Sterbehilfe auch für Gesunde?
Eine Vereinigung in den Niederlanden tritt dafür ein, dass man auch als Gesunder mit einer Pille aus dem Leben scheiden kann, wenn man dieses für vollendet hält. Wir sollten aus dem Sterben keine angenehme Sache machen, hält Lukas Bärfuss dagegen.
Joachim Scholl: Wer todkrank ist und sterben will, kann mit Verständnis und Empathie seiner Umwelt rechnen, wie begegnet man aber einem älteren gesunden Menschen, der sagt: Mein Leben ist vollendet, gebt mir die Möglichkeit zu sterben, gebt mir dafür eine Tablette, bevor ich selbst an mir rummurkse? Genau das fordert derzeit in den Niederlanden die Vereinigung für ein freiwilliges Lebensende, wie sie sich nennt. Zusammen mit der Bürgerinitiative "Aus freiem Willen" hat man an die 120.000 Unterschriften für eine Petition an das niederländische Parlament gesammelt, das nun darüber diskutieren muss. In einem Studio in Zürich begrüße ich nun den Schriftsteller Lukas Bärfuss. Guten Tag!
Lukas Bärfuss: Guten Tag, Herr Scholl!
Scholl: Sie, Herr Bärfuss, haben 2005 in Ihrem Theaterstück "Alices Reise in die Schweiz" die Thematik aufgegriffen mit dem besonderen Blick auf die Tatsache, dass Menschen zur Sterbehilfe in die Schweiz reisen. Mit welchen Gedanken haben Sie denn auf diese niederländische Initiative nun reagiert?
Bärfuss: Ja, ich glaube, es ist wieder ein Versuch, etwas zu organisieren, was eigentlich gar nicht zu organisieren ist, etwas in einigermaßen vernünftige oder erträgliche Bahnen zu lenken, was ganz und gar unerträglich ist, nämlich der eigene Tod. Und ich glaube auch, dass diese Initiative, diese niederländische, eigentlich auch nur die Kehrseite ist unserer technisierten Medizin. Das heißt, die Menschen sterben einfach nicht mehr so oder immer weniger eines natürlichen Todes. Sie werden immer älter, die Dementkranken werden immer mehr, und da braucht es offensichtlich irgendeine Möglichkeit, einem Leben ein Ende zu bereiten, denn die Medizin ist ja anders gepolt. Die versucht, das Leben zu verlängern bis über die Grenze des Erträglichen hinaus.
Scholl: Wie reizvoll oder wie persönlich abstoßend finden Sie denn dieses Konzept, das also eine Pille für den letzten Willen vorsieht?
Bärfuss: Ja, also abstoßend finde ich das eigentlich nicht, weil ich glaube, ganz grundsätzlich ist man entweder dafür, dass der Mensch ein Recht darauf hat, sein eigenes Ende zu bestimmen, oder man ist dagegen. Was mir nicht gefällt, ist eigentlich, dass dieses Recht nur alten Menschen zustehen sollte. Also entweder man hat dieses Recht oder man hat es nicht, ganz unabhängig vom persönlichen Zustand.
Scholl: Ich meine, das ist natürlich auch ein Problem – wer stellt eigentlich fest, wie alt genug man ist sozusagen, diesen Willen zu äußern. Aber die niederländische Initiative nennt ihre Kampagne auch "vollendetes Leben". Das heißt, das Individuum bestimmt selbst, wann sein Leben als vollendet anzusehen ist. Ich meine, das kann es ja auch im Zustand der Gesundheit durchaus sein, ne?
Bärfuss: Ja, das ist durchaus denkbar. Ich glaube einfach, dass es ganz grundsätzlich ein Problem ist, allgemeine Regeln für diesen Fall zu finden oder irgendein System oder einen Formalismus, denn wir leben ja schließlich nicht alleine. No man is a island – also kein Mensch ist eine Insel. Wir leben in sozialen Verflechtungen und in Abhängigkeiten, und deshalb ist eigentlich der frei bestimmte Entschluss, glaube ich, auch ein bisschen Ideologie. Ich glaube nicht, dass es diesen geben kann, oder jedenfalls sollte es ihn nicht geben, denn letzten Endes könnte dann nur ein vollkommen einsamer Mensch auch diese einsame Entscheidung treffen.
