Der Mensch ist, was er isst
Es gibt Menschen, die gönnen sich nur Lebensmittel, die es schon in der Steinzeit gab. Also Fleisch, Eier, Gemüse und Obst. Warum machen die das bloß, hat sich der Journalist Tiemo Rink gefragt: Sie wollen doch auch nicht vom Mammut zertrampelt werden.
Der Pessimist leidet an der Gegenwart, fürchtet die Zukunft und verklärt die Vergangenheit. Früher war alles besser, findet er. Das Wetter schöner, die Kinder braver und das Essen gesünder.
Ein naher Verwandter des Pessimisten ist der Verzichtler. Einer, der zur Selbstbeschränkung neigt – nicht, weil er müsste, sondern weil ihn der Überfluss fertigmacht. Wenn Verzichtler und Pessimist latent christlich gesonnen sind, dann dürfen sie momentan etwas durchatmen: Denn es ist Fastenzeit, da können sie ihre Seelen durch Selbstbeschränkung reinigen. Es muss was pieken im Bauch, sonst wirkt es nicht.
Die gute Nachricht: Für Mangel und Selbstkasteiung ist man nicht mehr länger auf die Fastenzeit angewiesen. Denn es gibt Steinzeiternährung. Eine Ernährungsumstellung, bei der nur noch auf den Tisch kommt, was schon in der Steinzeit auf den Tisch gekommen wäre, wenn es einen Tisch gegeben hätte. Also Fleisch, Eier, Gemüse und Obst, und das bitte möglichst unbehandelt, bio und regional. Und dafür Schluss mit Milch, Getreide und raffiniertem Zucker. Kurz: Mit allem, was erst in die Welt kam, nachdem der Ackerbau entdeckt war.
Kein Chlorhünchen im Neandertal
Zurück zur Natur also. Längst schon hat die wie auch immer geartete Zukunft als gedanklicher Fluchtpunkt ausgedient. Steinzeiternährung ist der letzte Schrei in Sachen Regression. Dazu gehört eben auch, dass Zukunft nur noch als Bedrohung gedacht werden kann. Als Chlorhühnchen, Bluthochdruck und Diabetes. Im Neandertal hätte es sowas nicht gegeben.
Genetisch gesehen sei der Mensch noch immer Jäger und Sammler, sagen die Befürworter der Steinzeiternährung. Da brauche er sich nicht wundern, wenn Dosenbier und Chips ihn langfristig in die Knie zwingen. Die bestellte Krume also ist Quell allen Übels, die Streuobstwiese hingegen dürfte okay sein. Zwar hat heutiges Obst nach ein paar tausend Jahren Zucht nicht mehr viel mit dem Obst der damaligen Zeit zu tun, aber darum geht es doch nicht, sondern um Distinktionsgewinne.
Nun könnten stattdessen auch simple Wahrheiten ausgesprochen werden, zum Beispiel jene, dass zu viel Essen und zu wenig Bewegung auf Dauer nicht gesund sind. Aber sowas gilt unter Steinzeiternährern wenig. Das wäre zu einfach, da könnte ja jeder mitmachen!
Steinzeiternährung ist wie jede Ernährungsumstellung eine Wohlfühl- und Fitmachideologie. Und nebenbei eine Zeitgeistkritik, die umso besser ankommt, je unkritischer sie gegenüber dem Zeitgeist tatsächlich ist. Erst recht in Zeiten – und wenn schon Pessimismus, dann doch bitte hier – in denen Menschen vor Gericht für ihr Recht streiten müssen, in ihrer Wohnung rauchen zu dürfen. Da ist der Nüsse knabbernde Steinzeiternährer, nicht zuletzt aus Sicht seiner Krankenkasse, das sozial kompatiblere Mitglied.
Wer denkt schon an Jagdunfälle mit Mammuts?
Wenn auf dem Weg dahin ein bisschen plumpe Idealisierung von Mutti Natur ins Spiel kommt, dann ist das halt so – zumal Jagdunfälle mit Mammuts selbst für den überzeugtesten Steinzeitler der Gegenwart ein Ding der Unmöglichkeit sein dürften. Wirklich naturgemäß an der Natur ist höchstens der Grundsatz vom Fressen und Gefressenwerden – und genau das passiert heute kaum noch.
Dafür ist auch nichts darüber bekannt, ob der Neandertaler zu Jahresanfang gerne fastete. Wohl eher unwahrscheinlich. Wahrscheinlicher ist, dass der ach so fitte Neandertaler sich wohl kaum etwas sehnlicher gewünscht haben dürfte, als wenigstens einmal in seinem Leben einem Mammut so dermaßen einen vor den Latz zu knallen, dass die ganze Sippe anschließend für ein paar Wochen zum Verdauen in der Höhle bleiben kann. Völlerei oder Hungertod – so geht Natur!
Zeitgeistkritik ist von Neandertalern nicht überliefert. Der Grund ist klar: Früher war alles besser.
Tiemo Rink, Jahrgang 1981, studierte Politikwissenschaft in Marburg, Wien und Teramo/Italien. Er lebt und arbeitet als Journalist u.a. für den "Tagesspiegel" in Berlin.