Sterben, ohne gelebt zu haben
Nigeria, das bevölkerungsreichste Land Afrikas, kann die Hölle sein für Frauen, die ein Kind bekommen. Jahr für Jahr sterben geschätzte 60.000 nigerianische Frauen infolge einer Schwangerschaft, prozentual die meisten im wirtschaftlich rückständigen Norden.
Dort gelten vielerorts soziale Normen, die Frauen anhalten, Schwangerschaft und Entbindung möglichst aus eigener Kraft, ohne jede Unterstützung zu bewältigen. Inzwischen gibt es aber eine Reihe von Initiativen, die schwangeren Frauen Hilfestellung leisten.
Abdel Lahi: "Die Wehen begannen abends um sechs. Als ich um elf Uhr nachts dann Krämpfe bekam und fast bewusstlos wurde, brachte mich mein Mann ins Distriktskrankenhaus. Dort hängten Sie mich an eine Infusion, aber das Kind kam nicht - bis es am nächsten Abend zwei Hebammen tot aus mir herausdrückten. 15 Tage nach der Entbindung musste ich wieder ins Krankenhaus. Ich konnte mein linkes Bein nicht bewegen; und Urin tropfte aus mir heraus."
Kano, Nord-Nigeria, ein Krankenzimmer im Murtala-Muhammad-Hospital, dem größten Krankenhaus der Stadt. Für Binta Abdel Lahi, eine 22-Jährige, abgezehrt wirkende Frau, die schüchtern ihr grau-blau geblümtes Kopftuch vors Gesicht zieht, wurde die fünfte Schwangerschaft zur Katastrophe.
Weil sie während der Entbindung in einem ländlichen Krankenhaus falsch behandelt wurde, erlitt sie schwere Quetschungen im Dammbereich, infolge derer sie inkontinent wurde. Experten sprechen von einer Scheidenfistel. Wegen des seitdem von ihr ausgehenden Geruchs wurde Binta von ihrem Mann verlassen und zur Außenseiterin in ihrem Dorf. Binta, indes, hat Glück im Unglück: Der Niederländer Kees Waaldijk, ein weltweit anerkannter Fistelchirurg, wird sie in wenigen Tagen operieren.
Rund 800.000 nigerianische Frauen mit einer Fistel haben kein Glück. Sie sehen sich an den Rand der Gesellschaft gedrängt, vegetieren einsam als quasi Aussätzige dahin und sterben in der Regel früh. Die vielleicht wichtigste Ursache der hohen Müttersterblichkeit in Nord-Nigeria wird beispielhaft in einem kleinen Krankenhaus sichtbar: im "Kura General Hospital" westlich der Vier-Millionen-Metropole Kano.
In einem kleinen Raum, wo gelber Putz stockig schwarz von der Wand bröselt, stehen drei Bettgestelle, belegt mit Spanplatten und einer Plastikplane. Auf einer Platte liegt, die leeren Augen halb offen, ein kleiner Junge mit einer Infusion an der Schläfe. Daneben - unter dem einzigen, vergitterten Fenster - erhält ein Mädchen Blut des Vaters, der die Hand des Kindes hält und irritiert auf das dritte Bett schaut, auf dem, in seinem Blut, ein junger Mann liegt, dessen Stirn gespalten scheint, die linke Hand mit Handschellen ans Bett gekettet. Auf Bastmatten am Boden schließlich drei junge Frauen: zwei mit fiebrigen Babies, eine hochschwanger mit schmerzverzerrtem Gesicht.
Das "Kura General Hospital" ist ein Bezirkskrankenhaus, dass nach offiziellen Standards des nigerianischen Gesundheitsministeriums über 75 ordentlich ausgestattete Betten verfügen sollte, über Röntgen- und Ultraschallgerät, einen voll ausgestatteten Operationssaal sowie für mehrere Monate reichende Vorräte an Anästhetika, Infusionen und Medikamenten. Außerdem sollten stets zwei Ärzte verfügbar sein. Tatsächlich herrscht an diesem Mittwochvormittag gähnende Leere im Hospital. Verlegen öffnet Pflegeleiter Abu Bakar Krankensäle, in denen nichts zu sehen ist als Stapel verrosteter Bettgestelle und verschimmelter Matratzen.
In der Medikamentenkammer findet sich nicht eine Tablette, dafür stehen neben dem sperrangelweit geöffneten Kühlschrank allerlei Besen, Schrubber, kaputte Stühle und Kartons voller Unrat. Und das gediegen möblierte Arztzimmer scheint, nach dem Staub auf dem Tisch zu urteilen, länger niemand betreten zu haben. Der Chefarzt habe einen dringenden Termin, sagt Abu Bakar und zuckt mit den Achseln.