Scholl: Sie haben sich damals in der Diskussion über Ihr Theaterstück, Herr Bärfuss, gegen den Tod als Wellnesserlebnis gewehrt, also dass man diesen Schritt sozusagen im modernen Fitnessgedanken geht, so gepflegt, ausgeglichen und wohlriechend. Wäre das auch so eine Kritik an dieser Idee vom vollendeten Leben?
Bärfuss: Ja, was mich gestört hat und eigentlich immer noch stört, ist, dass man die Frage der Würde hier ins Spiel bringt und dass es sehr oft heißt, dass man in Würde sterben will. Und ich weiß nicht genau, was das denn bedeuten soll. Oder im Ausschluss heißt es denn, wenn man krank ist, da ist man unwürdig, oder wenn man auf Hilfe angewiesen ist, ist das unwürdig. Ich glaube nicht eigentlich. Ich glaube, dass die Organisation oder dieser Versuch, selbst aus dem Sterben eine angenehme Sache oder jedenfalls eine Sache zu machen, die möglichst wenig Schmerz hinterlässt, finde ich ein Gedanke, der mir eigentlich nicht so gefällt. Denn was heißt das letzten Endes? Gibt es dann nicht auch einen Druck der Gesellschaft oder des sozialen Umfeldes, wenn man nicht mehr kann und wirklich krank ist, dann sterben zu müssen. Und deshalb gefällt mir dieser Gedanke des Bequemen eigentlich nicht so. Ich glaube, wir sollten uns mit der Unbequemheit und mit dem Skandalon des Todes auseinandersetzen.
Scholl: Sterben und der freie letzte Wille zum Griff nach der Tablette. Wir sind im Gespräch mit dem Dramatiker Lukas Bärfuss, der ein Theaterstück zum Thema geschrieben hat. Selbstmord, die letzte aller Türen, doch nie hat man an alle geklopft – so hat der Lyriker Reiner Kunze einmal gedichtet. Was hat Sie, Lukas Bärfuss, damals eigentlich gereizt an dem Sujet, als Sie Ihr Theaterstück "Alices Reise in die Schweiz" schrieben?
Bärfuss: Ja, die Menschen, die Menschen, die das tun, also die Menschen, die helfen, oder die Menschen, die aus dem Leben scheiden wollen, und gleichzeitig natürlich auch dieses allgemeine Prinzip oder dieses uralte Thema, diese Frage, die schon bei Seneca und schon viel früher bei Sokrates immer wieder eine große Rolle spielte, also was ist das Leben eigentlich. Ist es ein Geschenk, ist es eine Pflicht und wie beendet man es? Weil das stellt natürlich dann auch die Frage, wie führt man das Leben oder was ist ein glückliches Leben. Und ich glaube, wenn wir damit beginnen, generalisierte Gesetzesartikel zu schreiben, dann wird die Sache unmenschlich, weil ich glaube, jeder Mensch und jedes einzelne Schicksal ist einzigartig. Und wenn wir versuchen, das zu formalisieren, dann wird es sehr schnell unmenschlich.
Scholl: Sie haben jetzt schon große Namen so en passant fallen lassen, Herr Bärfuss. Zu allen Zeiten war der Freitod ein großes Thema der Geistesgeschichte, und das Skandalon des Todes, so haben Sie es vorhin formuliert, hat auch Platon fasziniert, Aristoteles hat sich da geäußert, alle Philosophen eigentlich, bis hin zu Albert Camus, der den Selbstmord als das wesentliche philosophische Problem aufgefasst hat und verworfen, weil nach seiner Meinung das menschliche Leben in einem sinnlosen, absurden Kosmos der einzig tragfähige Wert sei. Dieses Thema hat natürlich diesen ganz großen ethischen Horizont. Was ist denn Ihre Meinung als Intellektueller, gibt es eine menschliche Verpflichtung zum Leben?
