"Das sind sehr persönliche Entscheidungen"
Der frühere SPD-Chef Franz Müntefering hat begrüßt, dass es bei einer Bundestagsabstimmung Sterbehilfe keine Fraktionsdisziplin geben soll. Zugleich sprach er sich vor der Parlamentsdebatte gegen eine Ausweitung der bestehenden Regelungen aus.
"Die Regelung, die wir heute haben, ist gut", sagte Müntefering im Deutschlandradio Kultur mit Blick auf die Beratungen zur Sterbehilfe im Bundestag. Aus heutiger Sicht solle man daher besser keine "weitergehenden Dinge" eröffnen. Die Möglichkeit einer Beihilfe zur Selbsttötung bei begrenzter Lebenserwartung hält der SPD-Politiker für problematisch: "Jetzt ist die Frage: Was ist das? Sind das drei Tage oder sind das drei Jahre? Ist die Diagnose auf Eierstock-Krebs eine begrenzte Lebenserwartung, ist Demenz eine begrenzte Lebenserwartung?" Je tiefer man sich in die Thematik begebe, zeige sich: "Es sind lauter individuelle Fälle."
Dass die Politik über Sterbehilfe diskutiert, stört den ehemaligen Vizekanzler nicht. Es sei sogar gut, dass es die Debatte gebe. Aber: "Ich glaube, dass wir nie aus den Augen verlieren dürfen, jeder Mensch ist ein Unikat, jedes Leben und jedes Sterben ist ein Unikat. Und ich halte es für schwer, für fast unmöglich, Kategorien zu bilden, wo Abgeordnete, wo der Gesetzgeber beschließt 'Wenn folgender Tatbestand eingetreten ist, dann darf jemand sterben, wenn der nicht eingetreten ist, dann darf er nicht sterben'. Das sind Kategorisierungen, die ganz schwierig sind."
Er, Müntefering, verweise auch noch einmal auf das, was Hospize und Palliativmedizin leisten könnten: "Es geht nicht nur um Schmerzen, es geht auch um Not. Und Hospiz bedeutet Zeit haben, die Menschen an die Hand nehmen zu können und bei ihnen zu sein." Auch die Palliativmedizin könne "vieles, vieles" leisten. An dieser Stelle müssten die Menschen allerdings auch ihre Selbstbestimmung in die Hand nehmen und "mit Patientenverfügung klären, wie weit sie eigentlich gehen wollen – ob man lebensverlängernde Maßnahmen auf jeden Fall will oder nicht."
Das Interview im Wortlaut:
Korbinian Frenzel: In einer guten Stunde wird der Bundestag zusammenkommen und wird dann eine Frage diskutieren, deren Tragweite nicht zu vergleichen ist mit dem, was im Reichstag an Novellen und Verordnungen sonst so ansteht, die Frage nämlich, ob Menschen geholfen werden darf zu sterben, und wenn ja, unter welchen Bedingungen. Mein Gesprächsgast Franz Müntefering lehnt jegliche Form der Liberalisierung klar ab, wir reden gleich miteinander, auch über die Frage, wie schwierig es ist für Politiker, ethische Fragen dieser Größenordnung zu beantworten.
Beitrag
... Renate Künst, eine der Politikerinnen, die im Bundestag eine Entscheidung treffen wird über die wahrscheinlich größte Frage des Lebens, die des Todes. Franz Müntefering weiß, was politische Verantwortung ist, ehemals Vizekanzler, SPD-Chef, Minister in Land und Bund und heute jemand, der gerade bei diesem Thema engagiert öffentlich mitstreitet. Guten Morgen, Herr Müntefering!
Franz Müntefering: Guten Morgen, Herr Frenzel, ich grüße Sie!
Frenzel: Wie ist es für einen Politiker, wenn er über so schwierige ethische Fragen entscheiden muss?