Abu Bakar: "”Uns fehlen eine Menge Dinge hier. Unser Material und unser Budget sind so karg bemessen, dass wir damit das Krankenhaus nicht ordentlich betreiben können. Medikamente, Betttücher, Matratzen, Moskitonetze - alles fehlt. Auch Decken brauchen wir und nicht zuletzt einen Krankenwagen.""
Abu Bakars Kollegin Sjia Arabi verweist, gleichfalls verlegen, auf die Eigenverantwortung des Patienten.
Arabi: "”Die Regierung stellt prinzipiell alle Medikamente kostenlos zur Verfügung. Nur, wenn sie alle sind, muss der Patient selbst welche kaufen. Das Gleiche gilt für Spritzen, Infusionen und Verbandsmaterial. Sie müssen diese Dinge halt kaufen, wenn Sie sie brauchen für Ihre Gesundheit.""So wie im ‚Kura General Hospital‘ sieht es in fast allen Krankenhäusern Nigerias aus", sagt in Kano Andrew Karlyn, Vertreter der amerikanischen Hilfsorganisation "Population Council".
Karlyn: "”Die Basisgesundheitsversorgung in Nigeria ist de facto außer Betrieb – vor dem Hintergrund eines rapide wachsenden Bedarfs. Dies erscheint besonders tragisch angesichts der intensiven Bemühungen vor 15, 20 Jahren, als man versuchte, ein rational konzipiertes Gesundheitswesen einzuführen. Im Laufe der Zeit aber ging das Konzept verloren: Die Krankenhäuser zumindest im ländlichen Raum haben heute fast keine Ausrüstung mehr, keine Medikamente, keine Infrastruktur. In vielen Fällen existiert nur noch die leere Hülle eines heruntergekommenen Gebäudes. Und die Patienten strömen jetzt in große städtische Krankenhäuser, die eigentlich schwer zu behandelnden Kranken vorbehalten sind. Die großen Kliniken degenerieren nun zu Zentren der Grundversorgung – was natürlich das ganze System ad absurdum führt."
Die Ursachen der Misere liegen, sagt Karlyn, auf der Hand: Missmanagement und Misswirtschaft in höchstem Maße. Seit Jahren verspricht Nigerias Regierung, die über gewaltige Öleinnahmen verfügt, 15 Prozent ihres Budgets ins staatliche Gesundheitswesen zu stecken; tatsächlich wurden es nie mehr als fünf Prozent. Davon abgesehen ist das Gesundheitswesen, um allerlei politischen Interessen gerecht zu werden, desolat organisiert: Es gibt unterschiedliche, teilweise konkurrierende Systeme auf der Ebene des Bundes, der 36 Bundesstaaten und lokaler Autoritäten.
Im OP des "Murtala-Muhammad Hospitals" in Kano operiert Kees Waaldijk fast täglich Scheidenfisteln - und erbringt dabei immer wieder Meisterleistungen der rekonstruktiven Chirurgie. Heute Morgen, es ist noch nicht einmal halb neun, liegt schon die zweite Frau auf dem Tisch.
Waaldijk: "”Wir haben diese Frau bereits einmal operiert. Infolge einer Scheidenfistel und einer Verletzung am Schließmuskel verlor sie sowohl Urin als auch Stuhl. Jetzt, nachdem die Wunden der ersten Operation verheilt sind, mache ich die Feinarbeit - zunächst am Harnweg und dann am Schließmuskel.""
Der 68-jährige, hoch gewachsene Chirurg setzt sicher und blitzschnell Schnitt um Schnitt, Naht um Naht. Ein assistierender Kollege aus Äthiopien darf kaum einen Handgriff machen. Waaldijk ist Chirurg aus Leidenschaft. In den Siebzigerjahren hat er Minenopfern in Kambodscha Beine amputiert und dann bei Lepraopfern Sehnen verpflanzt. Seit über 25 Jahren aber operiert er ausschließlich Fisteln in Nord-Nigeria; über 20.000 bislang; sieben Tage die Woche an sieben Krankenhäusern.
Bis in den Spätnachmittag operiert er; dann fährt er ins nächste Hospital - 1500 Kilometer pro Woche. Ein Arzt, der offiziell Angestellter der nigerianischen Regierung ist, aber sein Gerät und seine Reisen selbst finanziert; ein Arzt, der den Defiziten in Nigerias Gesundheitswesen begegnet, indem er wie besessen operiert, ab und zu Kollegen ausbildet und ansonsten das Gesundheitswesen ignoriert.
Waaldijk: "”Das ist ein bisschen unerfreulich, dass schon wieder das Licht ausgeht. Aber deshalb haben wir ja den Operationstisch am Fenster aufgestellt. Glauben Sie bloß nicht, dass wir wegen eines Stromausfalls unsere Arbeit unterbrechen. Wir machen einfach weiter. Zum Glück habe ich ja sehr gute Augen.""