Bärfuss: Nein, das glaube ich nicht. Also ich weiß nicht, wer diese Verpflichtung aussprechen könnte. Ich glaube aber auch, im Gegensatz gibt es kein Verbot, sich umzubringen, und ich weiß auch nicht, wo die Instanz sein könnte, die dieses Verbot aussprechen könnte. Ich glaube, diese Diskussion ist natürlich in einer säkularisierten Welt, in einer Welt ohne Gott immer auch eine Frage an das einzelne Individuum und deshalb auch so eine unglaubliche Überforderung, einfach weil uns die Instanz fehlt, an die wir unsere Entscheidung delegieren können.
Scholl: Ich meine, Immanuel Kant hat ja in seiner "Metaphysik der Sitten" ja ein gewissermaßen einen kategorischen Imperativ zum Leben formuliert. Der Mensch hat – jetzt ganz verkürzt – verdammt noch mal die Pflicht, sich dieser Verantwortung zu stellen. Also dieser Konflikt, so öffentliche Moral versus persönliche Ethik, da gibt es überhaupt keine Lösung dafür, oder?
Bärfuss: Ja, das glaube ich auch, aber bei Kant würde ich jetzt mal schätzen, war die Lebenserwartung wahrscheinlich etwas über 50, und die Möglichkeiten, zu Tode zu kommen, waren sehr groß. Und wenn jemand alt wurde, war das eigentlich schon etwas Besonderes. Das heißt, unsere Voraussetzungen oder die Voraussetzungen, die die moderne Medizin geschaffen hat, lässt sich einfach, glaube ich, auch nicht mit einem doch sehr klugen Satz von Kant erledigen.
Scholl: Ich meine, zurückgewendet auf die Initiative in den Niederlanden, was würde es denn gesellschaftlich bedeuten Ihrer Einschätzung nach, wenn es wirklich so eine Letzte-Wille-Pille gäbe?
Bärfuss: Ja, ich weiß nicht, ob das sehr viel ändern würde, weil man weiß ja auch, dass dieser Gesetzesartikel in den Niederlanden die Möglichkeit zur Euthanasie gibt, allerdings nur den Ärzten – das finde ich auch problematisch. Es sind dort die Ärzte, die entscheiden, ob jemand jetzt unter diesen Gesetzesartikel fällt oder nicht. Die haben zu überhaupt keiner Zunahme geführt der Suizidrate. Ich glaube, es ist immer noch um die zwei Prozent, habe ich gelesen. Dieselbe Diskussion war ja mit den Schwangerschaftsabbrüchen. Dort ist eigentlich die liberalste Gesetzgebung die beste Möglichkeit, die Schwangerschaftsabbrüche zu reduzieren. Das heißt, ich glaube, man sollte eigentlich den Menschen auch zumuten können, dass sie diese Verantwortung selbst übernehmen, und sie tun das ja auch.
Scholl: Sie sagten eben, wir sollten lieber das Skandalon des Todes diskutieren. Wie, Ihrer Meinung nach, sollte man es denn diskutieren? Anhand dieses Themas lässt es sich eigentlich ziemlich gut reflektieren, oder?
Bärfuss: Ja, ich glaube im Einzelfall natürlich. Also das würde natürlich bedeuten, dass wir die Diskussion mit Sterbenden suchen und auch den Kontakt mit Sterbenden. Ich halte da nicht so viel von Diskussionen im luftleeren Raum eigentlich. Es würde bedeuten, dass wir die Alten oder die Kranken zu Wort kommen lassen, und das heißt natürlich auch, dass man Zeit braucht und dass man Nähe braucht und dass man einen Austausch braucht. Die Abschiebung dieses Todes in Sterbehospize und in Altersheime und in Krankenhäuser führt natürlich nicht dazu, dass wir eine Diskussion über das Sterben führen. Und ich glaube, dieses Überführen, das gefällt mir auch nicht, sondern die Diskussion mit Sterbenden müsste man führen.
