Stephan Krass: „Radiozeiten. Vom Ätherspuk zum Podcast“
© zu Klampen
Konkurrierende Stimmen um Wahrheit und Wirklichkeit
32:40 Minuten
Stephan Krass
Radiozeiten. Vom Ätherspuk zum Podcastzu Klampen , Springe 2022256 Seiten
22,00 Euro
Budenzauber, Terrorkanal, Kulturmaschine: In seiner bald hundertjährigen Geschichte hat das Radio viele Stationen durchlaufen. Die wichtigsten davon steuert der Journalist Stephan Krass in einem bemerkenswerten Essay noch einmal an.
Rein technisch gesehen scheint der Fall gelöst: Elektromagnetische Wellen übertragen akustische Signale, die von einem Empfänger entschlüsselt werden. So beschreibt die Wissenschaft das Phänomen der Radiophonie, und so erzählen es die Physiklehrer ihren Schülern bis heute.
Doch Obacht! Gerade im Wissenschaftlichen lauert allzu oft das Fantastische. Wenn man es recht bedenkt, ist es ja schon ziemlich seltsam, dass ein Stoff namens Äther Stimmen übertragen soll, die sich daheim im Wohnzimmer materialisieren und über das Ohr in die Zielperson eindringen. Regelrecht spooky, oder?
Man sieht: In Stephan Krass‘ Essay zu Geschichte und Wirkung des Radios werden aus Gewissheiten wieder Fragen. Was an dem Medium war der Hörerschaft von Anfang an so unheimlich, dass sie ihm übersinnliche Fähigkeiten andichtete? Wie stabil ist sein Realitätsbezug insgesamt einzuschätzen?
Und was hat es mit dem Funken auf sich, der, offenbar als Nachfahre göttlicher Blitze, im Wort Rundfunk steckt? Ergebnisse gibt es auch, wir sind schließlich allesamt aufgeklärte Zeitgenossen, die sich kein X für ein U vormachen lassen, der Spaß allerdings liegt eindeutig im Spekulativen. In Krass‘ kleiner Medienkunde ist man vor gerufenen und ungerufenen Geistern nie ganz sicher.
Sendung auf allen Frequenzen
Es ist selbst eine Art Wunderkammer, die der ehemalige Leiter der Abteilung Radioessay beim SWR hier aufmacht. Wir werden Zeuge, wie am 29. Oktober 1923 die erste deutsche Radiosendung vom Dachgeschoss des Vox-Hauses am Potsdamer Platz aus ausgestrahlt wird. Wir verfolgen noch einmal den Atlantikflug von Charles Lindbergh mit, das erste globale Großereignis der Mediengeschichte.
Wir gehen mit Bertolt Brecht "on air", dessen Radiotheorie den auf Technik setzenden Demokratisierungshoffnungen der Weimarer Republik eine Stimme gab. Bekanntlich kam es anders, doch ist dem Radio in der Angelegenheit nur bedingt Kollaboration vorzuwerfen: Während die Nazis per Volksempfänger den Sendebetrieb zu monopolisieren versuchten, lief auf benachbarten Frequenzen mit Jazz, anglosächsischer Coolness und ungeschönten Frontberichten bereits die Gegenpropaganda.
Krass erzählt nicht linear, sondern situativ. Wie im Senderdurchlauf steuert er die verschiedenen Stationen der Radiogeschichte an, vom NS-Terrorkanal zur Stimme der freien Welt, vom Staatsradio zum Piratensender, vom Ätherspuk bis hin zum Podcast.
Etwas länger verweilt er in den unmittelbaren Nachkriegsjahren, beim Radiotrinker Gottfried Benn, dem technikskeptischen, aber sendungsbewussten Theodor W. Adorno, nicht zuletzt bei Alfred Andersch, in seiner Zeit als Redakteur Mitgestalter der „großen Kulturmaschine Funk“. An solchen Stellen spürt man, wo das Herz des Autors schlägt, doch nostalgisch wird er nie. Erstaunlich am Radio sind für ihn nicht einzelne Etappen, sondern seine in der Tat unheimliche Fähigkeit, sich in immer wieder neuen Situationen zu bewähren.
Polyphonie rules
Und die Moral von der Geschicht‘? Gibt es nicht. Was das bald hundertjährige Medium nun im Innersten zusammenhält, welche Kräfte für die zahlreichen Krisen seiner Karriere verantwortlich zu machen wären und wo es heute, in Zeiten des Hörerschwunds, hingehen könnte – man muss es sich selber denken.
Freunde kompakter Botschaften mag das enttäuschen, doch bei genauerem Hinhören liegt genau darin die Pointe dieses so leichten wie tiefgründigen und unbedingt lesenswerten Buchs. Im Radio konkurrieren Stimmen um Versionen von Wirklichkeit. Für die Verbreitung letzter Wahrheiten ist es nicht gemacht.