Während Kees Waaldijk als Einzelkämpfer operiert, will Professor Robert Zinser im Team, und auf der Basis sorgfältiger Analyse den Müttern Nigerias helfen. Der 83-jährige frühere Spitzenmanager eines deutschen Chemiekonzerns engagiert sich seit den Neunzigerjahren hier. Unterstützt vom internationalen Netzwerk der "Rotary"-Clubs und mehreren Stiftungen sanierten Zinser und seine Mitstreiter zehn Geburtshilfe-Stationen in den Bundesstaaten Kano und Kaduna und baute einige zu Zentren für Fistel-Operationen, Schwangerschaftsvorsorge und Gesundheitsberatung für Frauen aus. Zu einer dieser Modelleinrichtungen avancierte die Entbindungsstation im Krankenhaus der Kleinstadt Wudil.
Zinser: "Wir haben dieses Krankenhaus zugewiesen bekommen von der Staatsregierung, haben diese Herausforderung aufgenommen und haben systematisch angefangen, das Krankenhaus auszustatten. Und unser Vorgehen war von Anfang an: Wenn wir etwas machen, also Geräte liefern von mehreren tausend Euro, dann haben wir der Regierung gesagt: "Und jetzt müsst ihr das machen: Also dieser Raum wird nun in Ordnung gebracht, wird gestrichen, wird sauber gemacht. Das funktionierte."
Heute ist das Zentrum von Wudil mit seinem zweckmäßig eingerichteten Operationssaal, der gut gefüllten Medikamentenkammer und den leuchtend weiß bezogenen Betten in freundlich gestrichenen Krankenzimmern tatsächlich ein Modell für viele umliegende Krankenhäuser. Der Weg dorthin, sagt Zinser, führte über eine sorgfältige Ausbildung des Personals, klare Richtlinien eines effizienten Krankenhaus-Managements und knallharte Qualitätssicherung.
Zinser: "Wir haben festgestellt, dass das Training, die Qualität, die Arbeit im Krankenhaus nicht angemessen ist und haben also Qualitätssicherung eingeführt. Wir erheben Daten, regelmäßig; wir analysieren sie, evaluieren sie. Wir kommen zusammen mit den Ärzten und den Hebammen dieser Krankenhäuser, und in einem ‚Benchmarking’-Prozess werden Stück für Stück die Ursachen der Müttersterblichkeit abgearbeitet."
Zainab Pawa, Zinsers rechte Hand in Nigeria. Die studierte Hebamme hat sich mit dem in Nigeria völlig unbekannten "benchmarking", dem systematischen Vergleich von Leistungen im Krankenhaus, rasch angefreundet und dabei eine Art sportlichen Ehrgeizes entwickelt. Zainab mit ihrer 30-jährigen Berufserfahrung weiß genau, wie sich in entlegenen Dörfern die Situation einer gebärenden Frau zuspitzen und wie man dagegen vorgehen kann.
Für 40 Prozent aller Todesfälle sei die sogenannte Eklampsie verantwortlich, erzählt sie; ein Syndrom aus hohem Blutdruck, Eiweiß im Urin und zu hohem Gewicht der Frau, das Krämpfe verursache und unbehandelt – über Nierenversagen, Hirnödeme und Thrombosen – zum Tode führe.
Ein Syndrom, sagt Zainab, dass eine Hebamme im Rahmen der Schwangerschaftsvorsorge frühzeitig erkennen und mit etwas Magnesiumsulfat beheben könne. Die zweite große Gefahr seien Blutungen nach der Entbindung. Auch diese Komplikation kann die Hebamme leicht beheben – mit den Medikamenten Misoprostol oder Oxytozin. Für Frauen, die schon viel Blut verloren haben, gibt es außerdem ein neuartiges Kleidungsstück, das aussieht wie die in 30 Zentimeter breite Streifen geschnittene Hose eines Taucheranzugs.
Pawa: "”Dies Kleidungsstück ziehen wir Frauen an, die infolge großen Blutverlusts einen Schock erlitten haben. Das Neopren presst nun die Blutgefäße der Frau zusammen; ihr Blut sammelt sich in Kopf und Oberkörper; das Gehirn wird weiter mit Sauerstoff versorgt. Während die Frau dann Bluttransfusionen erhält, reduzieren wir langsam den Druck des Neoprens. Um das richtig zu machen, muss man natürlich gelernt haben, mit diesem Anti-Schock-Kleidungsstück umzugehen.""
