Sterbehilfe

Eine Todespille würde die Gesellschaft umwälzen

Moderation: Ulrike Timm |
Mit Sterbehilfegesetzen werden die schlechten pflegerischen Bedingungen in Deutschland nicht bewältigt, meint Oliver Tolmein. Der Jurist befürchtet, dass damit ein menschenverachtendes Signal ausgesendet wird. Sterbehilfe könnte zu einer Behandlungsvariante pervertieren.
Ulrike Timm: Es hängt immer ein ganzes Leben dran, an der Debatte um den menschenwürdigen Tod. Und deshalb wird jedes Gespräch um die Sterbehilfe so schnell persönlich und zugleich allgemein. Jeder Mensch, dessen Leben zu Ende geht, hat Anspruch auf passive Sterbehilfe, auf genug Morphium gegen die Schmerzen, auch wenn es das Leben verkürzt, niemand soll frieren, schwitzen, Angst haben, wenn es zu Ende geht, und jeder Palliativmediziner weiß: Menschen hängen am Leben, auch wenn sie vielleicht vor Jahren eine Patientenverfügung verfasst haben und genau zu wissen meinten, was sie wollen, wenn es so weit ist. Genauso gibt es Menschen, die eine aktive Sterbehilfe befürworten, im Extremfall sogar eine Todespille im Fall von Lebenssattheit. Der frühere MDR-Intendant Udo Reiter forderte das. Und zwischen all diesen ethischen und sehr persönlichen Fragen müssen Politiker auch noch rechtliche Regelungen finden, eine schwierige Aufgabe, die derzeit wieder sehr in der Diskussion steht! Wie zu einem guten Ende kommen und wie das verbindlich machen? Darüber wollen wir sprechen mit dem Medizinrechtler Oliver Tolmein, schönen guten Tag!
Oliver Tolmein: Guten Tag!
Timm: Das war ja ein Paukenschlag in der Diskussion, als Udo Reiter in einer Talkshow verlangte, sogenannte lebenssatte Menschen müssten ein Recht auf eine Todespille haben als Teil ihrer Selbstbestimmung. Mir persönlich wurde eiskalt, wie sehen Sie das?
Tolmein: Nun, eiskalt wird mir in dieser Debatte schon lange nicht mehr, aber ich hatte den Eindruck, dass Herr Reiter mit seinem meinungsstarken Vorschlag sich über die Konsequenzen vor lauter Sucht nach Selbstbestimmung keine rechte Vorstellung gemacht hat. Wenn in einer Gesellschaft wie unserer, in der Behinderung, in der Einschränkungen, wenn man jetzt nicht gerade MDR-Intendant ist sondern möglicherweise jemand mit einer Mehrfachbehinderung, der keinen Beruf ergreifen kann, sowieso am unteren Ende sich befindet und als Belastung empfunden wird, wenn dort sozusagen die freie Wahl gegeben wird zwischen einem elenden Leben, und zwar einem sozial elenden Leben, weil keine Teilhabe stattfinden kann, und einer Todespille, dann, befürchte ich, wird das die sozialen Verhältnisse in unserem Lande umwälzen auf ganz ungute Art und Weise.
"Wer darf sich noch sein Leben selbst für wert halten?"
Timm: Verstehe ich Sie recht, Sie meinen, dass es dann so einen inneren Aufforderungscharakter geben könnte an ganz alte Menschen, du bist nichts mehr nütze, bring dich um? Ich formuliere es extrem! Oder auch an Menschen, die aus irgendeinem Grunde glauben, na ja, sie können zur Gesellschaft nicht beitragen, dass man dann ganz schnell bei einer Debatte ist, wer ist es wert und wer nicht?