Müntefering: Das sind sehr persönliche Entscheidungen, und das ist ja auch gut, dass der Bundestag gesagt hat, das ist nicht eine Sache von Parteitagen und von Fraktionsabgrenzungen, sondern da muss jeder einzelne Abgeordnete, jede einzelne ihren Weg finden und das nach bestem Wissen und Gewissen beantworten. Die Entscheidung geht um Leben und Tod und das ist eine schwierige, eine schwere Entscheidung, eine ethisch hoch anspruchsvolle.
Frenzel: Hatten Sie in Ihrer politischen Laufbahn Situationen, die Sie vergleichen würden, wo es Ihnen richtig schwer gefallen ist, eine Entscheidung zu treffen?
Müntefering: Ja klar, wir haben über Patientenverfügung gesprochen, darauf komme ich gleich noch mal, das ist ja schon eine Antwort gewesen in diesem ganzen Kontext. Aber große Entscheidungen auch, was internationalen Einsatz von Militär angeht, das waren natürlich immer solche Entscheidungen, wo es um wirklich wichtige Dinge gegangen ist.
Frenzel: Sie sind ein erklärter Gegner der Sterbehilfe. Würden Sie ...
Müntefering: Darf ich mal unterbrechen, ich bin nicht Gegner der Sterbehilfe, sondern ich bin für Sterbehilfe, dafür, dass man den 870.000, die im Jahr ungefähr sterben, hilft. Aber dass man nicht Selbsttötung Sterbehilfe nennt, das ist einer der Unterschiede in der Diskussion.
Frenzel: Wenn Sie diese Hilfe, die Sie so bezeichnen, wenn Sie die sehen, halten Sie es dann für anmaßend vonseiten der Politik, dass sie überhaupt darüber diskutiert? Darf Politik das, darüber zu diskutieren, wie man Menschen quasi beim Sich-selbst-Töten hilft?
Definition von begrenzter Lebenserwartung ist problematisch
Müntefering: Ja, natürlich, da darf sie drüber diskutieren, das muss sie auch sogar und das ist gut, dass es die Debatte gibt. Aber ich glaube, dass wir nie aus den Augen verlieren dürfen: Jeder Mensch ist ein Unikat, jedes Leben und jedes Sterben ist ein Unikat. Und ich halte es für schwer, für fast unmöglich, Kategorien zu bilden, wo Abgeordnete, wo der Gesetzgeber beschließt, wenn folgender Tatbestand eingetreten ist, dann darf jemand sterben, wenn er nicht eingetreten ist, dann darf er nicht sterben. Das sind Kategorisierungen, die ganz schwierig sind, und das zeigt sich auch in den Vorschlägen, die bisher da sind. Das halte ich für eigentlich nicht denkbar.
Es geht immer um den einzelnen konkreten Fall und den müssen wir so weit, so weit, so weit es geht über hospizliche und palliative Versorgung – und da sind wir in den letzten 30 Jahren ein gutes Stück vorangekommen, es ist ja nicht so, als ob wir das verschlafen hätten die vergangene Zeit –, und wir müssen über Patientenverfügung, von der Selbstbestimmung des Sterbenden her versuchen, das in den Griff zu bekommen. Und in den allerallermeisten Fällen ist das auch möglich und da müssen wir noch besser werden.
Frenzel: Der Freitod von Udo Reiter, dem früheren MDR-Intendanten, der hat ja diese Debatte noch einmal verstärkt. Und ich habe den Eindruck, es gab in seinem Fall, aber auch in vielen anderen Fällen eine sehr breite Unterstützung für diesen Gedanken, es jedem erstens selbst zu überlassen, wann er geht, und das schließt im zweiten Gedanken häufig ein, es zu ermöglichen, anderen beim Sterben zu helfen. Wir sehen, wie viel Schwierigkeiten Ärzte haben, das wirklich zu tun, weil sie sich auf einer unsicheren Grundlage bewegen. Muss Politik da nicht helfen, muss Politik da nicht Wege schaffen?