Auch die Gefahren, schließlich, der Anämie und einer Infektion nach der Geburt seien leicht zu bewältigen, sagt Zainab Pawa, wenn die betreffenden Frauen Zugang zur Schwangerschaftsvorsorge hätten. Diese jedoch bieten viele Gesundheitszentren nicht an; und es gibt vielerorts im konservativ muslimischen Nord-Nigeria soziale Normen, die Frauen anhalten, Schwangerschaft und Entbindung möglichst aus eigener Kraft zu bewältigen. Normen, die die Hebamme für schlicht frauenfeindlich hält. Sie seien, neben dem desolaten Zustand des Gesundheitswesens, die zweite große Ursache für die hohe Müttersterblichkeit in Nord-Nigeria.
Pawa: "”In etlichen Dörfern glauben die Leute noch, eine Frau, die Schwangerschaftsvorsorge in Anspruch nimmt, sei zu faul, sich selbst gesund zu halten. Und Frauen, die zur Entbindung ins Krankenhaus gehen, kompromittieren angeblich ihren Mann, der ja dafür bezahlen muss und dass vielleicht nicht kann.
Um ihren Mann nicht bloß zu stellen, ziehen es deshalb viele Frauen vor, zuhause zu bleiben und zu erleiden, was immer auf sie zukommt. ‚Genau das aber ist falsch’, sagen wir jetzt den Leuten und insbesondere den Männern. ‚Warum haltet Ihr Schafe und Ziegen, wenn nicht um des Wohls Eurer Familie willen? Deshalb müsst Ihr einfach einige Tiere verkaufen, damit eure Frau zur Entbindung ins Krankenhaus kann.’ Das sehen nun immer mehr Männer ein.""
Das Dorf Sibri besteht aus verstreut liegenden Gehöften, die von Zäunen aus Bambusgeflecht umgeben sind: drei, vier strohgedeckte Rundhütten aus Lehm mit einem auf Ästen ruhenden Vordach, unter dem bunt gekleidete Frauen mit turbanähnlichen Kopftüchern kochen und mit ihren Kindern spielen. Etwas abseits, auf Holzgestellen, aus Schilf gefertigte Vorratsbehälter, unter denen Hunde, Hühner und Ziegen Schatten suchen. – Kaladima Ahmed, einer der Dorfältesten, begrüßt Zainab herzlich und erklärt, dass man in seinem Dorf aufgeklärte Einstellungen pflege. So würden Mädchen keineswegs mit elf Jahren verheiratet – wie in etlichen Nachbardörfern.
Ahmed: "Natürlich wollen wir nicht, dass unsere Töchter sterben. Deshalb werden wir sie künftig erst verheiraten, wenn sie ausgewachsen sind – manche also mit 13, andere erst mit 17. Und wir bringen unsere Töchter auch, wenn sie krank sind, ins Hospital von Wudil; dort gibt es ja seit kurzem ordentliche Betten und Medikamente. Ja, Sie können es mir glauben: Die Gesundheit unserer Töchter liegt uns genauso am Herzen wie die unserer Söhne. Und auch die Schwiegereltern unserer Töchter wollen in der Regel das Beste für die Frau ihres Sohnes. Immerhin haben sie ja einiges bezahlt für sie und eine Hochzeit ausgerichtet. Das alles war umsonst, wenn die Frau stirbt."
Ein sensibles Thema ist für die frommen Muslime hier die Familienplanung, erklärt Zainab Pawa. Es gehöre zu ihrem Stolz, zum Wachstum ihres Volkes beizutragen. Andererseits sähen sie zunehmend ein, dass Schwangerschaften in zu kurzem Abstand die Gesundheit einer Frau und somit auch ihren Wert für den Mann ruinieren.
Pawa: "”Was die Leute nicht hören wollen, ist, dass sie die Zahl ihrer Kinder begrenzen sollen. Aber man kann sie dazu bringen, in etwas größerem Abstand Kinder zu bekommen – zum Beispiel alle drei Jahre. Wenn Sie das tun, landen sie schließlich bei fünf oder sogar nur vier Kindern. Auf gar keinen Fall aber dürfen wir ihnen vorschreiben, wie viele Kinder sie haben dürfen.""Child spacing" heißt der neue Begriff, mit dem ein gesunder Abstands von drei Jahren zwischen zwei Schwangerschaften beschrieben wird. Ein Begriff, der auf ein erstaunlich positives Echo stößt in Nord-Nigeria. Das hat Robert Zinser schon vor einigen Jahren erfahren, als er in Kontakt kam mit einigen Stadtausrufern, so genannten "toewn cryers".
Zinser: ""Da kamen die "town cryers", das sind nur Männer, auf uns zu. Und die hörten von dem, was wir da machen, mit der Aufklärung und dem Angebot von Verhütungsmitteln für "child spacing". Sie wollten dafür werben. Sie haben ein Lied komponiert und haben das bei Volksfesten, wie das bei uns vor Jahrzehnten auch noch der Fall war, vorgetragen."
