsitz haben und dort immer sind. Wäre das irgendwie für Sie auch eine Möglichkeit zu leben, so auf dem Land?
Sigurdardóttir: Ich bin komplett gespalten. Ich bin eine Städterin, und ich bin auch sehr viel vom Lande. Ich war im Sommer vier Monate auf dem Bauernhof, also unsere Sommerferien waren so riesig zu dieser Zeit. Ich habe sehr viel über die Natur geschrieben. Und mein Traum wäre, den ganzen Sommer auf dem Land in Island zu sein. Ich hoffe – theoretisch kann ich das. Ich habe das Häuschen, eine traumhafte Lage mit Wasserfall und fern von allem. Nur, Lava ist dabei und ein bisschen Wasser. Aber nicht das ganze Jahr auf Island auf dem Land.
Scholl: Wie im 19. Jahrhundert: Im Winter zur Ballsaison in die Stadt.
Sigurdardóttir: Das ist eine Idee!
Scholl: Ich danke Ihnen schön, Steinunn Sigurdardóttir, für Ihren Besuch und dass Sie uns erzählt haben von "Heidas Traum. Eine Schäferin auf Island kämpft für die Natur". So heißt das neue Buch von Steinunn Sigurdardóttir. Es ist im Hansa-Verlag erschienen und hat 288 Seiten für 22 Euro. Übersetzt aus dem Isländischen hat den Band Tina Flecken. Alles Gute für Sie!
Sigurdardóttir: Vielen Dank, gleichfalls!
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