Tolmein: Ja, oder wer darf sich noch sein Leben selbst für wert halten? Wir haben ja eine Diskussion, in der immer gesagt wird, es schreibt ja nicht der Staat irgendwas vor, es schreibt ja nicht die Gesellschaft irgendwas vor, alle sagen, es geht mir ja nur um mich. Aber ich meine, es werden Signale ausgesendet. Und im Augenblick haben wir noch eine Gesellschaft, die das Signal aussendet, wir wollen, dass alle dazugehören, wir wollen, dass alle teilhaben am Leben der Gesellschaft, wir wollen eben die Lebenserhaltung nicht zu einer Behandlungsvariante machen und die andere Behandlungsvariante ist die Lebensbeendigung und uns ist letztlich egal, wofür sich jemand entscheidet, sondern wir sagen, wir wollen eigentlich, dass die Menschen leben. Wenn wir hier zu einer generellen Lösung kommen, die sagt, Gott, ob du lebst oder stirbst, ist uns letztlich egal, für dein Leben kriegst du aber auch nicht besonders viel Geld, da bekommst du nicht besonders viel Pflegeassistenz, da sind die Verhältnisse so schlecht, wie sie in unserer Gesellschaft in diesem Bereich häufig sind, dann ist das ein anderes Signal. Und das Signal heißt, eigentlich legen wir auf dein Leben keinen großen Wert, und wenn du es selber unbedingt leben willst, lebe es halt, aber du kannst es eigentlich auch sein lassen!
Timm: Nun gibt es ja Länder, die anders verfahren, Belgien hat die aktive Sterbehilfe jetzt auf Kinder und Jugendliche ausgeweitet, Frankreichs Präsident will sich dafür stark machen. Ich überlege immer: Die Rolle von Ärzten, die würde sich ja sehr stark verändern, wenn man aktive Sterbehilfe zulässt. Wie genau?
Tolmein: Die Rolle von Ärzten verändert sich, wenn man aktive Sterbehilfe zulässt, sie verändert sich auch, wenn man die ärztliche Suizidbeihilfe sozusagen zu einem medizinischen Normalfall macht, weil Ärzte dann nicht mehr jemand sind, eine Gruppe von Menschen sind, zu denen man geht, wenn man behandelt werden möchte, wenn man weiterleben möchte, geheilt werden möchte, wenn man möchte, dass das Leben im Rahmen dessen, was möglich ist, verbessert wird, sondern sie sind dann eben eine Gruppe, zu der man auch gehen kann unter der Prämisse, na, dann möchte ich es eben nicht mehr, dann möchte ich möglichst effizient, schnell und schmerzlos sterben. Und so eine Profigruppe, die eine solche Leistung anbietet, die haben wir in unserer Gesellschaft bislang nicht und die kann das Leben in einer Gesellschaft eben ganz schnell verändern. Dass das in Belgien und in den Niederlanden im Augenblick so ist, das stimmt einen bedenklich, vor allen Dingen in Belgien, wenn man sich anschaut, was für Menschen und Menschengruppen dort mittlerweile alles Suizid und Tötung auf Verlangen nachfragen. Ich erinnere hier nur an die gehörlosen Zwillingsbrüder, die drohten zu erblinden und die dann eben zum Arzt gegangen sind, um sich töten zu lassen. Da ging es einfach nur noch um zwar schwere Form, aber von Behinderung. Da ging es nicht um Schmerzen und um so was alles, sondern da ging es darum, dass Leute gesagt haben, ich habe eine Behinderung, die ertrage ich nicht mehr. Und zwar Menschen, die auch – das wurde in den Berichten ja deutlich – in ihrer Gesellschaft nicht besonders viel angeboten bekommen haben, um ihr Leben verbessern zu können. Und ich glaube, da kommen wir tatsächlich in Schieflagen, die gesellschaftlich nicht gewünscht sein können, die letzten Endes auch mit Selbstbestimmungsrecht nichts mehr zu tun haben. Denn Selbstbestimmungsrecht setzt ja auch voraus, dass man Wahlmöglichkeiten hat, dass man sagen kann, ich möchte dieses oder jenes. Und nicht, dass einem letzten Endes nur ein Notausgang geboten wird, eine Exit-Strategie, wie es neuerdings ja so schön heißt.