Robert Zinser will nun die zehn in seinem Projekt aufgebauten Müttergesundheitszentren in die Hände der Regierung legen - in der Hoffung, dass diese die Zentren fortführt und das in ihnen verwirklichte Modell auf andere Kliniken überträgt. Nur dann, das weiß er, war seine Arbeit nachhaltig.
Abdel Lahi: "Die Wehen begannen abends um sechs. Als ich um elf Uhr nachts dann Krämpfe bekam und fast bewusstlos wurde, brachte mich mein Mann ins Distriktskrankenhaus. Dort hängten Sie mich an eine Infusion, aber das Kind kam nicht - bis es am nächsten Abend zwei Hebammen tot aus mir herausdrückten. 15 Tage nach der Entbindung musste ich wieder ins Krankenhaus. Ich konnte mein linkes Bein nicht bewegen; und Urin tropfte aus mir heraus."
Kano, Nord-Nigeria, ein Krankenzimmer im Murtala-Muhammad-Hospital, dem größten Krankenhaus der Stadt. Für Binta Abdel Lahi, eine 22-Jährige, abgezehrt wirkende Frau, die schüchtern ihr grau-blau geblümtes Kopftuch vors Gesicht zieht, wurde die fünfte Schwangerschaft zur Katastrophe.
Weil sie während der Entbindung in einem ländlichen Krankenhaus falsch behandelt wurde, erlitt sie schwere Quetschungen im Dammbereich, infolge derer sie inkontinent wurde. Experten sprechen von einer Scheidenfistel. Wegen des seitdem von ihr ausgehenden Geruchs wurde Binta von ihrem Mann verlassen und zur Außenseiterin in ihrem Dorf. Binta, indes, hat Glück im Unglück: Der Niederländer Kees Waaldijk, ein weltweit anerkannter Fistelchirurg, wird sie in wenigen Tagen operieren.
Rund 800.000 nigerianische Frauen mit einer Fistel haben kein Glück. Sie sehen sich an den Rand der Gesellschaft gedrängt, vegetieren einsam als quasi Aussätzige dahin und sterben in der Regel früh. Die vielleicht wichtigste Ursache der hohen Müttersterblichkeit in Nord-Nigeria wird beispielhaft in einem kleinen Krankenhaus sichtbar: im "Kura General Hospital" westlich der Vier-Millionen-Metropole Kano.
In einem kleinen Raum, wo gelber Putz stockig schwarz von der Wand bröselt, stehen drei Bettgestelle, belegt mit Spanplatten und einer Plastikplane. Auf einer Platte liegt, die leeren Augen halb offen, ein kleiner Junge mit einer Infusion an der Schläfe. Daneben - unter dem einzigen, vergitterten Fenster - erhält ein Mädchen Blut des Vaters, der die Hand des Kindes hält und irritiert auf das dritte Bett schaut, auf dem, in seinem Blut, ein junger Mann liegt, dessen Stirn gespalten scheint, die linke Hand mit Handschellen ans Bett gekettet. Auf Bastmatten am Boden schließlich drei junge Frauen: zwei mit fiebrigen Babies, eine hochschwanger mit schmerzverzerrtem Gesicht.
Das "Kura General Hospital" ist ein Bezirkskrankenhaus, dass nach offiziellen Standards des nigerianischen Gesundheitsministeriums über 75 ordentlich ausgestattete Betten verfügen sollte, über Röntgen- und Ultraschallgerät, einen voll ausgestatteten Operationssaal sowie für mehrere Monate reichende Vorräte an Anästhetika, Infusionen und Medikamenten. Außerdem sollten stets zwei Ärzte verfügbar sein. Tatsächlich herrscht an diesem Mittwochvormittag gähnende Leere im Hospital. Verlegen öffnet Pflegeleiter Abu Bakar Krankensäle, in denen nichts zu sehen ist als Stapel verrosteter Bettgestelle und verschimmelter Matratzen.
In der Medikamentenkammer findet sich nicht eine Tablette, dafür stehen neben dem sperrangelweit geöffneten Kühlschrank allerlei Besen, Schrubber, kaputte Stühle und Kartons voller Unrat. Und das gediegen möblierte Arztzimmer scheint, nach dem Staub auf dem Tisch zu urteilen, länger niemand betreten zu haben. Der Chefarzt habe einen dringenden Termin, sagt Abu Bakar und zuckt mit den Achseln.
Abu Bakar: "”Uns fehlen eine Menge Dinge hier. Unser Material und unser Budget sind so karg bemessen, dass wir damit das Krankenhaus nicht ordentlich betreiben können. Medikamente, Betttücher, Matratzen, Moskitonetze - alles fehlt. Auch Decken brauchen wir und nicht zuletzt einen Krankenwagen.""
