Sterben ist zumutbar!

Von Martin Ahrends · 06.07.2012
Sterben ist uns zumutbar, sowohl das eigene als das unserer Mitmenschen. Weil sich diese Einsicht allmählich durchsetzt, wächst die Zahl der Hospize, in denen alles Nötige für Sterbende getan werden kann. Doch in der direkten Nachbarschaft sind Sterbehäuser oft unerwünscht - wie in Hamburg-Langebeck.
Die Hansestadt Hamburg ist berühmt für die soziale Separation ihrer Wohnviertel, darin aber kein Einzelfall. Und hier geht es auch um etwas anderes: um menschliche Unreife, um Ignoranz, wo Empathie und Respekt gefordert wären. Es geht um eine fehlende Kultur des Sterbens, genauer: um die Verdrängung all dessen, was uns ans Sterben erinnert. Sterben ist in unserer Gegenwart so etwas wie ermordet werden, etwas grausames, brutales, zumindest unnatürliches, etwas, das den Menschen wie ein schwerer Schicksalsschlag trifft, wider alle Erwartung und auch im hohen Alter immer noch viel zu früh.

Einen sterbenden Angehörigen zu besuchen wird als Zumutung empfunden, die viele Besucher "völlig überfordert". So erleben es die Mitarbeiter von Hospizen immer wieder: Wenn der Sterbende sich längst in seine Lage gefunden hat, wird sie von den Angehörigen hartnäckig geleugnet, sie wollen auch als Besucher im Hospiz vom Sterben nichts hören. Wenn sie die Sterbenden mit ihrem falschen Optimismus und ihren Gesundbetereien behelligen und die Pfleger beschwören, alles für die vielleicht doch noch mögliche Genesung zu unternehmen, machen sie sich bei allem guten Willen doch nur lächerlich.

"Es darf doch nicht sein, es kann doch nicht sein", hören die Hospizmitarbeiter immer wieder. Natürlich darf gestorben werden, was sollte daran verboten sein. Doch man empfindet es als unzumutbar.

Bei allem Verständnis – wie viel Unreife offenbart sich in unserem Umgang mit dem Lebensende. Als wäre es eine Katastrophe, als wäre es nicht zu erwarten, dass Menschen sterben müssen. Dabei weiß im Prinzip natürlich jeder, dass der Mensch sterblich ist. Aber jetzt? Unvorstellbar!

Diese verdrängende Haltung haben wir längst institutionalisiert: Gestorben wird nicht mehr im alltäglichen Leben, sondern in davon abgeschlossenen Räumen, in Altenheimen, häufiger noch in Krankenhäusern, die Kranke kurieren sollen und gar nicht dazu geschaffen sind, Sterbende in den Tod zu begleiten. Sterben ist keine Krankheit und nichts, das man mit allen Mitteln der modernen Medizin künstlich hinauszögern sollte. Weil sich diese Einsicht allmählich durchsetzt, wächst die Zahl der Hospize, in denen alles Nötige für Sterbende getan werden kann. Eine erfreuliche Entwicklung; allerdings haben es die Sterbehäuser dann in ihrem Umfeld mit genau der verdrängenden Haltung zu tun, die sie als Institution überwunden haben.

Hospize sind gelebte Akzeptanz und haben es schwer in einem Umfeld von gelebtem Selbstbetrug. Ihre sichtbare Existenz in der Nachbarschaft löst immer noch den Reflex des nichts davon wissen Wollens aus. Ganz offenbar mangelt es uns an menschlicher Größe angesichts des Todes. Tatsächlich hat er ja vieles von seinem Schrecken verloren, den er durch Kriege und Seuchen immer hatte. Doch gerade heute zeigen wir uns ihm kaum gewachsen. Wir verbannen ihn aus unserem Alltag und haben so erst recht keine Chance, uns an ihn zu gewöhnen, bevor er uns oder die Unseren dann "plötzlich und unerwartet" heimsucht.

In Ländern wie Indien sind sterbende Menschen ein alltäglicher Anblick. Ihre Verelendung in der Öffentlichkeit ist gewiss nicht nachahmenswert, aber dass in unserer Nachbarschaft gestorben wird, und zwar in eigens dafür geschaffenen Einrichtungen, mit aller denkbaren medizinischen und seelsorglichen Unterstützung, das sollte doch zumutbar sein. Das Leben mutet uns sein Ende zu. Aber den Mut gibt es nicht umsonst, den müssen wir selbst aufbringen.

Sterben ist uns zumutbar, sowohl das eigene als das unserer Mitmenschen. Auch den Eigenheimbesitzern von Hamburg-Langenbeck ist es zumutbar, dass in ihrer Nachbarschaft auf das voraussehbare Ende hin gelebt wird. Je eher sie das begreifen, desto besser für sie, denn sterben müssen sie am Ende auch.


Martin Ahrends, Autor und Publizist, geboren 1951 in Berlin. Studium der Musik, Philosophie und Theaterregie. Anfang der 80er Jahre politisch motiviertes Arbeitsverbot in der DDR. 1984 Ausreise aus der DDR. Redakteur bei der Wochenzeitung Die Zeit und seit 1996 freier Autor und Publizist.




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