Pflegerische Probleme "in ganz gravierendem Maße"
Timm: Wir sprechen mit dem Medizinrechtler Oliver Tolmein über die Spannung von ethischen und rechtlichen Fragen der Sterbehilfe. Herr Tolmein, ob sie ein ganz weiter weggehen von der Muschel Ihres Telefons, dann klingen Sie für uns besser! Und eines, Herr Tolmein, verstehe ich immer nicht und vielleicht verstehen es viele mit mir nicht, wenn es um die gesetzlichen Grundlagen dieses ja sehr sensiblen Themas geht: Tötung auf Verlangen ist in Deutschland strikt verboten, damit auch de facto jegliche Form kommerzieller Sterbehilfe, die manche als wirklichen Horror ja heraufbeschwören, passive Sterbehilfe ist tägliche Praxis bis hin zu einer Grauzone zum assistierten Suizid, der man mit Gesetzen wohl auch nicht mehr richtig beikommt. Brauchen wir in Deutschland überhaupt noch mehr gesetzliche Regelungen, als wir haben?
Tolmein: Das ist die Frage. Also, die rechtliche Lage ist im Augenblick in Deutschland dadurch geprägt, dass eigentlich ganz schön viel erlaubt ist, insbesondere – das ist besonders wichtig – ist erlaubt, dass medizinische Behandlungen in jedem Stadium abgebrochen werden können oder gar nicht erst aufgenommen werden müssen, wenn Menschen, wenn die Patienten das nicht wollen oder das mutmaßlich nicht wollen. Das heißt also, eine Lebenspflicht oder Behandlungspflicht gibt es in Deutschland überhaupt gar nicht und auch der Suizid ist nicht verboten, sondern die Tötung auf Verlangen, wie Sie richtig gesagt haben. Und selbst die ist privilegiert. Also, wenn ich jemanden auf Verlangen töte, bekomme ich dafür eine deutlich geringere Strafe, als wenn ich sonst jemanden töte. Neue Gesetze im Bereich der Sterbehilfe, das kann man überlegen, da gibt es gute Gründe für, die organisierte Suizidbeihilfe, die also so tut, als ob Suizid ein Angebot wäre wie alle möglichen sonst organisiert angebotenen Hilfeleistungen auch, dass man das gesellschaftlich nicht möchte, finde ich eine plausible Sache. Es gibt viele europäische Länder, in denen das untersagt ist. Meines Erachtens ist es allerdings auch kein vorrangiges Ziel. Meines Erachtens ist es sehr viel wichtiger, dass die Bedingungen, unter denen Menschen sterben, dass die verbessert werden. Und das ist sehr viel mehr eine Frage für das sozialrechtliche und krankenversicherungsrechtliche Leistungssystem. Also die Frage, was macht eigentlich eine Familie mit einem dementen Menschen, der noch wach genug ist, um sich Windeln auszuziehen, der aber es nicht mehr schafft, aufs Klo zu gelangen, der sich in seiner Wohnung und in seinem Bett ständig einkotet, was eine Familie überfordert auf Dauer. Die findet aber auch nicht schnell einen ambulanten Pflegedienst, weil es nicht genug ambulante Pflegedienste gibt, die Rund-um-die-Uhr-Versorgungen machen können, der muss also ins Heim. Im Heim wird er, damit er dort das nicht auch macht, möglicherweise fixiert. Das sind pflegerische Probleme, die haben wir in ganz gravierendem Maße. Und dem kommt man mit einem Gesetz gegen organisierte Suizidbeihilfe nicht bei, dem kommt man auch mit sonstigen Sterbehilfegesetzen nicht bei, aber das sind Situationen, die viele Familien zur Verzweiflung treiben. Und ich glaube, da müssen wir einfach ganz klar die pflegerischen Bedingungen, die Angebote für Pflege erheblich attraktiver machen und erheblich besser ausbauen. Das würde der ganzen Debatte jedenfalls einen Antriebsmotor nehmen. Es geht nicht nur, wie wir in der Diskussion zurzeit immer wieder hören, darum, die Palliativmedizin auszubauen, das ist auch ein wichtiger Punkt, es geht auch um die ganz normale Pflege, die Leute in der letzten Phase ihres Lebens – und die kann Jahre dauern –, die sie brauchen, um würdig weiterleben und dann auch würdig sterben zu können.
Timm: Meint der Medizinrechtler Oliver Tolmein. Herzlichen Dank fürs Gespräch, Herr Tolmein!
Tolmein: Sehr gerne, Wiederhören!
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