Scholl: Die aktuelle Initiative zur Sterbehilfe in den Niederlanden – das war Lukas Bärfuss, der Schweizer Schriftsteller, der in seinem Theaterstück "Alices Reise in die Schweiz" das Thema verhandelt hat.
Lukas Bärfuss: Guten Tag, Herr Scholl!
Scholl: Sie, Herr Bärfuss, haben 2005 in Ihrem Theaterstück "Alices Reise in die Schweiz" die Thematik aufgegriffen mit dem besonderen Blick auf die Tatsache, dass Menschen zur Sterbehilfe in die Schweiz reisen. Mit welchen Gedanken haben Sie denn auf diese niederländische Initiative nun reagiert?
Bärfuss: Ja, ich glaube, es ist wieder ein Versuch, etwas zu organisieren, was eigentlich gar nicht zu organisieren ist, etwas in einigermaßen vernünftige oder erträgliche Bahnen zu lenken, was ganz und gar unerträglich ist, nämlich der eigene Tod. Und ich glaube auch, dass diese Initiative, diese niederländische, eigentlich auch nur die Kehrseite ist unserer technisierten Medizin. Das heißt, die Menschen sterben einfach nicht mehr so oder immer weniger eines natürlichen Todes. Sie werden immer älter, die Dementkranken werden immer mehr, und da braucht es offensichtlich irgendeine Möglichkeit, einem Leben ein Ende zu bereiten, denn die Medizin ist ja anders gepolt. Die versucht, das Leben zu verlängern bis über die Grenze des Erträglichen hinaus.
Scholl: Wie reizvoll oder wie persönlich abstoßend finden Sie denn dieses Konzept, das also eine Pille für den letzten Willen vorsieht?
Bärfuss: Ja, also abstoßend finde ich das eigentlich nicht, weil ich glaube, ganz grundsätzlich ist man entweder dafür, dass der Mensch ein Recht darauf hat, sein eigenes Ende zu bestimmen, oder man ist dagegen. Was mir nicht gefällt, ist eigentlich, dass dieses Recht nur alten Menschen zustehen sollte. Also entweder man hat dieses Recht oder man hat es nicht, ganz unabhängig vom persönlichen Zustand.
Scholl: Ich meine, das ist natürlich auch ein Problem – wer stellt eigentlich fest, wie alt genug man ist sozusagen, diesen Willen zu äußern. Aber die niederländische Initiative nennt ihre Kampagne auch "vollendetes Leben". Das heißt, das Individuum bestimmt selbst, wann sein Leben als vollendet anzusehen ist. Ich meine, das kann es ja auch im Zustand der Gesundheit durchaus sein, ne?
Bärfuss: Ja, das ist durchaus denkbar. Ich glaube einfach, dass es ganz grundsätzlich ein Problem ist, allgemeine Regeln für diesen Fall zu finden oder irgendein System oder einen Formalismus, denn wir leben ja schließlich nicht alleine. No man is a island – also kein Mensch ist eine Insel. Wir leben in sozialen Verflechtungen und in Abhängigkeiten, und deshalb ist eigentlich der frei bestimmte Entschluss, glaube ich, auch ein bisschen Ideologie. Ich glaube nicht, dass es diesen geben kann, oder jedenfalls sollte es ihn nicht geben, denn letzten Endes könnte dann nur ein vollkommen einsamer Mensch auch diese einsame Entscheidung treffen.
Scholl: Sie haben sich damals in der Diskussion über Ihr Theaterstück, Herr Bärfuss, gegen den Tod als Wellnesserlebnis gewehrt, also dass man diesen Schritt sozusagen im modernen Fitnessgedanken geht, so gepflegt, ausgeglichen und wohlriechend. Wäre das auch so eine Kritik an dieser Idee vom vollendeten Leben?
