Sterben wollen ist keine Krankheit

Von Martin Ahrends · 27.12.2011
Neulich, auf einem Dreitausender in der Schweiz, überstieg ich das eher symbolisch gemeinte Holzgeländer und sah in die Tiefe, die mit wenigen Schritten und ohne weitere Umstände erreichbar war. Ich hätte springen können oder mich einfach fallen lassen. Erstaunt hat mich nicht die sportliche Art, mit der hier vor solchen Abgründen gewarnt wird, sondern die Tatsache, dass ich offenbar auf der Suche bin nach todsicheren Gelegenheiten.
Ich war mir dessen nicht bewusst gewesen. Lebensmüde bin ich nicht, meine Tage sind immer noch prall gefüllt mit Arbeit und Familie. Und doch bin ich offenbar auf der Suche nach einer Chance, beizeiten aus dem Leben zu gehen, solang ich noch selbst darüber entscheiden kann. Als ich abstieg und darüber nachdachte, wurde mir bewusst, wie unwürdig und peinlich diese heimliche, sogar vor mir selbst verborgene Suche ist.

Nachdem ich bei voller Berufstätigkeit in zwei Ehen acht Kinder großgezogen, zuletzt sogar noch ein Haus gebaut habe und bisher 18 Mal umgezogen bin, werde ich, vielleicht in zehn Jahren, lebenssatt und bereit sein, mich zur verdienten Ruhe zu begeben. Und dann will ich sterben, anstatt mich tot pflegen zu lassen auf die jämmerliche Weise, wie es meinem Vater geschah. Ich konnte das nicht verhindern, konnte sein langes Siechtum nicht abkürzen, doch für mich selbst suche ich rechtzeitig nach einer besseren Lösung.

Wenn meine Zeit gekommen ist, will ich mich nicht in die Obhut einer Gesellschaft fallen lassen, die schon jetzt bei der Altenpflege an ihre finanziellen und moralischen Grenzen gelangt und parallel dazu immer neue lebensverlängernde Mittel ersinnt, einer Gesellschaft, die keine Antwort weiß auf meine Frage nach dem Guten Tod.

Neulich im Wartezimmer meines Zahnarztes nehme ich eine der herumliegenden Zeitschriften zur Hand und lese etwas von Altersdepression: "Es sind oft unerkannte Depressionen, die alte Menschen zu suizidalen Handlungen veranlassen, Depression ist eine Krankheit, die man heilen kann, es gibt ... " Ich lese nicht weiter. Sterben wollen ist keine Krankheit. Im Gegenteil. Krank ist, wenn man nicht sterben wollen darf. Krank ist dieses Verbot jeglicher Art von Lebensmüdigkeit. Dabei ist das Sterben wollen ein ebenso natürlicher Wunsch wie der, leben zu wollen. Und beide hängen miteinander zusammen.

Das Leben um jeden Preis erhalten zu wollen ist die Rückseite von Lebensleere. Ein reiches Leben lässt sich lassen, ein leeres wartet immer auf Erfüllung, bis über den Tod hinaus. Wenn ich zu lang auf der Welt bin, werde auch ich irgendwann kindisch genug geworden sein, um nach all dem geriatrischen Schnickschnack zu verlangen. Und so nicht nur die Zukunft meiner Kindeskinder verspielen, sondern auch ihren Respekt.

Wir bilden uns so viel ein auf unsere Freiheit. Warum sind wir in diesen Dingen so unfrei? Ich habe keine Angst vorm Tod, aber vor dem Nicht-Sterben-dürfen hab ich Angst. Ich würde meinem Ableben gelassener entgegensehen, wenn ich wüsste, dass ich mit dem Sterben nicht so allein gelassen werde, dass mir dabei mit derselben medizinischen Kunstfertigkeit geholfen wird, mit der man mir helfen würde, wenn ich krank wäre und Aussicht auf Genesung bestünde.

Unsere moderne Medizin schafft Möglichkeiten und Zwänge. Über diese Zwänge und die damit zusammenhängenden Tabus, über ein unvernünftiges Sterbeverbot sollten wir nachdenken und reden dürfen. Über den Guten Tod, Eu Thanatos, der in Deutschland so einen furchtbaren Nachhall hat.

Ich will mich nicht heimlich davonstehlen und einen wer weiß wie missratenen Suizid hinlegen, sondern ganz offiziell und mit dem Einverständnis aller, ohne Heuchelei und falsche Tränen in die Ewigen Jagdgründe hinübergehen. Ein großes Fest will ich geben zu meinem 70., alle Kinder und Enkel will ich einladen. Ich will ihnen verkünden, dass ich morgen nicht mehr leben werde, weil der medizinische Fortschritt nicht nur Leben verlängern, sondern auch schmerzfrei beenden kann, und weil man inzwischen sterben darf, wenn man das will. Dann sollen sie mir Beifall zollen, und ich will es nicht missverstehen als Zeichen, dass sie mich nicht lieb haben, sondern recht verstehen als das Gegenteil.

Martin Ahrends, Autor und Publizist, geboren 1951 in Berlin. Studium der Musik, Philosophie und Theaterregie. Anfang der 80er-Jahre politisch motiviertes Arbeitsverbot in der DDR. 1984 Ausreise aus der DDR. Redakteur bei der Wochenzeitung "Die Zeit" und seit 1996 freier Autor und Publizist.
Martin Ahrends
Martin Ahrends© privat
Mehr zum Thema