Hospize und Palliativmedizin können viel leisten
Müntefering: Ja, nun muss man aber sehen: Das, was Udo Reiter bei allem Respekt vor ihm gefordert hat, das ist eine Selbstbestimmung total, eine begründungsfreie Selbstbestimmung, die jederzeit das Recht hat, das eigene Leben zu beenden, die das nicht abhängig macht von bestimmten Situationen, nicht von Krankheiten, nicht von nahem Tod, sondern das ist die totale Öffnung. Und ich finde eigentlich schon ganz gut, dass der Bundestag, soweit ich das jetzt im Moment überblicken kann, keine Gruppe hat, die wirklich für die geschäftsmäßige und gewerbsmäßige Tötungsmöglichkeit ist, im Gegenteil, dass der Bundestag sich offensichtlich gegen Vereine stellt, wie es das in Nachbarländern gibt. Das ist schon mal eine wichtige Feststellung und das sollte man auf jeden Fall machen.
Dann kommt die schwere Frage, die Sie angesprochen haben, was ist in jedem Einzelfall, wie weit kann man eigentlich gehen. Und da verweise ich noch mal auf das, was Hospiz leisten kann und Palliativ: Es geht nicht nur um Schmerzen, es geht auch um Not. Und Hospiz bedeutet Zeit haben, die Menschen an die Hand nehmen zu können und bei ihnen zu sein. Und die Palliativmedizin kann einschließlich der palliativen Sedierung vieles, vieles leisten. Und da müssen aber die Menschen auch ihre Selbstbestimmung selbst in Anspruch nehmen und müssen auch mit Patientenverfügung klären, wie weit sie eigentlich gehen wollen. Ob man lebensverlängernde Maßnahmen auf jeden Fall will oder nicht oder ob man sie abbrechen lassen darf und will oder ob man noch eine weitere Operation will, ja oder nein. Also, das dürfen wir weder dem Gesetzgeber noch den Ärzten hinschieben, wir müssen als Menschen auch selbst unsere Meinung da deutlich erkennbar machen.
Frenzel: Sie haben die Nachbarländer angesprochen, die Schweiz zum Beispiel, die diese Form der Sterbehilfe, der Unterstützung des Sterbens ja erlaubt. Haben Sie den Eindruck, dass sich dort das Verhältnis zum Tod dadurch verändert? Was ist da Ihre Befürchtung?
Müntefering: Da bin ich nicht nahe genug dabei, um das zu beurteilen zu können. Jedenfalls, das, was sich dort jetzt abzeichnet, da, wo man jetzt einen Lebensbilanzsuizid inzwischen fordert, das heißt, wenn ein bestimmtes Alter erreicht ist, dann soll dort diese Hilfe möglich sein, das zeigt schon die Schwierigkeit. In den Niederlanden geht es auch um Eingriffsmöglichkeiten da, wo der Betreffende selbst gar nicht mehr entscheiden kann. Das sind alles Ausbuchtungen, die entstehen. Und meine Sorge ist, wenn man einmal die Tür öffnet, dann wird es ganz schwer, da reinzukommen.
Das, was jetzt vorliegt von Hintze und Lauterbach und anderen, sagt ja, wenn eine begrenzte Lebenserwartung nur noch da ist, dann soll es möglich sein. Jetzt ist die Frage, was ist das, sind das drei Tage oder sind das drei Jahre? Ist die Diagnose auf Eierstockkrebs eine begrenzte Lebenserwartung? Ist Demenz eine begrenzte Lebenserwartung? Ist die Drohung von jemand, der mir sagt, wenn du mir das nicht gibst, dann werde ich mich umbringen, ist das eine begrenzte Lebenserwartung? Und deshalb zeigt sich, je tiefer man sich da reinbewegt, es sind lauter individuelle Fälle. Und die Regelung, die wir heute haben, ist gut, die Ärzte sollten sich verständigen darauf, dass diese unsinnige Unterscheidung zwischen Nord und Süd in Deutschland insgesamt da zu Ende geht, und dann aus heutiger Sicht der Dinge sollten wir keine weiteren Dinge eröffnen.
Frenzel: Franz Müntefering, ich danke Ihnen herzlich für das Gespräch!
Müntefering: Ja, bitte schön!
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.