Bärfuss: Ja, was mich gestört hat und eigentlich immer noch stört, ist, dass man die Frage der Würde hier ins Spiel bringt und dass es sehr oft heißt, dass man in Würde sterben will. Und ich weiß nicht genau, was das denn bedeuten soll. Oder im Ausschluss heißt es denn, wenn man krank ist, da ist man unwürdig, oder wenn man auf Hilfe angewiesen ist, ist das unwürdig. Ich glaube nicht eigentlich. Ich glaube, dass die Organisation oder dieser Versuch, selbst aus dem Sterben eine angenehme Sache oder jedenfalls eine Sache zu machen, die möglichst wenig Schmerz hinterlässt, finde ich ein Gedanke, der mir eigentlich nicht so gefällt. Denn was heißt das letzten Endes? Gibt es dann nicht auch einen Druck der Gesellschaft oder des sozialen Umfeldes, wenn man nicht mehr kann und wirklich krank ist, dann sterben zu müssen. Und deshalb gefällt mir dieser Gedanke des Bequemen eigentlich nicht so. Ich glaube, wir sollten uns mit der Unbequemheit und mit dem Skandalon des Todes auseinandersetzen.
Scholl: Sterben und der freie letzte Wille zum Griff nach der Tablette. Wir sind im Gespräch mit dem Dramatiker Lukas Bärfuss, der ein Theaterstück zum Thema geschrieben hat. Selbstmord, die letzte aller Türen, doch nie hat man an alle geklopft – so hat der Lyriker Reiner Kunze einmal gedichtet. Was hat Sie, Lukas Bärfuss, damals eigentlich gereizt an dem Sujet, als Sie Ihr Theaterstück "Alices Reise in die Schweiz" schrieben?
Bärfuss: Ja, die Menschen, die Menschen, die das tun, also die Menschen, die helfen, oder die Menschen, die aus dem Leben scheiden wollen, und gleichzeitig natürlich auch dieses allgemeine Prinzip oder dieses uralte Thema, diese Frage, die schon bei Seneca und schon viel früher bei Sokrates immer wieder eine große Rolle spielte, also was ist das Leben eigentlich. Ist es ein Geschenk, ist es eine Pflicht und wie beendet man es? Weil das stellt natürlich dann auch die Frage, wie führt man das Leben oder was ist ein glückliches Leben. Und ich glaube, wenn wir damit beginnen, generalisierte Gesetzesartikel zu schreiben, dann wird die Sache unmenschlich, weil ich glaube, jeder Mensch und jedes einzelne Schicksal ist einzigartig. Und wenn wir versuchen, das zu formalisieren, dann wird es sehr schnell unmenschlich.
Scholl: Sie haben jetzt schon große Namen so en passant fallen lassen, Herr Bärfuss. Zu allen Zeiten war der Freitod ein großes Thema der Geistesgeschichte, und das Skandalon des Todes, so haben Sie es vorhin formuliert, hat auch Platon fasziniert, Aristoteles hat sich da geäußert, alle Philosophen eigentlich, bis hin zu Albert Camus, der den Selbstmord als das wesentliche philosophische Problem aufgefasst hat und verworfen, weil nach seiner Meinung das menschliche Leben in einem sinnlosen, absurden Kosmos der einzig tragfähige Wert sei. Dieses Thema hat natürlich diesen ganz großen ethischen Horizont. Was ist denn Ihre Meinung als Intellektueller, gibt es eine menschliche Verpflichtung zum Leben?