Abu Bakars Kollegin Sjia Arabi verweist, gleichfalls verlegen, auf die Eigenverantwortung des Patienten.
Arabi: "”Die Regierung stellt prinzipiell alle Medikamente kostenlos zur Verfügung. Nur, wenn sie alle sind, muss der Patient selbst welche kaufen. Das Gleiche gilt für Spritzen, Infusionen und Verbandsmaterial. Sie müssen diese Dinge halt kaufen, wenn Sie sie brauchen für Ihre Gesundheit.""So wie im ‚Kura General Hospital‘ sieht es in fast allen Krankenhäusern Nigerias aus", sagt in Kano Andrew Karlyn, Vertreter der amerikanischen Hilfsorganisation "Population Council".
Karlyn: "”Die Basisgesundheitsversorgung in Nigeria ist de facto außer Betrieb – vor dem Hintergrund eines rapide wachsenden Bedarfs. Dies erscheint besonders tragisch angesichts der intensiven Bemühungen vor 15, 20 Jahren, als man versuchte, ein rational konzipiertes Gesundheitswesen einzuführen. Im Laufe der Zeit aber ging das Konzept verloren: Die Krankenhäuser zumindest im ländlichen Raum haben heute fast keine Ausrüstung mehr, keine Medikamente, keine Infrastruktur. In vielen Fällen existiert nur noch die leere Hülle eines heruntergekommenen Gebäudes. Und die Patienten strömen jetzt in große städtische Krankenhäuser, die eigentlich schwer zu behandelnden Kranken vorbehalten sind. Die großen Kliniken degenerieren nun zu Zentren der Grundversorgung – was natürlich das ganze System ad absurdum führt."
Die Ursachen der Misere liegen, sagt Karlyn, auf der Hand: Missmanagement und Misswirtschaft in höchstem Maße. Seit Jahren verspricht Nigerias Regierung, die über gewaltige Öleinnahmen verfügt, 15 Prozent ihres Budgets ins staatliche Gesundheitswesen zu stecken; tatsächlich wurden es nie mehr als fünf Prozent. Davon abgesehen ist das Gesundheitswesen, um allerlei politischen Interessen gerecht zu werden, desolat organisiert: Es gibt unterschiedliche, teilweise konkurrierende Systeme auf der Ebene des Bundes, der 36 Bundesstaaten und lokaler Autoritäten.
Im OP des "Murtala-Muhammad Hospitals" in Kano operiert Kees Waaldijk fast täglich Scheidenfisteln - und erbringt dabei immer wieder Meisterleistungen der rekonstruktiven Chirurgie. Heute Morgen, es ist noch nicht einmal halb neun, liegt schon die zweite Frau auf dem Tisch.
Waaldijk: "”Wir haben diese Frau bereits einmal operiert. Infolge einer Scheidenfistel und einer Verletzung am Schließmuskel verlor sie sowohl Urin als auch Stuhl. Jetzt, nachdem die Wunden der ersten Operation verheilt sind, mache ich die Feinarbeit - zunächst am Harnweg und dann am Schließmuskel.""
Der 68-jährige, hoch gewachsene Chirurg setzt sicher und blitzschnell Schnitt um Schnitt, Naht um Naht. Ein assistierender Kollege aus Äthiopien darf kaum einen Handgriff machen. Waaldijk ist Chirurg aus Leidenschaft. In den Siebzigerjahren hat er Minenopfern in Kambodscha Beine amputiert und dann bei Lepraopfern Sehnen verpflanzt. Seit über 25 Jahren aber operiert er ausschließlich Fisteln in Nord-Nigeria; über 20.000 bislang; sieben Tage die Woche an sieben Krankenhäusern.
Bis in den Spätnachmittag operiert er; dann fährt er ins nächste Hospital - 1500 Kilometer pro Woche. Ein Arzt, der offiziell Angestellter der nigerianischen Regierung ist, aber sein Gerät und seine Reisen selbst finanziert; ein Arzt, der den Defiziten in Nigerias Gesundheitswesen begegnet, indem er wie besessen operiert, ab und zu Kollegen ausbildet und ansonsten das Gesundheitswesen ignoriert.
Waaldijk: "”Das ist ein bisschen unerfreulich, dass schon wieder das Licht ausgeht. Aber deshalb haben wir ja den Operationstisch am Fenster aufgestellt. Glauben Sie bloß nicht, dass wir wegen eines Stromausfalls unsere Arbeit unterbrechen. Wir machen einfach weiter. Zum Glück habe ich ja sehr gute Augen.""
