Jean-Pierre Wils: "Sich den Tod geben: Suizid - Eine letzte Emanzipation?
S. Hirzel Verlag, 2021
208 Seiten, 24 Euro
Wird Deutschland zur "Avantgarde" in der Suizidfrage?
10:04 Minuten
Deutschland könnte bald liberalere Gesetzesregelungen zur Sterbehilfe haben als die Niederlande, so der Philosoph und Ehtiker Jean-Pierre Wils. Etliche Vorschläge sieht er kritisch. Der Suizid dürfe keine "normalisierte Option" für das Ende werden.
Im vergangenen Jahr entschied das Bundesverfassungsgerichts zur Sterbehilfe: Das geltende Verbot der geschäftsmäßigen Hilfe beim Suizid ist verfassungswidrig – jeder Mensch habe ein Recht auf selbstbestimmtes Sterben. Seither gab es von verschiedenen Seiten im Bundestag Gesetzesentwürfe zur Regelung der Sterbehilfe.
Im Extremfall wäre demnach nicht mehr zwingend die Beratung durch einen Arzt nötig, um zu klären, ob der oder die Betroffene tatsächlich aus freiem Willen in den Tod gehen möchte. Lediglich ein sachliches Beratungsgespräch wäre dann noch notwendig.
Ein Vorschlag sieht vor, Familienangehörige des Suizidwilligen an der Anhörung teilnehmen zu lassen. Auch würden medizinische Kriterien wie etwa eine schwere, unheilbare Krankheit keine Rolle mehr spielen. Derzeit befasst sich der Deutsche Ärztetag mit dem Thema.
Bedenkliche Vorschläge
Mit diesen Überlegungen für eine gesetzliche Neuregelung überhole Deutschland sogar "die liberalsten und radikalsten Regelungen, die es Niederlande gibt", sagt Jean-Pierre Wils, Professor für philosophische Ethik und Kulturphilosophie an der niederländischen Radboud-Universität Nimwegen. "Das Urteil des Bundesverfassungsgerichts hat Deutschland in eine, fast könnte man sagen, Avantgarde der Suizidfrage katapultiert."
Wils, der mehrere Bücher zum Thema Tod und Sterben geschrieben hat, bezeichnet seine eigene Haltung zur Sterbehilfe als liberal. Doch er findet es bedenklich, wenn keine anderen Kriterien als der bloße Wille zu sterben Beachtung fänden – oder wenn eine beratende Begleitung durch einen Arzt nicht vorgesehen wäre.
"Das bereitet mir Bauchschmerzen"
Auch bereitet ihm die Idee Unbehagen, dass Familienangehörige des zum Suizid Entschlossenen am Beratungsgespräch teilnehmen. Denn das Gespräch solle ja "rein informativen" Zwecken dienen. "Stellen Sie sich vor, Ihr Bruder sitzt in einem solchen Gremium. Wie soll der in der Lage sein, vollkommen neutral und informationsfixiert, ohne in irgendeiner Weise Ihre Entscheidung zu bewerten, am Gespräch beteiligt sein? Das bereitet mir Bauchschmerzen."
Wils befürchtet, der Suizid könnte früher oder später zu "einer normalisierten Option" für das eigene Ende werden. Er warnt: "Dem sollten wir aus dem Wege gehen."
(mkn)