Bärfuss: Nein, das glaube ich nicht. Also ich weiß nicht, wer diese Verpflichtung aussprechen könnte. Ich glaube aber auch, im Gegensatz gibt es kein Verbot, sich umzubringen, und ich weiß auch nicht, wo die Instanz sein könnte, die dieses Verbot aussprechen könnte. Ich glaube, diese Diskussion ist natürlich in einer säkularisierten Welt, in einer Welt ohne Gott immer auch eine Frage an das einzelne Individuum und deshalb auch so eine unglaubliche Überforderung, einfach weil uns die Instanz fehlt, an die wir unsere Entscheidung delegieren können.
Scholl: Ich meine, Immanuel Kant hat ja in seiner "Metaphysik der Sitten" ja ein gewissermaßen einen kategorischen Imperativ zum Leben formuliert. Der Mensch hat – jetzt ganz verkürzt – verdammt noch mal die Pflicht, sich dieser Verantwortung zu stellen. Also dieser Konflikt, so öffentliche Moral versus persönliche Ethik, da gibt es überhaupt keine Lösung dafür, oder?
Bärfuss: Ja, das glaube ich auch, aber bei Kant würde ich jetzt mal schätzen, war die Lebenserwartung wahrscheinlich etwas über 50, und die Möglichkeiten, zu Tode zu kommen, waren sehr groß. Und wenn jemand alt wurde, war das eigentlich schon etwas Besonderes. Das heißt, unsere Voraussetzungen oder die Voraussetzungen, die die moderne Medizin geschaffen hat, lässt sich einfach, glaube ich, auch nicht mit einem doch sehr klugen Satz von Kant erledigen.
Scholl: Ich meine, zurückgewendet auf die Initiative in den Niederlanden, was würde es denn gesellschaftlich bedeuten Ihrer Einschätzung nach, wenn es wirklich so eine Letzte-Wille-Pille gäbe?
Bärfuss: Ja, ich weiß nicht, ob das sehr viel ändern würde, weil man weiß ja auch, dass dieser Gesetzesartikel in den Niederlanden die Möglichkeit zur Euthanasie gibt, allerdings nur den Ärzten – das finde ich auch problematisch. Es sind dort die Ärzte, die entscheiden, ob jemand jetzt unter diesen Gesetzesartikel fällt oder nicht. Die haben zu überhaupt keiner Zunahme geführt der Suizidrate. Ich glaube, es ist immer noch um die zwei Prozent, habe ich gelesen. Dieselbe Diskussion war ja mit den Schwangerschaftsabbrüchen. Dort ist eigentlich die liberalste Gesetzgebung die beste Möglichkeit, die Schwangerschaftsabbrüche zu reduzieren. Das heißt, ich glaube, man sollte eigentlich den Menschen auch zumuten können, dass sie diese Verantwortung selbst übernehmen, und sie tun das ja auch.
Scholl: Sie sagten eben, wir sollten lieber das Skandalon des Todes diskutieren. Wie, Ihrer Meinung nach, sollte man es denn diskutieren? Anhand dieses Themas lässt es sich eigentlich ziemlich gut reflektieren, oder?
Bärfuss: Ja, ich glaube im Einzelfall natürlich. Also das würde natürlich bedeuten, dass wir die Diskussion mit Sterbenden suchen und auch den Kontakt mit Sterbenden. Ich halte da nicht so viel von Diskussionen im luftleeren Raum eigentlich. Es würde bedeuten, dass wir die Alten oder die Kranken zu Wort kommen lassen, und das heißt natürlich auch, dass man Zeit braucht und dass man Nähe braucht und dass man einen Austausch braucht. Die Abschiebung dieses Todes in Sterbehospize und in Altersheime und in Krankenhäuser führt natürlich nicht dazu, dass wir eine Diskussion über das Sterben führen. Und ich glaube, dieses Überführen, das gefällt mir auch nicht, sondern die Diskussion mit Sterbenden müsste man führen.
Scholl: Die aktuelle Initiative zur Sterbehilfe in den Niederlanden – das war Lukas Bärfuss, der Schweizer Schriftsteller, der in seinem Theaterstück "Alices Reise in die Schweiz" das Thema verhandelt hat.