Während Kees Waaldijk als Einzelkämpfer operiert, will Professor Robert Zinser im Team, und auf der Basis sorgfältiger Analyse den Müttern Nigerias helfen. Der 83-jährige frühere Spitzenmanager eines deutschen Chemiekonzerns engagiert sich seit den Neunzigerjahren hier. Unterstützt vom internationalen Netzwerk der "Rotary"-Clubs und mehreren Stiftungen sanierten Zinser und seine Mitstreiter zehn Geburtshilfe-Stationen in den Bundesstaaten Kano und Kaduna und baute einige zu Zentren für Fistel-Operationen, Schwangerschaftsvorsorge und Gesundheitsberatung für Frauen aus. Zu einer dieser Modelleinrichtungen avancierte die Entbindungsstation im Krankenhaus der Kleinstadt Wudil.
Zinser: "Wir haben dieses Krankenhaus zugewiesen bekommen von der Staatsregierung, haben diese Herausforderung aufgenommen und haben systematisch angefangen, das Krankenhaus auszustatten. Und unser Vorgehen war von Anfang an: Wenn wir etwas machen, also Geräte liefern von mehreren tausend Euro, dann haben wir der Regierung gesagt: "Und jetzt müsst ihr das machen: Also dieser Raum wird nun in Ordnung gebracht, wird gestrichen, wird sauber gemacht. Das funktionierte."
Heute ist das Zentrum von Wudil mit seinem zweckmäßig eingerichteten Operationssaal, der gut gefüllten Medikamentenkammer und den leuchtend weiß bezogenen Betten in freundlich gestrichenen Krankenzimmern tatsächlich ein Modell für viele umliegende Krankenhäuser. Der Weg dorthin, sagt Zinser, führte über eine sorgfältige Ausbildung des Personals, klare Richtlinien eines effizienten Krankenhaus-Managements und knallharte Qualitätssicherung.
Zinser: "Wir haben festgestellt, dass das Training, die Qualität, die Arbeit im Krankenhaus nicht angemessen ist und haben also Qualitätssicherung eingeführt. Wir erheben Daten, regelmäßig; wir analysieren sie, evaluieren sie. Wir kommen zusammen mit den Ärzten und den Hebammen dieser Krankenhäuser, und in einem ‚Benchmarking’-Prozess werden Stück für Stück die Ursachen der Müttersterblichkeit abgearbeitet."
Zainab Pawa, Zinsers rechte Hand in Nigeria. Die studierte Hebamme hat sich mit dem in Nigeria völlig unbekannten "benchmarking", dem systematischen Vergleich von Leistungen im Krankenhaus, rasch angefreundet und dabei eine Art sportlichen Ehrgeizes entwickelt. Zainab mit ihrer 30-jährigen Berufserfahrung weiß genau, wie sich in entlegenen Dörfern die Situation einer gebärenden Frau zuspitzen und wie man dagegen vorgehen kann.
Für 40 Prozent aller Todesfälle sei die sogenannte Eklampsie verantwortlich, erzählt sie; ein Syndrom aus hohem Blutdruck, Eiweiß im Urin und zu hohem Gewicht der Frau, das Krämpfe verursache und unbehandelt – über Nierenversagen, Hirnödeme und Thrombosen – zum Tode führe.
Ein Syndrom, sagt Zainab, dass eine Hebamme im Rahmen der Schwangerschaftsvorsorge frühzeitig erkennen und mit etwas Magnesiumsulfat beheben könne. Die zweite große Gefahr seien Blutungen nach der Entbindung. Auch diese Komplikation kann die Hebamme leicht beheben – mit den Medikamenten Misoprostol oder Oxytozin. Für Frauen, die schon viel Blut verloren haben, gibt es außerdem ein neuartiges Kleidungsstück, das aussieht wie die in 30 Zentimeter breite Streifen geschnittene Hose eines Taucheranzugs.
Pawa: "”Dies Kleidungsstück ziehen wir Frauen an, die infolge großen Blutverlusts einen Schock erlitten haben. Das Neopren presst nun die Blutgefäße der Frau zusammen; ihr Blut sammelt sich in Kopf und Oberkörper; das Gehirn wird weiter mit Sauerstoff versorgt. Während die Frau dann Bluttransfusionen erhält, reduzieren wir langsam den Druck des Neoprens. Um das richtig zu machen, muss man natürlich gelernt haben, mit diesem Anti-Schock-Kleidungsstück umzugehen.""
Auch die Gefahren, schließlich, der Anämie und einer Infektion nach der Geburt seien leicht zu bewältigen, sagt Zainab Pawa, wenn die betreffenden Frauen Zugang zur Schwangerschaftsvorsorge hätten. Diese jedoch bieten viele Gesundheitszentren nicht an; und es gibt vielerorts im konservativ muslimischen Nord-Nigeria soziale Normen, die Frauen anhalten, Schwangerschaft und Entbindung möglichst aus eigener Kraft zu bewältigen. Normen, die die Hebamme für schlicht frauenfeindlich hält. Sie seien, neben dem desolaten Zustand des Gesundheitswesens, die zweite große Ursache für die hohe Müttersterblichkeit in Nord-Nigeria.
Pawa: "”In etlichen Dörfern glauben die Leute noch, eine Frau, die Schwangerschaftsvorsorge in Anspruch nimmt, sei zu faul, sich selbst gesund zu halten. Und Frauen, die zur Entbindung ins Krankenhaus gehen, kompromittieren angeblich ihren Mann, der ja dafür bezahlen muss und dass vielleicht nicht kann.
Um ihren Mann nicht bloß zu stellen, ziehen es deshalb viele Frauen vor, zuhause zu bleiben und zu erleiden, was immer auf sie zukommt. ‚Genau das aber ist falsch’, sagen wir jetzt den Leuten und insbesondere den Männern. ‚Warum haltet Ihr Schafe und Ziegen, wenn nicht um des Wohls Eurer Familie willen? Deshalb müsst Ihr einfach einige Tiere verkaufen, damit eure Frau zur Entbindung ins Krankenhaus kann.’ Das sehen nun immer mehr Männer ein.""
Das Dorf Sibri besteht aus verstreut liegenden Gehöften, die von Zäunen aus Bambusgeflecht umgeben sind: drei, vier strohgedeckte Rundhütten aus Lehm mit einem auf Ästen ruhenden Vordach, unter dem bunt gekleidete Frauen mit turbanähnlichen Kopftüchern kochen und mit ihren Kindern spielen. Etwas abseits, auf Holzgestellen, aus Schilf gefertigte Vorratsbehälter, unter denen Hunde, Hühner und Ziegen Schatten suchen. – Kaladima Ahmed, einer der Dorfältesten, begrüßt Zainab herzlich und erklärt, dass man in seinem Dorf aufgeklärte Einstellungen pflege. So würden Mädchen keineswegs mit elf Jahren verheiratet – wie in etlichen Nachbardörfern.
Ahmed: "Natürlich wollen wir nicht, dass unsere Töchter sterben. Deshalb werden wir sie künftig erst verheiraten, wenn sie ausgewachsen sind – manche also mit 13, andere erst mit 17. Und wir bringen unsere Töchter auch, wenn sie krank sind, ins Hospital von Wudil; dort gibt es ja seit kurzem ordentliche Betten und Medikamente. Ja, Sie können es mir glauben: Die Gesundheit unserer Töchter liegt uns genauso am Herzen wie die unserer Söhne. Und auch die Schwiegereltern unserer Töchter wollen in der Regel das Beste für die Frau ihres Sohnes. Immerhin haben sie ja einiges bezahlt für sie und eine Hochzeit ausgerichtet. Das alles war umsonst, wenn die Frau stirbt."
Ein sensibles Thema ist für die frommen Muslime hier die Familienplanung, erklärt Zainab Pawa. Es gehöre zu ihrem Stolz, zum Wachstum ihres Volkes beizutragen. Andererseits sähen sie zunehmend ein, dass Schwangerschaften in zu kurzem Abstand die Gesundheit einer Frau und somit auch ihren Wert für den Mann ruinieren.
Pawa: "”Was die Leute nicht hören wollen, ist, dass sie die Zahl ihrer Kinder begrenzen sollen. Aber man kann sie dazu bringen, in etwas größerem Abstand Kinder zu bekommen – zum Beispiel alle drei Jahre. Wenn Sie das tun, landen sie schließlich bei fünf oder sogar nur vier Kindern. Auf gar keinen Fall aber dürfen wir ihnen vorschreiben, wie viele Kinder sie haben dürfen.""Child spacing" heißt der neue Begriff, mit dem ein gesunder Abstands von drei Jahren zwischen zwei Schwangerschaften beschrieben wird. Ein Begriff, der auf ein erstaunlich positives Echo stößt in Nord-Nigeria. Das hat Robert Zinser schon vor einigen Jahren erfahren, als er in Kontakt kam mit einigen Stadtausrufern, so genannten "toewn cryers".
Zinser: ""Da kamen die "town cryers", das sind nur Männer, auf uns zu. Und die hörten von dem, was wir da machen, mit der Aufklärung und dem Angebot von Verhütungsmitteln für "child spacing". Sie wollten dafür werben. Sie haben ein Lied komponiert und haben das bei Volksfesten, wie das bei uns vor Jahrzehnten auch noch der Fall war, vorgetragen."
Robert Zinser will nun die zehn in seinem Projekt aufgebauten Müttergesundheitszentren in die Hände der Regierung legen - in der Hoffung, dass diese die Zentren fortführt und das in ihnen verwirklichte Modell auf andere Kliniken überträgt. Nur dann, das weiß er, war seine Arbeit nachhaltig.